08. August 2022
Linke leben seit über einhundert Jahren im politischen Schatten der Russischen Revolution. Beseelt vom Vorbild des Jahres 1917 versuchte jede Generation von Sozialistinnen und Sozialisten das umzusetzen, was ihr als zentrale politische Lehre der Bolschewiki erschien.
Demonstration in Turku, Finnland, März 1917.
Linke leben seit über einhundert Jahren im politischen Schatten der Russischen Revolution. Beseelt vom Vorbild des Jahres 1917 versuchte jede Generation von Sozialistinnen und Sozialisten das umzusetzen, was ihr als zentrale politische Lehre der Bolschewiki erschien.
Obwohl sich Millionen von Menschen vollständig diesem Projekt verschrieben und entscheidend mithalfen, die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung überall auf der Welt zu verbessern, gelang keiner leninistischen Partei auch nur ansatzweise eine Revolution in einer hochentwickelten kapitalistischen Demokratie. Die Tragödie der Bolschewiki liegt nicht nur darin, dass sie schnell dem stalinistischen Terror erlagen; sie beharrten auch auf einem revolutionären Ansatz, der sich für parlamentarische Kontexte als ungeeignet erwies.
Dennoch lässt sich viel aus der Russischen Revolution lernen. Die revolutionären Bewegungen, die 1917 ihren Höhepunkt erreichten, halten eine wichtige Lehre bereit, die sich immer wieder bestätigt hat: Der Kapitalismus währt nicht ewig, er kann überwunden werden. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob politische Organisierung unter einer Autokratie oder in einem modernen Sozialstaat stattfindet. Dennoch können wir vieles daraus lernen, wie es die russischen Sozialistinnen und Sozialisten schafften, die Idee des Sozialismus in den Massenbewegungen der Arbeiterschaft zu verwurzeln.
In meinem Buch Revolutionary Social Democracy zeige ich, dass die Relevanz dieser Geschichte besonders deutlich zutage tritt, wenn wir nicht nur das russische Kernland betrachten, sondern das gesamte Russische Reich. Dies schließt unter anderem Finnland mit ein, dem als einziger Nation unter zaristischer Herrschaft gewisse politische Freiheiten und ein demokratisch gewähltes Parlament gewährt wurden. Die wichtige strategische Erkenntnis aus der Gesamtheit der Erfahrungen innerhalb des Zarenreichs lautet: In Ländern mit parlamentarischen Institutionen führt der einzig gangbare Weg zu einer sozialistischen Transformation über eine radikale Form des demokratischen Sozialismus.
Der sogenannte Leninismus gründet auf dem Mythos des bolschewistischen Exzeptionalismus. Die frühe Kommunistische Internationale forcierte diese Denkrichtung ebenso wie die nachfolgenden Generationen von Stalinisten und Trotzkisten. Sie argumentieren, die Bolschewiki hätten sich 1917 als Einzige vom kleinmütigen Sozialismus des Karl Kautsky – dem »Papst des Marxismus« der Zweiten Internationalen und Cheftheoretiker der SPD – losgesagt. Dessen reformistische und am Parlamentarismus orientierte Ideologie habe die SPD 1914 zu ihrer berüchtigten Unterstützung des Ersten Weltkrieg verleitet und jeden Versuch sozialistischer Transformation verhindert.
Der Unterschied zwischen den Bolschewiki und der deutschen Sozialdemokratie, so heißt es, gründe auf Lenins strategischen Bruch mit dem »Kautskyanismus«. Der anhaltend große Einfluss dieser Interpretation kommt auch daher, dass die Forschungsliteratur stark auf die Revolutionäre im Zentrum des Zarenreichs fokussiert ist. Die sozialistischen Parteien der nicht-russischen Grenzregionen werden meist ignoriert. Dabei stellten sie über 75 Prozent der organisierten Kräfte in einem Imperium, in dem nur 42 Prozent der Bevölkerung russisch waren.
Bereits ein flüchtiger Blick auf die anderen sozialistischen Parteien im Zarenreich widerlegt die Behauptung, lediglich die Bolschewiki hätten sich damals grundlegend von den sozialistischen Parteien Westeuropas unterschieden. Sämtliche Untergrundparteien im autokratischen Russland agierten anders als die SPD – und das aus einem simplen Grund: Die zaristische Repression ließ ihnen keine andere Wahl.
Russlands Revolutionäre waren mit Kautskys Strategie voll und ganz einverstanden – und sie konnten sie in der Praxis implementieren, weil die autokratischen Verhältnisse eine außergewöhnlich militante Arbeiterbewegung hervorbrachten. In Deutschland dagegen führten die Möglichkeiten und Beschränkungen der parlamentarischen Politik in Kombination mit einer Bürokratisierung der Bewegung dazu, dass sich sowohl die Arbeiterschaft als auch die Funktionärsschicht der Sozialdemokratie von der Zielsetzung lösten, die Kautsky zumindest bis 1910 artikuliert hatte.
