14. Juni 2023
Russlands Invasion der Ukraine hat den Westen geeint. Die USA ergreifen nun diese Gelegenheit, um ihr bröckelndes »informelles Imperium« neu zu zementieren. Doch dabei nützt Washington ein langer Krieg mehr als ein schneller Frieden.
US-Kampfflieger vom Typ Thunderbolt II beim Auftanken über dem Atlantik.
IMAGO / ZUMA WireTrotz aller Behauptungen, es sei die Bestimmung der Ukraine, bis zum Sieg zu kämpfen, die von Anhängern des transnationalen Neoliberalismus wie von ihren neokonservativen Verbündeten verbreitet werden, bleiben einige wichtige Fragen über das Schicksal des Landes unbeantwortet. Welche Form würde ein solcher Sieg überhaupt annehmen? Welche Vorteile gegenüber Russland würden es der Ukraine überhaupt erlauben, ihren größeren und mächtigeren Nachbarstaat zu besiegen? Wenn der Kreml laut verkündet, dass eine mit der NATO alliierte Ukraine eine nicht hinnehmbare Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands darstellt, kann eine solche Allianz die russische Aggression überhaupt effektiv beenden?
Obwohl inzwischen recht offensichtlich ist, dass die Ukraine keinen leichten Sieg erringen wird, setzen die Falken im Westen weiterhin auf eine Eskalation des Konflikts. Sie beklagen lauthals, dass der Westen Kiew militärisch nicht hinreichend unterstützt, und argumentieren, dass die Ukraine – und damit implizit auch der Westen – sich militärisch durchsetzen würde, wenn die »Alliierten« dem Land endlich mehr fortgeschrittenes Militärgerät – Panzer, Kampfflugzeuge, Langstreckenraketen und so weiter – lieferten.
Doch während der zermürbende Abnutzungskrieg die Welt der Gefahr einer nuklearen Eskalation näher gebracht hat, bieten auch Forderungen gegenüber der US-Regierung, die Ukraine zu einer Verhandlungslösung zu drängen, kaum einen realistischen Ausweg. Wie ein ehemaliger NATO-Gesandter der USA erklärte, ist ein solches strategisches Ziel der ukrainischen Regierung kaum vermittelbar:
»Der russische Präsident Wladimir Putin hat uns keinen Grund zu der Annahme gegeben, dass er bereit wäre, auf seine imperialen Träume, die Ukraine zu kontrollieren, zu verzichten. Genauso schwierig wäre es, die ukrainische Regierung davon zu überzeugen, Territorium an eine brutale Besatzungsmacht abzutreten, nur um einen Frieden von ungewisser Dauer zu erkaufen. Da es auf beiden Seiten starke Anreize dafür gibt, die Kämpfe fortzusetzen, erscheint ein drittes Szenario sehr viel wahrscheinlicher: Ein langer brutaler Krieg, der graduell entlang einer Konfliktlinie einfriert, die von keiner der beiden Seiten als offizielle Grenze akzeptiert wird.«
»Weder verfolgen die USA ein Projekt der ›Dekolonisierung‹, noch sind sie die direkten Treiber der Krise und des Kriegs in der Ukraine.«
Diese Dynamiken lassen sich nicht durch vereinfachende, eindimensionale Interpretationen erfassen. Sie unterstreichen, dass sich dieser Krieg nicht auf einen manichäischen Gegensatz reduzieren lässt: Sei es auf einen Triumphzug des Guten gegen das Böse, eines liberalen Westens, der ein autokratisches Russland konfrontiert, oder sei es auf einen angeblich antiimperialistischen russischen Abwehrkampf gegen den US-amerikanischen Hegemon. Die Komplexität dieses Konflikts zeigt auch die Grenzen jener vereinfachenden Interpretationen auf, die auf der Linken heute weit verbreitet sind, ob sie den Krieg nun als nationalen Befreiungskampf oder als interimperialen Konflikt begreifen.
Dennoch ist klar, dass hier größere Faktoren mit im Spiel sind. Wir leben in einem Zeitalter multidimensionaler Krisen, das sich durch das Ende der »unipolaren« Hegemonie der USA, Spaltungstendenzen innerhalb des neoliberalen Politikkonsenses, der die Globalisierung begleitete, sowie zunehmende geopolitische Spannungen auszeichnet. In dieser Situation versucht Washington, durch eine Doppeloffensive im euroatlantischen und indopazifischen Raum die Fundamente seines informellen Imperiums zu sichern.
Weder verfolgen die USA ein Projekt der »Dekolonisierung«, noch sind sie die direkten Treiber der Krise und des Kriegs in der Ukraine. Stattdessen leiten die USA, während sie die offene Konfrontation mit dem Kreml vermeiden, den ukrainischen Verteidigungskrieg auf indirekte Weise in Richtung eines langen, unentscheidbaren Konflikts, der Russland schwächen, Widersprüche innerhalb des westlichen Blocks auflösen und ein größeres Maß an Flexibilität bei der »Einhegung« Chinas ermöglichen soll.
