23. Dezember 2021
Manche wünschen sich, Robert Habeck möge Ludwig Erhard nacheifern. Denn der wird nach wie vor als »Vater des Wirtschaftswunders« verehrt. Doch dahinter steckt mehr Mythos als Wahrheit.
Ludwig Erhard auf dem CDU-Parteitag in Wiesbaden, 1971.
Klimakrise, Pandemie, Strukturwandel – angesichts der Liste der Herausforderungen sehnen sich einige nach einem neuen Ludwig Erhard, der bis heute als der Vater des deutschen Wirtschaftswunders gilt. Doch ist es uns wirklich zu wünschen, dass der Geist Ludwig Erhards in Robert Habeck seine Wiedergeburt feiern möge, wie es sich die Wirtschaftswoche kürzlich erst erträumte?
Um das einzuschätzen, bedarf es eines möglichst nüchternen Blickes auf Ludwig Erhard, den Legenden umranken. Den Mythos Erhard hat die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann in ihrem Buch Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen klarsichtig dekonstruiert. Was nach der Lektüre bleibt, auf die ich mich in diesem Artikel beziehe, ist eine Mischung aus Staunen und Fassungslosigkeit, die nur eine Schlussfolgerung zulässt: Sofern einem das Wohlergehen der Gesellschaft am Herzen liegt, kann man nur hoffen, dass sich Habeck kein Beispiel an Erhard nimmt.
Nach dem Krieg verbesserte sich der materielle Lebensstandard vieler Menschen in Deutschland gewaltig. Wer glaubt, der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit sei der Kompetenz Erhards zuzurechnen, irrt jedoch. Zwischen 1950 und 1973, also dem Jahr des ersten Ölpreisschocks, wuchs das pro-Kopf BIP in Deutschland jährlich im Schnitt um 5 Prozent. Das ist beachtlich, doch tatsächlich verzeichneten die meisten Länder in dieser Zeit ein ähnlich starkes Wachstum: In Italien stieg das BIP um 5 Prozent, in Spanien sogar um 5,8 Prozent und in Frankreich um 4,1 Prozent. Auch in den meisten Entwicklungsländern setzten Phasen des stabilen Wachstums ein.
Viel eher ist es ein »Wunder«, dass Erhard als »Vater« dieses Aufschwungs gilt, denn die entscheidenden Maßnahmen wurden entweder über den Kopf der Bevölkerung hinweg oder gegen den Willen Erhards getroffen. Die Währungsreform 1948 wurde von den Alliierten durchgeführt und der Marshallplan, der ganz Europa auf die Beine half, ebenso. Die Staatsschulden wurden Deutschland auf der Schuldenkonferenz in London 1953 größtenteils erlassen. Die europäische Zahlungsunion, die die Abhängigkeit vom US-Dollar in der Abwicklung des europäischen Handels reduzierte, wurde – gegen den Widerstand Erhards – von den USA eingeführt. Dazu gab es bis Anfang der 1970er Jahre das Währungssystem Bretton Woods, das fixe, aber anpassbare Wechselkurse zwischen den Währungen festlegte. Geldpolitik wurde somit von den USA gemacht – und sie war expansiv. Der Rest der Welt konnte nicht anders, als zu folgen, um die gegebenen Wechselkurse zu halten.
Erhards Beitrag zum Aufschwung Deutschlands lag somit bei null. Dafür hinterließ er auf seinem ersten bedeutenden Posten nach dem Krieg, dem des bayerischen Finanzministers, nichts als Chaos und Verwirrung, wie die Nachfolgeregierung im Dezember 1946 feststellen musste. Als »Direktor für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets« gab Erhard dann im Sommer 1948 in seinem naiven Glauben an den Segen der Marktkräfte die Preise frei, was zu einer hohen Inflation führte. Das machte sich ganz besonders bei den Lebensmittelpreisen bemerkbar. Diese Maßnahme mündete in einem Generalstreik, der von den Gewerkschaften organisiert wurde, um gegen Erhards Politik zu protestieren. Zu den Kernforderungen gehörten unter anderem die Verkündigung des wirtschaftlichen Notstandes, Preiskontrollen bei Rohstoffen und Lebensmitteln sowie gezielte Maßnahmen gegen Wucher.
Kurze Zeit später ließ sich Erhard breitschlagen: Im Rahmen des sogenannten »Jedermann-Programms« begann Erhard, die Preise zu stabilisieren. Während der gravierendsten Phase der Lebensmittelengpässe halfen zudem die Alliierten dabei, Erhards Fehler auszubügeln, denn sie lieferten zusätzliche Nahrungsmittel ins Land, um die Knappheit zu reduzieren, was wiederum etwas Druck von den Preisen nahm.
Wenige Jahre später zeigte sich Erhards Inkompetenz ein weiteres Mal: 1957 widersetzte er sich Adenauers Rentenreform, die die Einführung des Umlageverfahrens vorsah. Das heißt, die Beiträge der Arbeitnehmer sollten nicht mehr gespart, sondern direkt an die Rentner weitergeleitet werden. Erhard verstand nicht, dass gesamtwirtschaftliches Sparen und ein solches »Vorsorgen« für die Zukunft nicht möglich ist: Wenn jemand im Kreislauf der Wirtschaft beschließt, heute 1 Euro zu sparen, anstatt diesen Euro auszugeben, dann stellt das einen Einnahmeverlust für die Unternehmen da. Wenn nun mehr und mehr Menschen beschließen, ihr Geld nicht auszugeben, sondern aus Gründen der Vorsorge zu sparen, dann gehen den Unternehmen mehr und mehr Einnahmen verloren. In Reaktion darauf wird weniger produziert und es werden weniger Menschen beschäftigt. Die Folge ist eine höhere Arbeitslosigkeit und eine Reduktion des BIP. Ein Umlageverfahren ist somit das einzige Modell, das in einer Geldwirtschaft funktioniert.