Der Kern dieser Strategie der revolutionären Sozialdemokratie bestand in der Selbstverpflichtung, eine sozialistische Massenpartei aufzubauen. Diese sollte die Arbeiterinnen und Arbeiter, die an der Spitze aller Unterdrückten standen, organisieren und sowohl den Klassenkampf als auch die Demokratisierung vorantreiben, bis hin zum revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft.
Anders als der spätere Leninismus argumentierte Kautsky, ein solcher Weg erfordere früher oder später eine gewählte sozialistische Parlamentsmehrheit, die wiederum das Zentrum einer Arbeiterregierung bilden würde. Die Linken müssten zwar beharrlich auf die Arbeiterparteien einwirken, damit diese ein marxistisches Programm übernehmen und umsetzen, doch das erfordere keineswegs den Ausschluss gemäßigter Sozialisten, solange diese die Mehrheitsentscheidungen akzeptierten.
Die bolschewistischen Exzeptionalisten übersehen, dass sich die Revolutionäre des Zarenreichs genau diese strategische Vision zu eigen machten.
Während die deutsche Sozialdemokratie mit ihren Nachahmern weltweit nach leninistischer Lesart das Konzept einer breit aufgestellten Partei durchsetzten, was ihre politischen Überzeugungen und ihre Disziplin zugunsten der Einheit mit gemäßigten Sozialisten schwächte, bauten die Bolschewiki seit 1903 (manche meinen, erst ab 1912) eine »Partei neuen Typus« auf. Diese engmaschige Organisation war nach dem Prinzip des »Demokratischen Zentralismus« strukturiert, der zwar interne Beratungen vorsah, den Schwerpunkt letztlich aber auf Disziplin legte. Sie bestand laut dieser Auffassung lediglich aus den engagiertesten und kämpferischsten Mitgliedern der Arbeiterklasse. Weder bot sie Platz für »Opportunisten« – Gemäßigte, die auf klassenübergreifende Blockbildungen mit Liberalen und Kapitalisten hinarbeiteten – noch für die nicht ausreichend revolutionären »Zentristen«.
Diese Lesart erweist sich in mehrfacher Hinsicht als problematisch. Es stimmt einfach nicht, dass die Bolschewiki oder irgendwelche anderen sozialistischen Untergrundorganisationen im Russischen Reich eine besondere organisatorische Disziplin an den Tag legten. Definitiv praktizierten sie unter den zaristischen Herrschaftsbedingungen keinen »Demokratischem Zentralismus«, wie ihn die Kommunistische Internationale 1920 als Aufnahmebedingung definierte: Eine Kommunistische Partei sei »nur dann imstande, ihre Pflicht zu erfüllen, wenn sie möglichst zentralistisch organisiert ist und eine eiserne, fast militärische Disziplin in ihr herrscht, wenn ihr Parteizentrum ein starkes, autoritatives Organ mit weitgehenden Vollmachten ist«.
Die autokratischen Bedingungen zwangen die Parteien im Zarenreich, sehr viel flexibler und dezentraler zu agieren als ihre Pendants im Ausland: Wieder und wieder wurden in Russland Parteikomitees zerschlagen und ihre Mitglieder verhaftet, was die Herausbildung solider Organisationen oder stabiler Bürokratien verhinderte. Um der Geheimpolizei zu entgehen, lebten die Vorsitzenden meist im Exil, weshalb sich die Parteien notgedrungen von unten nach oben organisierten und die lokalen Verbände Eigeninitiative ergreifen mussten.
Da die Vorsitzenden im Exil nur selten die harschen Bedingungen verstanden, unter denen ihre Genossinnen und Genossen im Heimatland agieren mussten, stritten die lokalen Kader häufig mit ihren offiziellen Parteiführungen, die im Ausland saßen. Oder sie ignorierten sie einfach. In Paris verabschiedete Resolutionen oder in Genf verfasste Artikel wurden vor Ort in Russland nicht unbedingt umgesetzt.
Das Gros lokaler sozialistischer Aktivitäten geschah in Komitees in den Betrieben und den Städten, ohne dass sich die Beteiligten dabei einer bestimmten marxistischen Denkschule zuordneten. Der Historiker Michael Melancon merkt an: »Die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Gruppen lässt vermuten, dass die politischen Parteien Russlands noch kein genau definiertes Profil besaßen. Es waren eher Bewegungen, die unter schwierigen Bedingungen operierten, als Parteien.«
Folglich arbeitete praktisch jede marxistische Untergrundströmung im Zarenreich, die Bolschewiki eingeschlossen, mit weitaus mehr lokaler Autonomie, politischer Pluralität und offener Debattenkultur als es die meisten leninistischen Organisation des 20. Jahrhunderts tun würden.
