14. April 2022
Liberale lieben das Harry-Potter-Universum. Kein Wunder. Denn darin wird die Welt so dargestellt, wie sie es sich sehnlichst wünschen: Um die Übel der Gesellschaft zu besiegen, braucht es bloß Wissen und elitäre Bildung.
Szene aus dem Harry-Potter-Spin-off »Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse«.
Liberale aus der Mittelklasse sind davon besessen, Harry Potter als eine Art politische Theorie zu betrachten. Es ist zugleich peinlich und deprimierend, wenn sich erwachsene Menschen in unseren aufrührerischen Zeiten die Frage stellen, wie jemand, der »Dumbledore« genannt wird, wohl auf aktuelle Geschehnisse blicken würde. Aber diese eigentümliche Zuneigung zu Harry Potter ist mehr als bloßes Fan-Gehabe. Denn Harry Potter – und seine Magie und Zauberwelt – liefert die Blaupause für die ultimative liberale Ontologie von Politik.
»Was bedeutet Magie im Zusammenhang mit diesen gemeinsamen Welten?«, fragte Laurie Penny in einem 2016 erschienenen Beitrag im Baffler, der untersucht, weshalb Liberale so verliebt in Harry Potter sind. »Magie bedeutet Macht, und sie bedeutet Privilegien«, schreibt Penny und interpretiert den Erfolg von Harry Potter als Abbild der Sehnsucht junger, desillusionierter Erwachsener nach einer antiautoritären Fantasie.
In gewisser Hinsicht hat sie damit Recht, aber es gibt in der »Potterwelt« auch eine bestimmte neoliberale, autoritäre Fantasie. »Magie«, wie sie im Harry-Potter-Universum diskutiert wird, ist eine Kraft, die es denjenigen, die sie beherrschen, ermöglicht, eine immense Wirkung auf die Welt auszuüben – ohne, dass sie dafür besonders viel tun müssten. J.K. Rowling präsentiert ihrem Publikum eine Fantasiewelt, in der man buchstäblich zum Superhelden wird, wenn man wirklich gut darin ist, seine Hausaufaben zu erledigen.
All das steht in krassem Kontrast zum viktorianischen England und dessen gotischer Faszination für Blutmagie, Opfergaben und der Entfremdung der Seele, um dafür todbringende Macht zu erlangen. Rowlings neoliberale Zauberwelt ist nicht dunkel und gefährlich, sondern bequem und gemütlich. Lang gehegte Mythen – Meritokratie, die Bevorteilung durch elitäre Bildung, die Macht der Fakten – sind tatsächlich gar keine Mythen, sondern die organisierenden Kräfte unserer Realität. Wer ein richtiger Nerd ist, der wird auch weltliche Macht erhalten – so funktioniert die Welt von Harry Potter.
Für eine Generation, der im Tausch gegen gute Noten die Welt versprochen wurde, ist das in der Tat eine bezaubernde Vision. Aber was bedeutet die Faszination einiger Menschen für diese außerweltlichen Mächte?
Marx ist voller Magie: Stichwort »Warenfetischismus«. Für uns hat ein Tisch einen intrinsischen Wert – verbunden mit seiner »Tischhaftigkeit« – und dieser intrinsische Wert legt die Grundbedingungen für die Produktion fest (zum Beispiel für die Bezahlung der Arbeiter). Aber welchen intrinsischen Wert hat ein Tisch als handelbare Ware? Wenn wir die Arbeit wegnehmen, die in die Herstellung des Tisches geflossen ist, bleibt am Ende nur ein Holzklotz übrig. Woher kommt also der Wert, abgesehen von der Arbeit? Fetischismus – magisches Denken – führt zu einer Quadratur des Kreises. Er lässt uns glauben, dass der intrinsische Tauschwert des Tisches – und nicht die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse – die Grundlage der Beziehung zwischen dem Tischler und dem Kapitalisten bildet.
Wo immer man in realen Gesellschaften auf Magie trifft, ist Verschleierung, Verleugnung und Ausbeutung nicht weit. Denn die Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags ist letztlich nichts anderes als ein Ritual, das der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer den magischen Anstrich eines freien und gleichberechtigten Austauschs verleiht. Dominanzverhältnisse werden durch den Fetisch des Vertrags in Tauschbeziehungen verwandelt. Wir alle wissen, dass die Arbeiterin und die Kapitalistin über ungleiche Macht verfügen. Warum also sollte man sich da mit einem unsinnigen rituellen Vertrag herumschlagen? In diesem Punkt irrt sich auch Laurie Penny: Magie bedeutet nicht nur Macht – Magie verschleiert bestehende Macht.
