14. September 2022
Das Konzept der Intersektionalität ist inzwischen auch bei Unternehmen populär. Kein Wunder – denn der Chefetage wird man damit nicht gefährlich.
Diskriminierungen überschneiden sich wie an einer Straßenkreuzung – aber warum sie das tun, kann der Intersektionalismus nicht erklären.
Unsplash / Simon LaunayIntersektionalität ist in aller Munde. Zuletzt erst fand sich der Begriff in einem geleakten internen Memo aus der Amazon-Chefetage. Es ging darum, Schwarze weibliche Führungspersonen einzustellen, um die Versuche gewerkschaftlicher Organisierung innerhalb des Unternehmens zu bekämpfen.
Im wissenschaftlichen Betrieb ist Intersektionalität aktuell hoch im Kurs, wie die Einführung eines Masterstudiums der Intersektionalität an der Freien Universität Berlin zeigt. Doch die Theorie weist diverse Probleme auf: Ihr fehlt eine gesellschaftliche Einbettung und sie verfängt sich in methodologischem Individualismus und Essenzialismus.
Der Intersektionalismus wird heute häufig einem sozialistischen Kollektiv Schwarzer lesbischer Frauen zugeschrieben, dem Combahee River Collective (CRC). Die Gruppe stellte sich gegen den in ihrer Zeit oft proklamierten Klassenreduktionismus sowie gegen einen weißen-bürgerlichen Feminismus, der ihre Lebensrealität nicht abbildete, was wiederum dazu führte, dass sie innerhalb der Frauenbewegung zusätzlich marginalisiert wurden. So sprachen sie in ihrem »Black Feminist Statement« (1977) von »interlocking systems of oppression«, also ineinandergreifenden Systemen der Unterdrückung. Die Schlussfolgerung: Kämpfe müssen zusammen gedacht werden. Ausgehend von der eigenen Identität ergeben sich, so das Kollektiv, differenzielle Erfahrungen. Aus diesem Grund könnten nur sie für ihre eigene Perspektive einstehen.
Auch wenn der Begriff des Intersektionalismus im Nachhinein einigen Schwarzen radikalen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre attribuiert wird, taucht er tatsächlich zuerst in einem Artikel aus dem Jahr 1989 der Juristin Kimberlé Crenshaw auf. Er gilt seither als theoretisches und methodisches Instrument.
In diesem Text thematisiert Crenshaw eine arbeitsrechtliche Klage gegen General Motors aus dem Jahr 1976: Arbeitnehmerinnen verklagten das Unternehmen, weil es ausschließlich Schwarze Frauen entlassen hatte. Daraufhin verlangte der Richter, dass sich die Klägerinnen entscheiden müssten, ob sie sich mit ihrer Anklage gegen Rassismus oder Sexismus wehrten. Da jedoch weder Schwarze Männer noch weiße Frauen von den Kündigungen betroffen waren, würden beide Klagen ins Leere laufen.
Diese arbeitsrechtliche Situation nutzt Crenshaw, um die Diskriminierungserfahrung Schwarzer Frauen anhand des Bildes einer Straßenkreuzung zu veranschaulichen. Diese Kreuzung – »intersection« – stelle etwas Neuartiges dar, das bislang keine Berücksichtigung finde. Diskriminierung lasse sich nicht aufaddieren, so Crenshaw. Daher plädiert sie für eine mehrdimensionale Identitätspolitik, bei der vor allem die Integration verschiedener Erfahrungen in verschiedene gesellschaftliche Institutionen, in diesem Fall das Rechtssystem, angestrebt wird.
Diese Idee fasste bald Fuß innerhalb von sozialen Bewegungen. Die Notwendigkeit, intersektional zu denken, sollte kenntlich machen, dass jeder Kampf inklusiv gestaltet werden müsse und die sich überlappenden Unterdrückungssysteme mitzudenken seien. Ansonsten laufe man Gefahr, soziale Barrieren für bereits Marginalisierte weiter zu reproduzieren.