Das traditionelle leninistische Argument lautet, das Geheimnis des Erfolgs der Revolution liege in der Schaffung einer »Partei neuen Typus«, die ausschließlich aus Berufsrevolutionären bestehe. Die Vorgänge im zaristischen Russland widerlegen diese Prämisse jedoch. Die effektivsten revolutionären Organisationen des Reiches hielten sich keineswegs an die Maxime »klein aber fein«. Stattdessen vertrauten sie darauf, dass der Aufbau breit aufgestellter Arbeiterparteien gemeinsam mit Gemäßigten der richtige Weg sei.
Die Erfolge der finnischen revolutionären Sozialdemokratinnen ergaben sich beispielsweise daraus, dass sie in der Sozialdemokratischen Partei Finnlands (SDP) mitarbeiteten und sie nach Kautskys Vorstellungen umgestalteten. Die finnische Partei gehörte bei ihrer Gründung im Jahr 1899 zu den gemäßigteren sozialistischen Parteien Europas. Jedoch rückte sie ab 1905 deutlich nach links, als die erste Russische Revolution die finnischen Arbeiterinnen und Arbeiter radikalisierte. Das gab einer Gruppe junger »Kautskyaner« die Möglichkeit, 1906 die Parteiführung in der SDP zu übernehmen. Von diesem Zeitpunkt an drängten die revolutionären finnischen Sozialdemokraten ihre Partei, die Bündnispolitik mit liberalen Parteien aufzugeben und sich ganz dem revolutionären Endziel des Sozialismus zu verschreiben.
Als die revolutionäre Stimmung von 1905 abebbte, blieb der gemäßigte Sozialismus weiterhin eine bedeutende Strömung innerhalb der finnischen Arbeiterbewegung und der SDP. Wie in Deutschland und im Westen war der gemäßigte Sozialismus nicht darum stark, weil man das »falsche« Parteimodell gewählt hatte. Vielmehr agierten Arbeiterinnen und Sozialisten in parlamentarischen Kontexten deshalb relativ gemäßigt, weil sie die Möglichkeit hatten, ihre Interessen durch starke Organisationen und Wahlkämpfe durchzusetzen. Im russischen Untergrund herrschte eine völlig andere Situation, weil sich dort, wie Kautsky es ausdrückte, die Arbeiter buchstäblich »in einem Zustand befinden, in dem sie nichts zu verlieren haben als ihre Ketten.«
Nach 1906 mäßigte die revolutionäre Parteiführung der SDP ihren Radikalismus – der Einheit der Partei zuliebe. Dabei wogen die Vorteile konkreter politischer Handlungsfähigkeit die Nachteile mangelnder revolutionärer Reinheit auf. Die organisatorische Zersplitterung der SDP hätte vermutlich die Radikalen marginalisiert, die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter desorientiert und den Vormarsch der sozialistischen Bewegung gelähmt.
Letztendlich bestätigte sich, dass nur eine geeinte Partei Finnlands Arbeiterschaft an die Macht bringen konnte. Gemäßigte finnische Sozialistinnen und Sozialisten unterstützten letztlich (wenn auch etwas widerwillig) die Revolution von 1918. Das zeigt ein Brief des moderaten Sozialistenführers Anton Huotari, den er wenige Wochen nach Beginn des Bürgerkriegs an seine älteste Tochter schrieb.
Er bat sie, die Verantwortung für die Familie zu übernehmen, sollten er und seine Frau (ebenfalls eine sozialistische Aktivistin) getötet werden. Dann erklärte er, warum beide die Machtübernahme unterstützten: »Trotz gewisser Zweifel bezüglich des aktuellen bewaffneten Kampfes waren wir der Auffassung, dass wir der Bewegung nach der Entscheidung zum Kampf um die Staatsmacht unsere gesamte Einsatzkraft schulden. Wir sind mit der sozialdemokratischen Bewegung großgeworden, und nun ruft sie uns in die Pflicht.«
Eine ähnliche Dynamik spielte sich auch im übrigen Russischen Reich ab, wo die repressiven autokratischen Verhältnisse es den Revolutionären erleichterten, die politische Hegemonie zu erringen und zu festigen. Beispielsweise verweigerte sich die starke lettische Sozialdemokratie – zu dieser Zeit die größte marxistische Untergrundströmung des Reiches – in weiser Voraussicht den seit 1914 wiederkehrenden Aufforderungen Lenins, ihre menschewistische Minderheit auszuschließen. Durch die Wahrung der Parteieinheit unter Führung der Radikalen gewann die Partei einen beeindruckenden Rückhalt unter den lettischen Arbeiterinnen und Bauern und ergriff Ende 1917 mit überwältigender Unterstützung der Bevölkerung die Macht.
