24. November 2022
Putins Wirtschaft ist jetzt offiziell in der Rezession. Aber die Krise ist schwerwiegender, als die Zahlen vermuten lassen.
Ihre markante Brosche am Kragen trägt sie seit Kriegsbeginn nicht mehr. Früher war das ihr Markenzeichen. Sie unterstrich damit auf Pressekonferenzen ihre geldpolitische Botschaft. Elwira Nabiullina ist Putins wichtigste Bankerin. Sie leitet die Zentralbank. Gerüchteweise wollte sie zu Kriegsbeginn zurücktreten, sie habe schließlich »Ökonomie und nicht Fäkalienreinigung« studiert. Putin ließ sie nicht.
Er konnte und wollte auf die Frau, die vor der Invasion noch im Westen von Mainstream-Ökonomen und westlichen Wirtschaftsjournalisten für ihre konservative Geldpolitik gefeiert wurde, nicht verzichten. Die Zeitschrift Euromoney zeichnete Nabiullina 2015 zur Zentralbankerin des Jahres aus. 2017 wurde sie von der britischen Zeitschrift The Banker zur besten Zentralbankerin Europas gewählt. Und 2019 schaffte sie es auf Platz 53 der Liste der einflussreichsten Frauen der Welt des Forbes-Magazins.
Ihre Vita ist beeindruckend: In armen Verhältnissen aufgewachsen, früh konfrontiert mit den Werken von Marx und Engels, während des Studiums eingetreten in die kommunistische Partei, arbeitete sie später für Jelzins Wirtschaftsminister und heute für Putin. Die Technokratin ist machtbewusst, aber nicht prunksüchtig; kriegsskeptisch, aber diplomatisch; wirtschaftsliberal, aber pragmatisch. Und, was sie bei Marx und Engels gelesen hatte, spielte weder unter Jelzin noch unter Putin eine Rolle für ihre Arbeit – offensichtlich.
Anders als Putin und seine Minister betont Nabiullina immer wieder, wie schwer Russland die Sanktionen treffen und ihre Arbeit als Zentralbankchefin erschweren. So auch in der jüngsten Pressekonferenz. Während Putin häufig den hohen Rubelkurs als Zeichen ökonomischer Stärke bemüht, betont Nabiullina bemerkenswert oft die wirtschaftlichen Probleme. Gewiss haben die beiden unterschiedliche Rollen, näher an der ökonomischen Realität ist aber die Bankerin. Denn: Nur weil der Rubel 32 Prozent höher liegt als vor dem Krieg, läuft es längst nicht rund in Putins Wirtschaft.
Eigentlich keine große Nachricht wert: Russland hat jetzt auch für alle Ökonomen der Welt eine Wirtschaftskrise. Also: jetzt auch offiziell. Denn Krise ist definiert als zwei aufeinanderfolgende Quartale mit schrumpfendem BIP. Um rund 4 Prozent schrumpfte die Wirtschaft im dritten Quartal – darunter minus 22,6 Prozent im Großhandel, minus 9,1 Prozent im Einzelhandel und minus 2 Prozent bei der Industrieproduktion. Zulegen konnten lediglich der Bausektor und die Landwirtschaft, die gute Ernten erzielte, so die Daten vom russischen Statistikamt.
Auch die russische Zentralbank brachte jüngst neue Zahlen. Darin hatte sie ihre Prognosen vom April deutlich revidiert. Zum Besseren wohl gemerkt. Statt 10 nur 3,5 Prozent Wirtschaftseinbruch, statt 23 nur 13 Prozent Inflation, statt 36 nur 23 Prozent weniger Importe, statt 21 nur 16 Prozent weniger Exporte, statt 35 nur 12 Prozent weniger Investitionen. Alles doch nicht so schlimm? Nicht so voreilig, so die Botschaft, die Nabiullina bei der Pressekonferenz zu vermitteln versucht.