Eine laute Fraktion innerhalb der nordamerikanischen und europäischen Linken identifiziert den russischen Imperialismus als Hauptursache des Ukrainekonflikts. Gemäß dieser Interpretation entschloss sich Putin zu einem reaktionären Eroberungskrieg, während die ukrainische Seite einen progressiven »nationalen Befreiungskampf« der »Dekolonisierung« führt. Diese Zuschreibungen reflektieren die Sicht auf die Ukraine als »unterdrückte Nation«, die sich nun endlich gegenüber einer historisch aggressiven Imperialmacht behaupten könne.
Der Gewerkschafter und Autor Dan La Botz folgt dem in seiner Analyse, in der er konstatiert, Russland sei »bestrebt, die Ukraine als unabhängigen Staat zu eliminieren und sogar die Ukrainer als Volk auszulöschen. Die Wurzeln dieser aggressiven russischen Haltung reichen bis in die Zeit der Zaren, aber vor allem der Sowjetunion, zurück und sind Putin und seinem Regime nun fest eingeschrieben«. Da die Unterstützung der Ukraine durch die USA und die NATO ein notwendiges Übel seien, um die russische imperiale Aggression zurückzuschlagen, habe ein Bekenntnis zum Prinzip der nationalen Selbstbestimmung in diesem Fall auch notwendigerweise zur Folge, westliche Waffenlieferungen zu unterstützen – oder sie zumindest nicht abzulehnen.
Diese Perspektive hat die Stärke, dass sie den Fokus auf das imperialistische Vorgehen des russischen Staates richtet und sich klar gegen Putins Invasion sowie jegliche Form der Reintegration der Ukraine in die »Einflusssphäre« des Kremls positioniert. Denn damit verortet sie die Kriegsursachen eindeutig in spezifischen regionalen Dynamiken, die der Konfrontation zwischen den ungleichen Kontrahenten Russland und Ukraine zugrunde liegen.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass sich diese Dynamiken kaum durch grobe Verallgemeinerungen über die Geschichte dieser beiden Länder über die Jahrhunderte erklären lassen. Argumentationen, die sich auf eine grundsätzliche Kontinuität des russischen Imperialismus berufen, implizieren, dass zur Befreiung der Ukraine letztlich die Auflösung der Russischen Föderation notwendig sei. Man müsse das Werk zu Ende bringen, das mit dem Zusammenbruch des Zarenreichs 1917 begann, doch nach dem Niedergang der Sowjetunion unabgeschlossen blieb. Eine solche essenzialistische Darstellungsweise verdeckt wichtige sozioökonomische und geopolitisch-militärische Unterschiede zwischen dem zaristischen Absolutismus, dem sowjetischen »Staatssozialismus« und dem stark zurückgestutzten kapitalistischen Russland von heute.
»Die Regierung in Kiew trotzt dem russischen Imperialismus, indem sie sich dem US-Imperium anschließt und dem von den USA beherrschten globalen Kapitalismus einfügt.«
Darüber hinaus macht das Verständnis der Ukraine als homogene »unterdrückte Nation« es unmöglich, die Klassenkonflikte und geopolitischen Dynamiken innerhalb des ukrainischen Kapitalismus adäquat zu verstehen. Einerseits spielt es herunter, wie sehr Staat und Kapital in der Ukraine in den Westen integriert und von ihm abhängig geworden sind. Weder sind die USA oder die NATO in der Ukraine eingefallen – es sind die russischen Streitkräfte, die eine unmittelbare und tödliche Gefahr darstellen –, noch befindet sich Russland in einem offenen Krieg mit den USA. Doch offensichtlich trotzt die Post-Maidan-Regierung in Kiew dem russischen Imperialismus, indem sie sich dem US-Imperium anschließt und dem von den USA beherrschten globalen Kapitalismus einfügt.
Andererseits legitimiert diese Darstellung das dominante Projekt der nationalen Rekonstruktion in der Ukraine, indem es die Klassenunterschiede übertüncht, die für die gegenwärtigen Ideologien der nationalen Selbstbestimmung so entscheidend sind. Wie der Sozialwissenschaftler Wolodymyr Ischtschenko zeigt, bezeichnet »Dekolonisierung« in der heutigen Ukraine vor allem den Aufbau eines »de-russifizierten« Staates, der sich aller sprachlichen, literarischen und kulturellen Verbindungen zum imperialen Zentrum entledigt.