Auch die Partei, die in Lettland die Macht übernahm, bestand zum großen Teil aus Gemäßigten. Erst im Mai 1918 kam es zur organisatorischen Trennung von den lettischen Menschewiki. Aufgrund ihrer herausragenden Rolle in der Oktoberrevolution und im anschließenden Bürgerkrieg galten die lettischen Marxistinnen und Marxisten gemeinhin als »Geburtshelfer der Revolution«.
Selbst Lenins Bolschewiki operierten die meiste Zeit ihres Bestehens als relativ lockere Strömung innerhalb der breiteren Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Sie organisierten sich gemeinsam mit fraktionslosen Sozialistinnen und Menschewiki, die Bündnisse mit den Liberalen befürworteten. Erst nachdem die Menschewiki im Mai 1917 der liberal geführten provisorischen Regierung beigetreten waren, kam es überall im Russischen Reich zur vollständigen organisatorischen Spaltung.
Ende 1917 sei die von den Bolschewiki geführte Partei keineswegs, so der Historiker Robert Service, »die eifersüchtig-exklusive Sekte der gängigen Erzählungen« gewesen, sondern eher ein »Sammelbecken für jene radikalen Sozialdemokraten, die sich über die Notwendigkeit einig waren, das von den Liberalen dominierte Kabinett zu stürzen, eine sozialistische Regierung einzusetzen und den Krieg zu beenden«.
Die wichtigste Lehre aus der Zeit des Zarenreichs besteht nicht in der Notwendigkeit straffer marxistischer Disziplin oder einer Partei ohne Opportunisten. Größere organisatorische und politische Reinheit brachte nicht automatisch größere Effektivität. Das hatte die ausweglose Situation von Rosa Luxemburgs extrem abgeschotteter Partei in Polen verdeutlicht. Der Einfluss der Radikalen beruhte vielmehr darauf, dass sie sich bei der Organisation einer breiteren Arbeiterpartei als besonders fähig bewiesen. Diese Praxis wäre unmöglich gewesen, hätten sich die Revolutionäre des Zarenreichs organisatorisch allzu sehr von anderen Sozialistinnen und Arbeiteraktivisten abgeschottet.
Die Einheit der Arbeiterklasse durch eine »Sammlungspartei« mit verschiedenen politischen Strömungen zu erreichen, zwang die Sozialistinnen und Sozialisten zu einer Reihe politischer Kompromisse und brachte sie in strategische Dilemmata. Doch das war der Preis dafür, ihr Projekt effektiv in der Arbeiterklasse zu verankern – nicht wie sie sie gern hätten, sondern wie sie wirklich war. Es gibt leider nicht den einen organisatorischen Trick, um das Kräfteverhältnis zwischen gemäßigten und radikalen Sozialisten zu verändern.
Einer der wenigen Punkte, in dem sich Stalinistinnen und Trotzkisten einig sind, ist, dass die Oktoberrevolution nur möglich war, weil Lenin die Bolschewiki im April 1917 mit einer neuen Theorie über Staat und Revolution »wiederbewaffnet« hatte. Dieser Theorie zufolge musste der kapitalistische Staat zerschlagen und durch eine Basisdemokratie aus Arbeiterräten ersetzt werden. Trotzkistinnen wie Stalinisten glauben auch, dass diese Strategie der »Doppelherrschaft« für jede sozialistische Revolution in jedem Land gilt, damals wie heute, ganz egal, ob es eine repräsentative Demokratie gibt oder nicht.
Diese Darstellung ist schlicht und einfach falsch. Lenin musste die Partei im April 1917 nicht »wiederbewaffnen«, um für die Sowjetmacht zu kämpfen. In Wahrheit versuchten die revolutionären Sozialdemokraten seit 1905 überall im Zarenreich, eine Regierung der Arbeiterinnen und Bauern zu etablieren, gestützt auf Volksorgane wie die Sowjets, um die sozialen Forderungen der Werktätigen umzusetzen und die internationale sozialistische Revolution zu entfachen. Dies blieb bis Oktober 1917 die Haltung der Bolschewiki und der mit ihnen verbündeten nicht-russischen Parteien.
Auch wenn Lenin selbst seit Anfang 1917 die Frage des Staates neu überdachte, änderte die Partei als Ganze ihre Strategie erst weit nach Oktober. Erst dann bezeichneten die Bolschewiki ihre Revolution als »sozialistisch« und erklärten sie zum Modell für den Rest der Welt. Wie die aufschlussreichen Forschungen des Historikers James White gezeigt haben, veränderte die bolschewistische Führung seit 1918 ihre historische Darstellung der Russischen Revolution, um das Sowjetmodell besser international exportieren zu können.
Und selbst wenn Lenins neue Theorie 1917 die Praxis der Bolschewiki und der mit ihnen verbündeten nicht-russischen Revolutionäre verändert hätte, würde das immer noch nicht beweisen, dass das Revolutionsmodell, den bestehenden parlamentarischen Staat zu zerschlagen und durch eine Herrschaft der Räte zu ersetzen, überall auf der Welt anwendbar ist.