Erstens: Russlands Exporte werden sinken. Die Weltmarktpreise, die die Exporteinnahmen bisher trotz sinkender Verkaufsmenge gepusht haben, sind gefallen. Die Weltnachfrage für russische Energie wird ebenfalls sinken, wenn die Weltwirtschaft miese Konjunktur hat und die Zentralbanken weltweit die Zinsen anziehen – übrigens maßgeblich wegen des von Russland angezettelten Krieges und seiner ökonomischen Verwerfungen. Russland zerstört gewissermaßen die eigene Weltnachfrage nach seinen Rohstoffen. Das könnte auch den Rubelkurs senken und die Importe für Russland verteuern.
Zweitens: Russland erleidet einen unvergleichlichen Angebotsschock, der auf Jahre hinaus die Wirtschaft lähmen wird. Je länger der Krieg dauert, desto schlimmer. Desto größer nämlich die ökonomische Unsicherheit, die Unternehmen vor Investitionen in Russland abschreckt, desto mehr Firmen wandern aus Russland ab, desto mehr Lieferketten werden gebrochen, desto schwerer fällt der Ersatz westlicher Importe, desto mehr Arbeitskräfte produzieren für die destruktive Kriegsindustrie, desto mehr Arbeitskräfte lassen ihr Leben auf dem Schlachtfeld oder fliehen vor der Mobilmachung. Ein toxischer Cocktail für die Wirtschaft.
Den Effekt der Teilmobilmachung sprach Nabiullina gar selbst an. »Es ist heute schwer, die ökonomischen Auswirkungen zu beurteilen«, so die Zentralbankerin in Bezug auf die Bedeutung der Teilmobilmachung für den Arbeitsmarkt. Kurzfristig senke das die Nachfrage, mittelfristig erhöhe das aber den Inflationsdruck, weil Arbeitskräfte und Fachkräfte fehlen, sagte sie deutlich. Und: Recht hat sie. Insbesondere weil es die jüngeren Russen sind, die von der Mobilmachung betroffen sind oder vor ihr fliehen. Es sind diejenigen, die gut ausgebildet sind und der alternden Bevölkerung in Zukunft die Rente mit einer möglichst produktiven Wirtschaft sichern müssen.
Nach Beginn des Krieges haben bis zu 450.000 jüngere Russen das Land verlassen, seit Beginn der Mobilisierung sind schätzungsweise 300.000 dazugekommen, und etwa genauso viele wurden eingezogen. Der Großteil der Mobilisierten wird sterben, sich verletzen, traumatisiert werden oder Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt verlieren. Heißt zusammengerechnet: rund 1 Million weniger Talente auf dem russischen Arbeitsmarkt.
Drittens: Wenn der russische Staat Soldaten bezahlt und Panzer bauen lässt, steigt zwar die Wirtschaftsleistung, die Produktion ist aber für nichts anderes als den schrecklichen und ökonomisch destruktiven Krieg zu gebrauchen. Wohlstand bringt sie nicht – im Gegenteil! Kriegsproduktion ist Verschwendung von Ressourcen. Das Ausmaß lässt sich im Bruttoinlandsprodukt gar nicht ablesen. Allemal wird es aber unterschätzt.
Nabiullina hat also Recht, wenn sie – im Rahmen ihrer diplomatischen Möglichkeiten – Wasser in Putins Propaganda-Wein kippt. Realismus, der Putin nicht besonders schmecken dürfte. Allerdings hat Nabiullina ein starkes Standing. Immerhin gilt sie als die Retterin des Rubels. Den Ruf dürfte sie auch behalten, selbst wenn der Rubel durch die globale Wirtschaftsabkühlung wieder ein paar Prozent Federn lassen sollte.
In der EU und den USA wird man sich derweil über ihren Ruf ärgern. Schließlich hat man der russischen Zentralbank hunderte Milliarden an Währungsreserven lahmgelegt, um den Rubel zu crashen. Den Angriff hat Nabiullina leider gekontert.
Wie sie das genau gemacht hat, erfahrt Ihr in Der neue Wirtschaftskrieg.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.