17. November 2021
Kapitalistische »Freiheit« ist nur ein anderes Wort für private Tyrannei. Beschäftigte, nicht Kapitalisten, sollten die Wirtschaft kontrollieren.
Weite Teile unseres Lebens sind nicht demokratisch organisiert, das gilt besonders für den Arbeitsplatz.
Seit den Anfängen der Demokratie im antiken Griechenland wird sie von ihren Gegnerinnen und Gegnern als die denkbar schlechteste Regierungsform dargestellt. Von Platon bis zum selbstbezeichneten »Antiplatoniker« Nietzsche wurde die Demokratie dafür verurteilt, dass sie die »schweinische Masse« ermächtigt, schlimmstenfalls eine »Tyrannei der Mehrheit« und bestenfalls eine Massengesellschaft der Mittelmäßigkeit hervorbringt.
Es ist daher bemerkenswert, dass das demokratische Ideal so populär geworden ist, dass sich heute fast jede noch so autokratische Regierung mit dem Gewand der Volkssouveränität schmücken muss. Autoritäre Demagogen wie Viktor Orbán behaupten, für das Volk zu kämpfen; Nordkoreas hyperautokratischer Staat erklärt sich zu einer Demokratischen Volksrepublik. Wenn es stimmt, dass Nachahmung das größte Kompliment ist, dann scheint die Demokratie in den Augen aller Welt die schönste Sache auf Erden zu sein.
Ich sage »scheint«, denn selbst in den seit langem bestehenden liberal-demokratischen Ländern existiert eine allumfassende Demokratie eher in der Rhetorik als in der Realität. Weite Bereiche des Lebens sind nach wie vor Formen der Macht unterworfen, von denen viele ebensowenig demokratisch rechenschaftspflichtig sind wie der staatliche Autoritarismus, gegen den demokratische Bewegungen ursprünglich angetreten waren.
Eines der augenfälligsten Beispiele hierfür ist der Arbeitsplatz, wo die Demokratisierung nach Jahrzehnten des Neoliberalismus nicht nur ins Stocken geraten ist, sondern sogar rückgängig gemacht wurde. Einer der besten Begleiter, den man in dieser Festung privater Tyrannei an seiner Seite haben kann, ist der Demokratietheoretiker Robert Dahl, der das leider wenig beachtete Buch A Preface to Economic Democracy verfasst hat.
Der 1915 geborene Dahl etablierte sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler der USA. Sein wohl bekanntestes Werk ist seine 1961 erschienene Studie Who Governs?, die von links zurecht für die Behauptung kritisiert wurde, die USA verfügten über ein pluralistisches politisches System, in dem keine einzelne soziale Gruppe dominieren würde. Daneben schrieb Dahl jedoch eine Reihe bahnbrechender Bücher und Abhandlungen, die in eine radikalere Richtung weisen. Im Herzen seiner Arbeit standen stets sein sozialwissenschaftliches Engagement für empirische Forschung und ein ethisches Bekenntnis zur Demokratie.
In seinem 1986 erschienenen Buch A Preface to Economic Democracy nahm Dahl nicht die formell politischen Institutionen ins Visier, sondern einen Bereich, der vom Mainstream der politischen Theorie oft ausgeblendet wird: die Wirtschaft. Er forderte nichts weniger als deren grundlegende Umgestaltung – und befasste sich dabei auch mit den Argumenten derer, die sich einer Ausweitung der Demokratie widersetzten.
Aristoteles folgend ist das demokratische Ideal für Dahl nicht nur funktional, sondern fundamental egalitär, insofern es auf der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger beruht. Diese grundlegende Gleichheit erzeugt einen inneren Antrieb für die Ausweitung der Demokratie: Die politische Gleichheit stellt sicher, dass alle, einschließlich der »unteren Schichten«, zumindest eine gewisse Macht haben, um ihre Interessen durchzusetzen.
Die klassisch-liberale Lösung für dieses vermeintliche Problem ist wohlbekannt: Limitierten Formen der Demokratie wurde eingeräumt, bestimmte Aspekte der staatlichen Politik gestalten zu dürfen, während zugleich großzügig ausgelegte private Eigentumsrechte dauerhaft von demokratischem Druck abgeschirmt wurden. Daneben führte man noch weitere antidemokratische Maßnahmen ein, um sowohl expansiven Eigentumsrechte durchzusetzen als auch die Entstehung von Massenbewegungen in der Bevölkerung zu verhindern, die die Herrschaft des Kapitals in Frage stellen könnten. So konnte der liberale Staat, der angeblich den Werten von Freiheit und Unabhängigkeit verpflichtet ist, mithin mit Gewalt gegen die Organisierung von Arbeiterinnen und Arbeitern und anderen Bedrohungen für das Privateigentum vorgehen.