Anders als in Westeuropa gab es in Russland 1917 weder ein Parlament noch einen kapitalistischen Staat, die zertrümmert werden konnten. Die Februarrevolution zerschlug eine autokratische Monarchie und hinterließ ein politisches Vakuum, das eine nicht gewählte, illegitime provisorische Regierung und die neu geschaffenen Arbeiter- und Soldatenräte notdürftig ausfüllten.
Die Bevölkerung betrachtete zu Recht die Räte als weitaus demokratischer und repräsentativer als die provisorische Regierung. Somit unterschied sich die politische Landschaft in Russland sowohl vor als auch nach dem Februar 1917 grundlegend von den parlamentarischen Herrschaftsstrukturen Mittel- und Westeuropas. Dort wollte die überwältigende Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter die Parlamente nicht abschaffen, sondern sie zum Zweck radikaler sozialer Transformation benutzen.
Die revolutionäre sozialdemokratische Strategie, die von Kautsky, Luxemburg, Lenin und den Marxistinnen und Marxisten an den Rändern des Zarenreichs geteilt wurde, unterschied klar zwischen parlamentarischen und autokratischen Verhältnissen. Während Kautsky für das zaristische Russland den bewaffneten Aufstand unterstützte, lehnte er diese Strategie für parlamentarische Regierungssysteme ab, in denen eine Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter die bestehenden demokratischen Institutionen zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen könnte.
Entgegen der gängigen leninistischen Verballhornung sah dieser Ansatz weder einen rein »parlamentarischen Weg zum Sozialismus« vor, noch bestritt er die Bedeutung außerparlamentarischer Massenmobilisierung. Ganz im Gegenteil: Die revolutionäre Sozialdemokratie sah die Bedeutung des Wahlkampfs hauptsächlich darin, Klassenbewusstsein und Organisationen der Arbeiterschaft außerhalb des Staates aufzubauen. Dass dies funktioniert, hat zuletzt auch die Wiederentdeckung des Sozialismus in den USA seit der rebellischen Vorwahlkampagne von Bernie Sanders im Jahr 2015 gezeigt.
Doch im Gegensatz sowohl zu Sanders, als auch zu vielen Sozialdemokratinnen nach 1917 in aller Welt, hielt Kautsky beharrlich am sozialistischen Endziel fest. Entsprechend lehnte er parlamentarische Kompromisse ab und argumentierte, Sozialisten sollten nur während einer sozialistischen Revolution Regierungsämter übernehmen.
Eine konsequente Ausrichtung auf die Erlangung einer sozialistischen parlamentarischen Mehrheit und die Demokratisierung des bestehenden Staates war Kautsky zufolge notwendig, um ausreichend Macht, Legitimität in der Bevölkerung und institutionelle Stärke aufzubauen, um zu gegebener Zeit einen revolutionären Bruch vollziehen zu können. Da aber die Kapitalistenklasse mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen werde, die sozialistische Transformation zu verhindern, erforderte die Durchsetzung des Wählerauftrags für ihn auch Massenaktionen und – falls nötig – die bewaffnete Selbstverteidigung.
Dass diese Strategie realisierbar war, zeigte sich in Finnland. Die SDP verfolgte Kautskys »erprobten und bewährten« Ansatz seit 1905. Sie erweiterte ihren Einfluss in der Arbeiterklasse stetig, indem sie geduldige Aufbauarbeit leistete und in ihrer parlamentarischen Arbeit auf das sozialistische Endziel hindrängte. Im Gegensatz dazu konzentrierten sich die Sozialistinnen und Sozialisten des russischen Untergrunds viel stärker auf disruptive Streiks, weil die autokratischen Verhältnisse den Aufbau starker Gewerkschaften und konstruktive parlamentarische Arbeit verunmöglichten.
Bis 1907 traten über einhunderttausend Arbeiterinnen und Arbeiter der SDP bei, was sie zur weltweit größten sozialistischen Organisation im Verhältnis zur Bevölkerungszahl machte. Dann, im Juli 1916, schrieb die finnische Sozialdemokratie Geschichte, indem sie als weltweit erste sozialistische Partei die Mehrheit in einem Parlament errang.
Die Ereignisse des Jahres 1917 verliefen auffallend nah an dem Szenario, wie es die revolutionäre Sozialdemokratie seit Langem erwartet hatte. Nach dem Sturz des Zarismus im Februar 1917 nutzte die sozialistische Führung Finnlands das Parlament und ihren Wählerauftrag, um eine Reihe radikaldemokratischer und sozialer Reformen durchzusetzen, etwa die Auflösung der Polizei und die Schaffung einer von Arbeiterinnen und Arbeitern geführten Volksmiliz. Als Reaktion darauf lösten im Juli die herrschenden finnischen und russischen Eliten willkürlich Finnlands Parlament auf. Das bereitete die Bühne für eine defensive, von den Sozialistinnen und Sozialisten geführte Machtübernahme im Januar 1918, um ihre demokratisch gewählte Regierung wiederherzustellen und ihr politisches Mandat umzusetzen.