»Der Rückzug in die Identität vollzog sich also in dem Moment, in dem eine kollektiv erkämpfte gesellschaftliche Transformation zunehmend unmöglich erschien.«
Der Einfluss des Intersektionalismus wuchs dabei in einer Zeit, in der die ideologische Grundlage innerhalb von sozialen Bewegungen vor allem vom Poststrukturalismus und von postmarxistischen Theorien geprägt war: Diese gewannen in einer Zeit politischer Desillusionierung mit dem scheinbaren Triumphzug des Liberalismus und dem »Ende der Geschichte« an Popularität. Der Rückzug in die Identität vollzog sich also in dem Moment, in dem eine kollektiv erkämpfte gesellschaftliche Transformation zunehmend unmöglich erschien.
Diese bürgerlich-reformistischen Reaktionen spiegeln sich auch in Crenshaws Argumentation wider. Crenshaw, die keine Sozialistin war, geht es um eine Integration in das Recht – eine Juridifizierung sozialer Konflikte. Während also die Grundforderung des Intersektionalismus darauf abzielt, eine neue Kategorie für Schwarze Frauen im Rechtssystem einzuführen, ändert dies an sich nichts an den materiellen und sozialen Bedingungen ihrer Unterdrückung.
Rechtsreformen, die Unterdrückten eine konkrete Verbesserung ihrer Lebenslage ermöglichen, sind natürlich unterstützenswert. Gleichzeitig muss jedoch aufgezeigt werden, dass Rassismus und Sexismus Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus darstellen – und dessen Aufrechterhaltung wird mitunter durch die Justiz gewährleistet.
Ursache und Wirkung werden miteinander verwechselt. Die Kategorie »Race« wird dann etwa als Erzeuger von Rassismuserfahrung gedacht. Wie jedoch die Historikerin Barbara Fields bereits dargelegt hat, ist die Kategorie »Race« ein Produkt des Rassismus – und nicht andersherum.
Identitätskategorien wie »Schwarz« und »weiß« sind weder arbiträr konstruiert noch als unveränderlich hinzunehmen. Sie entwickeln sich ständig entlang der materiellen Produktionsverhältnisse. So wurden in Zeiten der Industrialisierung in England etwa die Iren und Schotten als rassifiziertes »Anderes« markiert, um die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft zu legitimieren. Heute, wo dies nicht mehr der Fall ist, gelten sie größtenteils als weiß.
Es bleibt also unklar, was der strukturierende Faktor ist, der diesen Unterdrückungen zugrunde liegt. Daher ist es auch kein Zufall, dass Crenshaw diesen strukturierenden Faktor in der von ihr skizzierten Situation – also das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen – analytisch ausklammert.
Auch wenn immer wieder das Anliegen postuliert wird, Kämpfe zu vereinen, wird diese Forderung nicht realisiert. Die Unterdrückungsverhältnisse selbst werden zu identitären Markern verkürzt, die sich nunmal überkreuzen. Das Problem hier ist der methodologische Individualismus, der sich auf Identitätskategorien versteift, und die gesellschaftlichen Umstände, die diese erzeugen, nicht mitdenkt.
Zentral ist dabei, dass die Unterschiedlichkeit der Perspektiven angeblich nicht überwunden werden kann. So erklärte das Combahee River Collective, dass nur sie selbst für sich kämpfen könnten, da ihr Kampf für die Interessen von Schwarzen lesbischen Frauen nur von denjenigen verstanden werden könne, die dieselben Erfahrungen machten wie sie. Strategische Allianzen werden dadurch zwar nicht verunmöglicht, jedoch ist ausgeschlossen, dass diese auf einem gemeinsamen objektiven Interesse gründen.
Dass die Kategorie der »Klasse« dabei als eine beliebige Kategorie unter vielen auftritt, führt zu weiterer Orientierungslosigkeit. Soziale Verhältnisse werden individualisiert, um dann einen Strukturbegriff zu etablieren, der wiederum alle Individuen einfach nur aufaddiert.
Daran anknüpfend entwickelt die Intersektionalistin Patricia Hill Collins mit ihrem Buch Black Feminst Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment (1990) das Konzept einer »Matrix der Unterdrückung«. In dieser Vorstellung sind Individuen mit bestimmten Diskriminierungserfahrungen sowie Privilegien ausgestattet. Da Privilegien und Diskriminierung ohne soziale Kontextualisiertung im Raum schweben, wird eine Kausalität zwischen diesen Kategorien konstruktiert: Jede Person, die eine Unterdrückungsform nicht selbst erlebt, ist demnach an ihrer Aufrechterhaltung beteiligt.