Ein solches Verständnis des »nationalen Befreiungskamps« führt zu einer Form von Identitätspolitik, die eine essentielle ukrainische Identität nicht nur Putins Narrativ eines »einzigen Volkes«, sondern allem Russischen oder Sowjetischen entgegenstellt. Indem er intern diverse Identitäten essenzialisiert und Stimmen aus der ukrainischen Mittelschicht privilegiert, umgeht dieser Diskurs die wichtige Unterscheidung zwischen solchen Russinnen und Russen, die Putins Krieg befürworten, und solchen, die ihn ablehnen, und tut zugleich subalterne ukrainische Perspektiven pauschal als prorussisch ab.
Wie die Politologin Olena Lyubschenko darüber hinaus zeigt, führt die zunehmende Gleichsetzung des »ukrainischen« mit dem »europäischen Wesen« zu rassifizierten und geschlechtsspezifischen Dynamiken der kapitalistischen Staatsformation. Lyubschenko stellt fest, dass »die ukrainische Souveränität und Selbstbestimmung für lokale Eliten zunehmend mit einem Einschluss in die ›Festung Europa‹ und der Herausbildung einer ›weißen‹ und ›europäischen‹ ukrainischen Nation verbunden wird«. Diese eurozentrische Ideologie beruft sich auf die angeblichen Normen einer europäischen Identität (während Abweichungen hiervon bestraft werden) und trennt das Konzept der Selbstbestimmung von seinen internationalistischen, antifaschistischen und antikolonialen historischen Wurzeln.
Mit Sicherheit handelt es sich hier um ein anderes Phänomen als die antikolonialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Das sozialistische Interesse an der Dekolonisierung – ob mittels politischer Revolutionen mit dem Ziel der formalen Unabhängigkeit von imperialer Herrschaft oder einer tiefgreifenderen Transformation – fokussierte lange Zeit genau auf die Verbindung zwischen nationaler und sozialer Befreiung.
Der Politologe Richard Saull merkt an, dass die Revolutionen in der Peripherie des globalen Kapitalismus während des Kalten Krieges »aus den Konflikten entstanden, die eine Mobilisierung verschiedener gesellschaftlicher Klassen beinhalteten, wobei subalterne Klassen – ärmere Kleinbauern, das Proletariat, kleinbürgerliche Elemente und die radikale Intelligenz, geeint durch eine kommunistische oder radikal-nationalistische Ideologie – die traditionell herrschenden Klassen – Landbesitzer und Bourgeoisie, sei sie nun lokal verankert oder in der Metropole angesiedelt, unterstützt durch die kapitalistischen Großmächte – herausforderten«.
In jedem Fall rief das »instabile Verhältnis« zwischen präkapitalistischen und kapitalistischen Strukturen innerhalb dieser Staaten – manchmal verbunden mit erheblicher externer politischer Einflussnahme auf ihre Innenpolitik – revolutionäre Bewegungen hervor, dies sich »einem Projekt der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität, das auf der Ausweisung ausländischer wie imperialer politischer und ökonomischer Akteure basierte«, verschrieben. Insofern deren Präsenz durch gesellschaftliche Produktions- und Handelsverhältnisse und die geopolitisch-militärischen Verbindungen zwischen der lokalen Staatsmacht und den kapitalistischen Mächten der Metropole reproduziert wurde, »konnte politische Unabhängigkeit nur durch einen gewissen Grad an sozialer Revolution erreicht werden«.
Während der Krise des Nachkriegskapitalismus in den 1970er Jahren trafen lang anhaltende Streikwellen, eine sich radikalisierende Sozialdemokratie und antiimperialistischer Widerstand gegen den Vietnamkrieg in den kapitalistischen Kernländern auf nationale Befreiungsbewegungen im Globalen Süden, die eine Agenda der staatsgetriebenen, auf Importsubstitution ausgelegten Industrialisierung sowie der verbindlichen Regulierung einheimischer und ausländischer Unternehmen verfolgten. Diese Aufwertung staatlicher Intervention in der Organisation des gesellschaftlichen Lebens drohte, die Wiederherstellung der Profitabilität zu stören und die Machtverhältnisse zwischen den Klassen zu Ungunsten des Kapitals zu verschieben. Damit forderte sie die dominierende imperialistische Logik der Gestaltung der Nord-Süd-Beziehungen direkt heraus.
Im Gegensatz dazu blieben die Dynamiken der postsowjetischen, »mangelhaften« Maidan-Revolutionen in der Ukraine weit davon entfernt, die materiellen Grundlagen von Kapitalismus und Imperialismus herauszufordern. Stattdessen lösten sie sich nie von einer Agenda der neoliberalen Restrukturierung im eigenen Land, der Integration in den Westen und einer nationalistischen Identitätspolitik. Wie Ischtschenko feststellt, »wird ›Dekolonisierung‹ für die Ukraine und Russland heute in einem Kontext vorgeschlagen, in dem der Neoliberalismus an die Stelle staatlich gelenkter Entwicklungspolitik getreten ist und poststrukturalistische ›Postkolonial Studies‹ Theorien der neoimperialstischen Abhängigkeit abgelöst haben«.