So schreibt der finnische Soziologe Risto Alapuro: »Die Wahlurne erwies sich nicht als der Sarg der Revolutionäre, wie so oft behauptet wird. Im Fall von Finnland entpuppte sich die Wahlurne als ihre Wiege.« Im Sinne von Kautskys Forderung nach einer echten demokratischen Republik etablierte die neue sozialistische Regierung durch ihren Verfassungsentwurf eine demokratische Republik, wie sie sich revolutionäre Sozialdemokraten lange ausgemalt hatten.
Die finnische Erfahrung bestätigt die Position des demokratischen Sozialismus, wonach ein antikapitalistischer Bruch unter parlamentarischen Bedingungen die vorherige Wahl einer Arbeiterpartei in die demokratischen Institutionen des Staates erfordert. Aber wir sollten uns davor hüten, Kautskys kompromisslose Taktik für das Deutsche Kaiserreich oder Finnland auf unsere Gegenwart zu übertragen. Schließlich handelte es sich damals um konstitutionelle Monarchien mit geringer politischer Partizipation, prekären politischen und gewerkschaftlichen Rechten, lokalen Wahlrechtsbeschränkungen, einer nicht gewählten und nicht rechenschaftspflichtigen Exekutive sowie einem Parlament mit eingeschränkten Befugnissen.
Wie effektive sozialistische Politik aussieht, variiert je nachdem, welche Voraussetzungen sie vorfindet: eine Autokratie, ein parlamentarisches System mit geringer politischer Partizipation oder einen demokratischen Sozialstaat, der wesentlich mehr Möglichkeiten für transformative Reformen und eine starke Gewerkschaftsbewegung eröffnet.
Die neue bolschewistische Führung nach 1917 ignorierte die finnischen Erfahrungen und brach mit der revolutionären Strategie der Sozialdemokratie. Stattdessen behauptete sie, die Errichtung des Sozialismus erfordere eine Delegitimierung und Zerstörung der parlamentarischen Institutionen, die auf allgemeinen Wahlen basieren.
Unter Anleitung durch Lenin und Trotzki verabschiedete die neue Kommunistische Internationale im Jahr 1920 ihre »Leitsätze über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus«, nach denen für alle Länder gleichermaßen gilt: »Die Aufgabe des Proletariats besteht darin, die Staatsmaschine der Bourgeoisie zu sprengen, sie zu zerstören, und zugleich mit ihr die Parlamentsinstitutionen, mögen es republikanische oder konstitutionell-monarchistische sein.«
Aus der These, die Taktik der Bolschewiki gegenüber der Duma des zaristischen Staates – einem nach 1905 eingerichteten, illegitimen Scheinparlament – besitze weltweite Relevanz, wird gefolgert, dass »der neue [kommunistische] Parlamentarismus als eines der Werkzeuge zur Vernichtung des Parlamentarismus überhaupt« verstanden werden müsse. Parlamente seien zwar immer noch eine nützliche Tribüne für die revolutionäre Agitation, könnten aber »auf keinen Fall der Schauplatz des Kampfes um Reformen, um die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse sein«.
In jüngster Zeit wehren sich zwar einige leninistische Autoren, dieses Konzept als »insurrektionalistisch« zu bezeichnen, jedoch insistieren die Leitsätze ausdrücklich, die Ersetzung parlamentarischer Einrichtungen durch Arbeiterräte erfordere »die unmittelbare politische und technische Vorbereitung des Aufstandes des Proletariats«. Auch Trotzki bekräftigte in den folgenden Jahrzehnten, dass der Aufstand ein notwendiger Schritt jeder Doppelherrschaftsstrategie sei, da der alte Staat den Arbeiterräten die Macht nicht freiwillig überließe.
Die demokratisch-sozialistische Kritik an diesem Konzept stößt sich nicht, wie teilweise behauptet, am »Gewaltfetisch« oder am minoritären »Putschismus«. Sie sieht das Kernproblem an anderer Stelle: Das Konzept unterschätzt, wie viel Rückhalt echte parlamentarische Institutionen in der Bevölkerung genießen und wie viel politischer Spielraum durch ihre Widersprüchlichkeit entsteht. Dadurch marginalisierte es die radikalen Kräfte und verringerte so die Möglichkeit einer antikapitalistischen Gesellschaftstransformation.
Es gibt in linken Debatten bis heute eine Tendenz zu behaupten, Parlamente taugten bestenfalls als Plattformen für die sozialistische Agitation, aber nicht als Aktionsfelder, auf denen Sozialisten ernsthaft Mehrheiten für eine Politik im Interesse der Arbeiterschaft erkämpfen sollten. Während bolschewistisch motivierte Sozialistinnen Protestaktionen und dem »Basisaufbau« den Vorrang vor Wahlkämpfen einräumen, argumentieren demokratische Sozialisten, dass parlamentarische und außerparlamentarische Arbeit strategisch gleichermaßen wichtig sind und sich gegenseitig verstärken können und sollen.