Anstatt das Privileg als Symptom von Produktionsverhältnissen zu verstehen, wird es vielmehr als Motor der Unterdrückung begriffen – ganz so, als würden etwa Männer mehr Geld verdienen, weil Frauen weniger verdienen. Anstatt Fragen über die Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum zu stellen, werden Knappheiten im Privilegien-Diskurs einfach naturalisiert. Bücher wie das von Collins lesen sich so als reine Symptome einer Politik der Austerität.
Der Ausweg dieser Sackgasse der Individualisierung soll der Begriff der »Allyship« sein, der an die Stelle einer marxistischen Klassensolidarität tritt: Nicht-unterdrückte Menschen können Unterdrückten als »Allies«, also als Verbündete, begegnen. Diesem Verständnis nach gibt es kein gemeinsames Interesse und auch keinen gemeinsamen Kampf, sondern lediglich von einander getrennte Anliegen, die jeweils unterstützt werden können.
Dass der Kampf für gemeinsame Interessen möglich ist, zeigt uns jedoch die Geschichte. So traten beispielsweise 1973 in West-Deutschland um die 275.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in über 335 Betrieben in den Streik, der Großteil von ihnen Gastarbeitende. Es war der erste große wilde Streik in der Bundesrepublik Deutschland, der von Arbeitsmigrierten getragen wurde – »wild«, weil sie keinen Rückhalt der IG Metall erhielten. Der Streik wurde unter anderem durch die fristlose Entlassung von 300 türkischen Arbeiterinnen und Arbeitern ausgelöst, die zu den niedrigen Lohngruppen gehörten. Die Frauen unter ihnen verdienten noch einmal weniger, weil sie als »Leichtlohngruppe« kategorisiert wurden.
Die Bestreikung des Autozulieferers Pierburg in Neuss nahm dabei eine besondere Stellung ein, da er durchweg von migrantischen Frauen angeführt wurde. Während die deutsche Belegschaft in einer höheren Lohngruppe angesiedelt war und zuvor erfolglos gestreikt hatte, taten sie sich im Zuge dieser Ereignisse zusammen: Die migrantischen Frauen konnten zusätzlich sowohl ihre migrantischen männlichen Kollegen als auch die deutschen Frauen für sich gewinnen. Dadurch wurden höhere Löhne für alle sowie die Abschaffung der untersten Lohngruppe erkämpft. Diese Streiks wurden auch hier durch ein Kulminieren von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen ausgelöst und stehen seither emblematisch für einen Klassenkampf, der sowohl feministisch als auch antirassistisch geführt wurde.
Solange die Frage, warum Menschen unterdrückt werden und in welchem Interesse das passiert, unbeantwortet bleibt, kann das Konzept der Intersektionalität von der herrschenden Klasse gefahrlos übernommen werden. Intersektionalismus ist daher kein Garant für Emanzipation.
Den Intersektionalistinnen und Intersektionalisten möchte ich sagen: Die Welt existiert außerhalb unserer Gedanken und Gefühle. Auch wenn wir sie unterschiedlich wahrnehmen, ändert unsere Wahrnehmung nichts an den Fakten dieser Realität.
Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis des Ursprungs von Ausbeutung, um Ungerechtigkeit bekämpfen zu können. Die Gesamtheit der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen, die den Kapitalismus ausmachen, existiert objektiv. Rassismus und Sexismus stellen mitunter Ausbeutungsverhältnisse dar und wenn wir diese bekämpfen wollen, müssen wir einen gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistische Totalität führen, da es ansonsten immer systemische Ungleichheiten geben wird. Anstatt unterschiedliche soziale Kämpfe zu vereinzeln, sollten wir uns auf Basis dieser Ungleichheiten zusammenschließen, denn: Wir haben eine Welt zu gewinnen.
Simin Jawabreh (@siminjawa) arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildung und ist Kolumnistin bei JACOBIN.