Dahl verwendet einen Großteil seines Buches darauf, zwei Kernargumente des klassischen Liberalismus anzufechten. Dazu nimmt er sich als erstes Alexis de Tocqueville vor, zweifellos einen der größten Freundfeinde der Demokratie.
Nachdem er Anfang der 1830er Jahre die USA bereist hatte, räumte Tocqueville ein, dass die Demokratie der Weg in die Zukunft sei, und begrüßte auch die Abschaffung der alten Herrschaft der Aristokratie, welcher er selbst angehörte. Allerdings war er zutiefst besorgt darüber, dass die liberale Demokratie von einer grundlegenden Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit geplagt war.
Einige von Tocquevilles Befürchtungen stellen lediglich Aktualisierungen der antiken Kritik an der »Pöbelherrschaft« dar. Sein originärer Beitrag besteht aber darin, zu argumentieren, die Demokratie habe eine kulturelle Tendenz zur Mittelmäßigkeit und sozialen Nivellierung, da die unkultivierte Mehrheit die Freiheit der verdienstvolleren Menschen mit der Zeit ablehnen und schließlich einschränken würde. Anfänglich möge dies noch durch bloßen sozialen Druck von unten geschehen – letztendlich aber würde die Sehnsucht nach Gleichheit, in Verbindung mit der Auflösung der lokalen Bindungen der Menschen, einen riesigen Staat hervorbringen, der mit sanftem Despotismus die gesamte Bevölkerung verwaltet und versorgt.
Dahl räumt zwar ein, dass eine demokratische Gesellschaft potenziell in eine sanfte oder andere Form der Despotie umschlagen kann. In der Geschichte gibt es zu viele Beispiele dafür, als dass sich das ignorieren ließe. Das bloße Heraufbeschwören dieses Schreckgespenstes beweist aber noch nichts: Wie die historischen Beispiele von Chile, Singapur oder Südafrika zu Zeiten der Apartheid beweisen, kann auch kapitalistische »Freiheit« offener Despotie den Weg bereiten.
Jene Fälle, die in der Regel als Belege für eine autoritäre Tendenz der Demokratie angeführt werden – Italien, Spanien und Deutschland in den 1930er Jahren –, sind tatsächlich Beispiele für autoritäre Rückschritte, nicht Ausbrüche der Demokratie, die in einer »Pöbelherrschaft« kulminiert wären.
Das zweite klassisch-liberale Argument, welches Dahl aufgreift, ist für seine Überlegungen zur Demokratie am Arbeitsplatz von größerer Bedeutung: Die Behauptung, dass Eigentumsrechte dauerhaft vor demokratischen Eingriffen abgeschirmt werden sollten – einschließlich des Rechts von Kapitalistinnen und Kapitalisten, große Unternehmen ihr eigen zu nennen.
Dahl unterteilt die Verteidigung dieser expansiven Auffassung privater Eigentumsrechte, in zwei Hauptstränge. Die erste ist instrumentell oder utilitaristisch und behauptet, private Eigentumsrechte kämen kurz- oder langfristig allen zugute. Die zweite ist rein moralischer Natur. So argumentiert beispielsweise der Libertäre Robert Nozick in seiner Abhandlung Anarchy, State, and Utopia, dass das Privateigentum zu den Grundrechten gehört, welche kein Staat je verletzen dürfe – was bei ihm allerdings auch bedeutet, dass keinerlei staatlicher Zugriff auf das erlaubt sein dürfe, was man durch Geschäfte auf dem Markt verdient.
Dahl greift beide Argumente heftig an, konzentriert sich aber vor allem auf das letztere. Wie Dahl hervorhebt, beruht diese moralische Verteidigung häufig auf der These, Privateigentum sei eine Art Naturrecht, was »so gut wie gar nichts aussagt«. Zugleich werden persönliche Eigentumsrechte – an meinem Körper, meinem unmittelbaren Besitz und so weiter – so weit mit dem Privateigentum vermengt, dass Jeff Bezos auf einmal das unantastbare Recht hat, den Weltraum zu monopolisieren, und Kapitalistinnen und Kapitalisten im Allgemeinen uneingeschränkt dazu berechtigt sind, gigantische, weltweit operierende Unternehmen zu besitzen.
Jede Argumentationsstufe – von der einfachen Verteidigung des persönlichen Eigentums bis hin zu immer umfassenderen Vorstellungen von Privateigentum – bedarf der Begründung. Doch diese liefern die Befürworter des Kapitalismus kaum, wie Dahl feststellt. Stattdessen verlassen sie sich auf einen gigantischen Pfusch: Die von den Kapitalisten geleistete Arbeit und die von ihnen erbrachten Entbehrungen verleihen ihnen demnach das Recht, ein Unternehmen zu besitzen – der Schweiß und das Blut, die von Arbeitenden vergossen werden, berechtigt sie hingegen lediglich dazu, ihre Arbeitskraft immer wieder an den Kapitalisten zu verkaufen.
Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen als Dahl: Eine expansive Konzeption von Privateigentum ist eines der größten Hemmnisse politischer Freiheit. Wenn ein politisches System grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse der Deliberation und dem demokratischen Druck entzieht, dann schränkt es die soziale Freiheit der Einzelnen ein, mitzubestimmen, in welcher Art von Gesellschaft und unter welchen Gesetzen sie leben wollen. Einer der grundlegendsten Widersprüche der libertären Weltanschauung ist, dass sie vorgibt, jeden staatlichen Zwang zu verachten, sich aber gleichzeitig implizit auf genau diesen Zwang stützt, wenn es darum geht, die Integrität des Privateigentums auch gegen Widerstand aufrechtzuerhalten.
Nachdem sich Dahl an den Einwänden der klassischen Liberalen abgearbeitet hat, argumentiert er für eine Ausweitung der Demokratie auf die Wirtschaft. Er plädiert für »selbstverwaltete Unternehmen«, die kollektiv von ihren Belegschaften betrieben werden, und in denen alle Mitarbeitenden politisch gleichberechtigt durch Abstimmungen und andere demokratische Verfahren über die Verwendung des Betriebsvermögens, die Organisation der Produktion und so weiter bestimmen.
Diese selbstverwalteten Betriebe würden auf einem Markt mit anderen demokratischen Unternehmen konkurrieren und der Staat würde sie regulieren, um die Bildung von Monopolen zu verhindern, den Reichtum zu besteuern und ihn durch Sozialleistungen umzuverteilen sowie allgemein gesellschaftlich schädliche wirtschaftliche Aktivitäten zu unterbinden.
Dahl stellt die Hypothese auf, dass alle diese Maßnahmen staatlicher Regulierung im Rahmen einer Wirtschaftsdemokratie einfacher umzusetzen wären als heute, da es durch die Gewinnbeteiligung der Beschäftigten bereits eine gleichmäßigere Verteilung des Reichtums in der Bevölkerung gäbe und alle Mitglieder der Gesellschaft »ein nahezu gleiches Interesse an der Aufrechterhaltung der politischen Gleichheit und der demokratischen Institutionen in der Regierung des Staates« hätten.
Leider führt Dahl nur wenige Beispiele für selbstverwaltete Unternehmen an. Die Mondragon-Genossenschaft in Spanien wäre ein solches Beispiel – wie eine Umsetzung in größerem Maßstab aussehen würde, bleibt jedoch abzuwarten. Diesbezüglich wäre es meines Erachtens das beste Vorgehen, in einzelnen Unternehmen für die Demokratisierung des Arbeitsplatzes zu kämpfen und sich zugleich politisch zu organisieren, um Druck auf die liberal-demokratischen Institutionen auszuüben, sodass diese größere rechtliche Spielräume für Gewerkschaften, Genossenschaften und andere Organisationen der Arbeitenden schaffen.
Jedenfalls war Dahl da an etwas dran. Eine der größten Tragödien des Sozialismus im 20. Jahrhundert war seine Assoziation mit stalinistischer Tyrannei, aufgeblähter Bürokratie und ineffizienter zentraler Planung. Zwar ist diese Wahrnehmung teilweise auch kapitalistischer Propaganda geschuldet; Tatsache bleibt aber, dass der real existierende Sozialismus in vielen Fällen zutiefst undemokratisch war. Im Aufbau humaner Gesellschaften waren sozialdemokratische Bewegungen erfolgreicher – insbesondere in den nordischen Ländern. Diese scheiterten jedoch in den 1970er und 80er Jahren daran, den Kapitalismus zu überwinden und zu einem demokratischen Sozialismus fortzuschreiten.
Dahls Preface to Economic Democracy ist ein Plädoyer dafür, dass das Ideal der Demokratie nicht darauf beschränkt ist, dass die Bürgerinnen und Bürger den Staat kontrollieren können. Es geht vielmehr darum, dass sie zusammen eine gemeinsame Welt aufbauen – auch am Arbeitsplatz und darüber hinaus. In diesem Sinne liefert dieses Buch eine inspirierende Vision einer Zukunft, die wir einmal erreichen könnten.
Matt McManus ist Gastdozent für Politikwissenschaft am Whitman College. Er ist der Autor von The Rise of Post-Modern Conservatism and Myth und Co-Autor von Mayhem: A Leftist Critique of Jordan Peterson.
Matt McManus ist Gastprofessor für Politik am Whitman College. Er ist der Autor von »The Rise of Post-Modern Conservatism and Myth« und Co-Autor von »Mayhem: A Leftist Critique of Jordan Peterson«.