Was die langfristige Strategie anbelangt, so konnte der Leninismus nicht schlüssig begründen, warum sozialistische Parteien nicht, wie traditionell von den Marxistinnen und Marxisten der Zweiten Internationale erwartet, eine Mehrheit in den parlamentarischen Gremien gewinnen konnten, um revolutionäre Veränderungen durchzusetzen – sowohl gegen die kapitalistische Klasse, als auch gegen die nicht demokratisch legitimierten Kräfte in Polizei, Armee und staatlicher Verwaltung. Eine brauchbare strategische Alternative ergibt sich weder aus einem Verweis auf die großen Hürden für ein solches Vorhaben noch aus den Misserfolgen linker Regierungen.
Die strategischen Neuerungen des Leninismus bezüglich Staat und Revolution isolierten die Radikalen in der revolutionären Periode der Jahre 1918 bis 1921. Gerade als die große Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter die Parlamente für eine sozialistische Transformation nutzen wollte, verwendeten die Kommunistinnen all ihre Energie darauf, gegen solche Versuche zu agitieren und die Vertreter des Reformismus zu denunzieren. Ironischerweise verstärkte dieser Ansatz lediglich die Hegemonie der gemäßigten Sozialdemokratinnen in Deutschland, Österreich und andernorts, die im Namen der Verteidigung der parlamentarischen Ordnung den Kapitalismus stützten.
In den kapitalistischen Demokratien blieben nicht nur die erfolgreichen Aufstände aus. Laut dem Soziologen Carmen Sirianni unterstützte lediglich eine Minderheit der Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Länder die Strategie der Doppelherrschaft, selbst in Zeiten höchster revolutionärer Aktivität.
Infolge dieser herben Rückschläge verkündete der Vierte Kongress der Kommunistischen Internationale im Jahr 1922 mehrdeutig, aus der Wahl einer »Arbeiterregierung« in einem kapitalistischen Staat könne eine sozialistische Revolution hervorgehen. Die leninistische Befürwortung solcher Regierungen markierte einen signifikanten Richtungswechsel zurück zur revolutionären Sozialdemokratie. Dies wiederum erklärt die dogmatische Ablehnung dieses Schwenks durch viele leninistische Strömungen.
Andere übernahmen diese pragmatische Anpassung an parlamentarische Kontexte. Die defensiven Formulierungen des Trotzkisten James P. Cannon aus dem Jahr 1940 über einen durch allgemeine Wahlen eingeleiteten Übergang zum Sozialismus unterscheiden sich nur marginal von der Vision Kautskys: Gewalt solle nur eingesetzt werden, falls die Kapitalisten – was zu erwarten sei – den Volkswillen nicht respektierten.
Die aufgeschlossensten Denkerinnen und Organisationen aus leninistischer Tradition – von den »linken Eurokommunisten« der 1970er Jahre bis hin zu Strömungen wie den Anticapitalistas im heutigen Spanien –, entwickelten diesen Ansatz der »Arbeiterregierung« weiter und entfernten sich gleichzeitig vom Konzept der »Partei neuen Typus«. Es ist unklar, was an ihnen noch spezifisch leninistisch ist.
Die Komintern reorientierte sich im Jahr 1922 jedoch nur halbherzig in Richtung revolutionärer Sozialdemokratie. Zwar wurde die Wahl einer sozialistischen Parlamentsmehrheit als möglicher Schritt hin zur Revolution anerkannt, doch die Kommunistinnen und Kommunisten erklärten weiterhin wenig glaubhaft, Räte seien die einzig mögliche Form der Arbeiterherrschaft.
Bisher konnte der Leninismus nicht überzeugend darlegen, warum die Arbeiterklasse »liberale parlamentarische Institutionen hinter sich lassen« sollte, in denen die kapitalistischen Kräfte ihre politische Hegemonie eingebüßt haben. Seit 1917 hat sich deutlich gezeigt, dass partizipatorische basisdemokratische Institutionen, seien es Räte, Streikkomitees oder Nachbarschaftsversammlungen, wesentliche Ergänzungen zu linksgeführten Regierungen darstellen, aber sie nicht ersetzen können.
Weil sich Leninisten eher darauf konzentrieren, die Staaten, wie sie sind, zu entlarven, anstatt sie zu transformieren, verlor das Projekt der Demokratisierung des Staates die zentrale Bedeutung, die es in frühen sozialistischen Strategien noch genoss. Das beinhaltete Initiativen, nicht gewählte Regierungsorgane der Parlamentskontrolle zu unterwerfen, antidemokratische Einrichtungen abzuschaffen oder öffentliche Bedienstete und Gewerkschaften mit substanziellen Kontrollbefugnissen auszustatten. In den USA, der mit Abstand demokratieärmsten Nation unter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, hat diese Beschränkung besonders schwere Folgen.