Was wird also durch die Hingabe an das an Harry-Potter-Universum verschleiert? Seine Fans sind nicht unbedingt dumm (sie haben immerhin gute Noten!), und vermutlich glauben sie nicht daran, dass irgendwo auf der Welt ein funktionierender Zauberstab existiert. Aber Harry Potter präsentiert seinen Fans die Welt so, wie sie es sich wünschen: Hier sind die Hierarchien wieder an ihrem »richtigen« Platz. Es ist die ultimative »Rache der Nerds«, in der sich der liberale Klerus von Experten, Technokraten und Strebern in eine putzige, umsorgte Fantasiewelt zurückziehen kann. Es ist ein Ort, an dem ihr Bildungshintergrund die Grundlage für die Gesetzmäßigkeiten der Welt liefert.
Im Harry-Potter-Universum wird die ganze Welt auf eine Reihe von Problemen reduziert, die nur darauf warten, gelöst zu werden. Hunger ist nur so lange ein Problem, bis eine ausreichend fleißige Person herausfindet, wie man Nahrung aus dem Nichts herstellen kann. Obdachlosigkeit ist nur so lange ein soziales Übel, bis nach gründlicher Diskussion und langem Nachdenken irgendwo »da draußen« das Heilmittel gefunden wird. In der »Potterwelt« der Technokratie kann eine hinreichend interessierte und von Expertinnen und Experten angeleitete Wählerschaft die exakte Höhe der Sozialleistungen ermitteln, um diese einerseits zu kürzen und gleichzeitig sicherzustellen, dass niemand ohne Nahrung auskommen muss. Oder aber es werden Teslas von Elon Musk subventioniert, um die globale Klimakatastrophe zu bekämpfen, ohne sich dabei mit Shell anlegen zu müssen.
Die offensichtliche Wahrheit ist jedoch, dass unsere Gesellschaften mit Problemen konfrontiert sind, die sich nur lösen lassen, wenn die Mächtigsten Opfer bringen, die ihnen nicht so leicht eingeredet werden können. Für liberale Technokratinnen und Technokraten ist der gesittete Diskurs eine Art Fetisch oder Zauberspruch – der dadurch erreichte Konsens verschleiert bestehende Machtverhältnisse.
Letztlich ist das Angebot der Magie ein Zugeständnis – und das galt für die Zeit von Marx ebenso wie für unsere. Komplizierte Probleme werden unkompliziert gemacht, und alles, was es zu ihrer Lösung braucht, ist die Fähigkeit, die Welt materiell zu beeinflussen. Man verliert, aber wenigstens kommt dabei eine gute Story raus. Die Bedrohungen, denen liberale Demokratien durch reaktionäre Kräfte ausgesetzt sind, sind komplex, selbst verschuldet und nicht so leicht aus der Welt zu schaffen. Sie verschwinden nicht mit einem geistreichen Protestschild, einem charismatischen Politiker oder einem Zauberspruch.
Wie akzeptiert man, dass alles, was man über den Wohnungsmarkt zu wissen glaubte, eine Lüge war? Wie reagiert man auf eine permanente Krise, die immer mehr Menschen abhängt, wenn diese permanente Krise strukturell in unsere Wirtschaft eingebaut ist? Die Fantasiegeschichten, die wir uns selbst erzählen, sind verführerisch einfach – und je mehr Zeit wir damit verbringen, nach falscher Macht zu greifen, desto stärker werden die Mächtigen.
Warum klammern wir uns also so sehr an die Symbole von Harry Potter? J.K. Rowling hat eine Welt geschaffen, welche die liberale, harmonische Fantasie so weit spinnt, dass elitäres Gerede zum Naturgesetz wird.
R.J. Quinn ist Autor und Komiker. Er lebt in London und moderiert den Podcast »Trashfuture«.
R.J. Quinn ist Autor und Komiker. Er lebt in London und moderiert den Podcast »Trashfuture«.