Zugegeben: Mit der Annahme, dass »mehr Sparen« in der Gegenwart die Einnahmen der Unternehmen reduziert und sich somit negativ auf Investitionen, Produktion und Beschäftigung in der Zukunft auswirkt, ist Erhard nicht allein. Seine ökonomische Fehleinschätzung aus den 1950ern hat gerade unter Ordoliberalen überdauert, die auch im Jahr 2021 weiterhin selbiges propagieren.
Erhards Tätigkeiten während der Zeit des Nationalsozialismus sind gut dokumentiert. Was die Legendenbildung um Ludwig Erhard verdrängt, ist die Tatsache, dass er mit den Nazis kooperierte – und daran gut verdiente. Er lieferte regelmäßig Analysen darüber, wie man mit den »einverleibten« Gebieten umzugehen habe, oder wie man die »Verwertung des volksfeindlichen Vermögens« (also gestohlenem Eigentum von Juden und ausländischen Politikern) optimieren könne. Durch seine Kontakte in Privatwirtschaft und Politik gelang es Erhard, enorm lukrative Aufträge einzuholen – wenige von ihnen setzte er tatsächlich um.
Für die »Entwicklung« und Ausbeutung des besetzten Ostens setzte sich Erhard engagiert ein. So schrieb er zum Fall Polen: »Der polnische Arbeiter hat sich als willig und fleißig erwiesen, wenn auch seine Leistung nicht an reichsdeutschen Maßstäben zu messen ist. Dies ist der Ausfluss mangelnder Erziehung und rassisch bedingter Eigenschaften.« Er befand, das polnische Volk habe »weder die Gestaltungskraft noch den Gestaltungswillen, die es zu so wahrhaft kultureller Leistung befähigt«. Die Polen waren für Erhard Mittel zum Zweck in der Entwicklung des »Lebensraums im Osten«.
Mit dem NSDAP-Gauleiter Josef Bürckel arbeitete Erhard eng zusammen. Diese Beziehung spricht nicht gerade dafür, dass Erhard nur »blauäugig« und »politisch naiv« war, wie es beispielsweise der Historiker Daniel Koerfer einschätzt. Erhard machte sich mit seiner Arbeit für die Nazis die Taschen voll und leistete ohne Skrupel seinen Beitrag zur Erreichung der Ziele der abscheulichsten aller deutschen Regierungen.
Erhard selbst wurde nicht müde, wirtschaftliche Erfolge seiner eigenen Leistung zuzuschreiben – ganz gleich, ob diese Beurteilung der Wirklichkeit entsprach oder nicht. Und damit nicht genug. Er hatte keine Scham, sich als Doktor und Professor bezeichnen zu lassen, obwohl er nie eine wissenschaftliche Arbeit verfasst hat.
Seine guten Kontakte erwiesen sich als förderlich: Nachdem der Münchner Ökonom Adolf Weber Ludwig Erhard zu einer Honorarprofessur verhalf, bestand letzterer penibel darauf, mit »Herr Professor« angesprochen zu werden, denn »Bundeskanzler [könne] jeder werden, aber Professor nicht!«. Noch nicht einmal sein weitläufig zelebriertes Buch Wohlstand für alle schrieb er selbst, denn der Handelsblatt-Journalist Wolfram Langer war hier der Autor. Erhard übernahm nur das Marketing und die Inszenierung.
Die nüchterne Bilanz beweist, dass sich kein Wirtschaftsminister ein Beispiel an Ludwig Erhard nehmen sollte und dass die Verehrung Ludwig Erhards auf Fehlannahmen und Projektionen fußt. Was wir heute brauchen, ist kein zweiter Ludwig Erhard, sondern ein Wirtschaftsminister, der die größeren Zusammenhänge und Dynamiken wirtschaftlicher Entwicklung versteht, der sein Amt kompetent ausführt und sich nicht so skrupellos opportunistisch verhält wie Erhard.
Wirtschaftspolitisch hat sich Robert Habeck einiges vorgenommen – etwa 15 Millionen vollelektronische Autos und der Ausstieg aus der Kohle bis 2035. Das sind wichtige Ziele, aber noch lange keine Maßnahmen. Und zwischen diesen Zielen und Maßnahmen steht Christian Lindner. Spätestens da wird sich zeigen, ob sein Ministerium wirklich zum Ermöglicher oder ideologischen Türsteher wird. Darauf, dass die Amerikaner den Deutschen wieder aus der Patsche helfen, kann sich Habeck in jedem Fall nicht verlassen. Allein deshalb wird er kein Erhard 2.0 werden – und er sollte es entsprechend auch gar nicht erst versuchen.
Patrick Kaczmarczyk ist wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches »Kampf der Nationen«.
Patrick Kaczmarczyk ist wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches »Kampf der Nationen«.