Einerseits verfügen die USA über eine gewählte Exekutive, ein Parlament mit beträchtlichen Befugnissen, echte bürgerliche Freiheiten und eine lange Geschichte der Einbindung der Arbeiterklasse in das politische System. Aus diesem Grund stuft der Politologe Konstantin Vössing die USA als ein Land »höchster Inklusion« ein.
Andererseits behindern antidemokratische Institutionen und Gesetze erheblich die Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen und Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung – wobei die Geschichte des New Deal in den 1930er Jahren beweist, dass solche Hindernisse durchaus überwunden werden können. Dadurch gewinnt die Strategie der Doppelherrschaft aber keineswegs an Relevanz, denn bevor die Arbeiterschaft stark genug sein wird, den gesamten Staat umzustürzen, besitzt sie schon lange die Macht, das US-Regierungssystem zu demokratisieren.
Lenins Behauptung, demokratische Republiken seien die »denkbar beste Hülle des Kapitalismus«, ignoriert, dass die parlamentarische Demokratie vor allem von der arbeitenden Klasse für die arbeitende Klasse erkämpft wurde. Demokratische Institutionen zu delegitimieren, statt die Demokratisierung auszuweiten, ist vielmehr ein Projekt der Rechten, wie der Trumpismus und der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 zeigen.
Wir können nicht genau wissen, welche Form der Übergang zum Sozialismus annehmen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle vorgeschlagenen sozialistischen Strategien gleich gut sind – oder dass wir ihre Vor- und Nachteile heute unmöglich abwägen können.
Weil noch keine sozialistische Transformation in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratie erfolgreich war, besitzen wir auch keinen klaren Ablaufplan. Deshalb können und müssen wir alle aktuellen linken Strategien in erster Linie danach beurteilen, inwieweit sie die Organisierung der Arbeiterinnen und der Sozialisten effektiv vergrößern. Wir müssen herausfinden, was funktioniert, und das so weit wie möglich vorantreiben, ohne dabei das Ziel einer sozialistischen Welt, befreit von kapitalistischer Herrschaft, aus den Augen zu verlieren.
Indem bolschewistisch geprägte Strategien Bemühungen für den Aufbau von Macht – ob in Betrieb oder im Parlament – in der Gegenwart im Namen einer festgelegten Vision der revolutionären Erhebungen in der Zukunft hintertreiben, unterminieren sie jeden denkbaren Fortschritt in Richtung Sozialismus. Selbst im extrem unwahrscheinlichen Fall, dass eine künftige Krise die Gelegenheit für einen Aufstand in einer lange bestehenden kapitalistischen Demokratie schafft, wird nur eine gut organisierte und mächtige sozialistische Bewegung eine solche Chance effektiv nutzen können.
Unter Umständen erhalten wir auch nie eine Chance, den Weltkapitalismus zu überwinden, wenn wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können. Dafür müssten wir innerhalb der nächsten zehn Jahre grüne sozialdemokratische Reformen durchsetzen – ein Unterfangen, das nach mehr als vierzig Jahren der neoliberalen Vereinzelung, des Niedergangs der Gewerkschaften und des Zerfalls der sozialdemokratischen Parteien weltweit eine massive Verstärkung der Organisationsmacht der arbeitenden Menschen erfordert.
Frei von einer unrealistischen und übermäßig präskriptiven Strategie für die sozialistische Umgestaltung zeichnet sich der demokratische Sozialismus heute in allen Bereichen des Klassenkampfes dadurch aus, dass er sich konsequent auf die Identifizierung und Ausweitung von Arbeitsweisen, Kampagnen und Organisationsformen konzentriert, die nachweislich zum Aufbau organisatorischer Stärke beitragen und gleichzeitig greifbare Erfolge für die arbeitende Bevölkerung erzielen.
Einfach ausgedrückt: Das zentrale Anliegen und das politische Dilemma liegen in der Frage, wie innerhalb und außerhalb des Staates transformative Reformen erkämpft werden können, die die Arbeiterklasse stärken und einen. Entscheidend wird sein, dass die resultierende Strategie Möglichkeiten für eine weitere Organisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Überwindung der kapitalistischen Herrschaft eröffnet, statt sie zu blockieren.
Das Ziehen der richtigen Schlüsse aus dem Jahr 1917 garantiert zwar nicht den Erfolg des Sozialismus, doch das Beharren auf den falschen garantiert anhaltenden Misserfolg. Karl Marx' strategische Empfehlung aus den 1850er Jahren hat heute nichts an Aktualität verloren: »Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.«
Eric Blanc ist der Autor von »Red State Revolt: The Teachers’ Strike Wave and Working-Class Politics«.