Statt einer Konsolidierung von Demokratie und Marktwirtschaft brachte der Übergang vom sowjetischen »Staatssozialismus« zum »politischen Kapitalismus« nach 1991 eine Hegemoniekrise der politischen Repräsentation in den postsowjetischen Staaten mit sich. Aus der einfachen Mehrheit ethnischer Russinnen und Russen innerhalb der Sowjetunion wurden vergleichsweise große russische Minderheiten in den postsowjetischen Staaten außerhalb Russlands. Dies führte in der Ukraine zu einer Spaltung der herrschenden Klasse entlang politischer, ökonomischer und sprachlicher Buchlinien, zwischen den Russland zugewandten Industrieregionen des Ostens und der landwirtschaftlich geprägten, konservativen Westukraine, die sich in Richtung der USA und der NATO orientierte.
Im Zuge dieser regionalen Klassenspaltung bildete sich ein neoliberal-nationalistischer Block heraus, der westliche Staaten und das internationale Kapital mit der westukrainischen Mittelklasse vereinte, durch eine NGOs geprägte Zivilgesellschaft repräsentiert wurde, vom IWF finanziell abhängig war und von der NATO bewaffnet wurde. Rechtsextreme Gruppen instrumentalisierten hierbei antirussischen Nationalismus für ihre Zwecke und kämpften gegen die politischen Kapitalisten der Ukraine, die von russischer Unterstützung abhängig waren, um ihre Macht zu konsolidieren.
»Der Diskurs über die Ukraine essenzialisiert diverse Identitäten und tut dabei subalterne ukrainische Perspektiven pauschal als prorussisch ab.«
Das neoliberale Modernisierungsprojekt der ersten Blocks (der Übergang zum »echten Kapitalismus« und dem Anschluss an die »zivilisierte Welt«) hing von der Liquidierung der politischen Kapitalisten als dominierender Klassenformation ab, die ihren Wettbewerbsvorteil hauptsächlich durch staatliche Bevorzugung erlangten. Daher erzeugte diese Dynamik einen Teufelskreis aus autoritärer Konsolidierung und Maidan-Revolutionen, welche die postsowjetische Hegemoniekrise nur noch vertiefte und die Grundlage für die zunehmende Militarisierung des Konflikts legte.
Als die letzte der drei »mangelhaften« Revolutionen in der Ukraine (die legitimen Widerstand gegen die autoritäre Konsolidierung zum Ausdruck brachten, aber »von oben« durch Elemente der alten, postsowjetischen herrschenden Klasse gekapert wurden), zeichnete sich der Euromaidan-Aufstand von 2014 durch zunehmenden Einsatz nationalistischer Identitätspolitik aus. Diese verdeckte das Scheitern der Bewegung, die liberale Demokratie zu konsolidieren oder dauerhaften sozialen Wandel herbeizuführen.
Der ukrainische Staat in der Ära nach dem Euromaidan-Aufstand reduzierte die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft drastisch, privilegierte westliche multinationale Konzerne gegenüber »korrupten« einheimischen Kapitalisten und entsagte der militärischen Neutralität, indem er die Ukraine zur westlichen Bastion gegen Russland machte. Nun nutzt er den Ausnahmezustand des Krieges und Aussichten auf einen Wiederaufbau nach dessen Ende (zum Beispiel bei der Wiederaufbaukonferenz 2022 in Lugano), um unpopuläre neoliberale Reformen des inländischen Land- und Arbeitsmarkts weiter voranzutreiben.
Das Gegenstück zu diesen regressiven sozioökonomischen Entwicklungen bildet eine weiter fortschreitende Radikalisierung der nationalen Identitätspolitik unter Kriegsbedingungen. Dabei hat der zivile gesellschaftliche Konflikt nun die Form der Bestrafung von »Kollaborateuren« angenommen, was sich auch in den neokolonialen Anklängen von Selenskyjs Ansprüchen auf eine Wiedereroberung des Donbass und einer vollständigen »Ukrainisierung« der Krim niederschlägt.
Im Kern des dominierenden Nation-Building-Projekts in der Ukraine steht eine Logik, die nationalistische Identitätspolitik mobilisiert, um fundamentale gesellschaftliche Ungleichheiten im Kapitalismus zu legitimieren und zu reproduzieren. Die ukrainische Arbeiterklasse ist heute also auch mit einem Klassenkampf konfrontiert, den ihre eigene Bourgeoisie gegen sie führt. Statt zu akzeptieren, dass »Dekolonisierung« notwendigerweise so aussehen muss, sollten die Arbeiterklasse, die Gewerkschaften und die sozialistische Bewegung die mangelhafte Logik dieses Projekts herausfordern.
Ein anderer Teil der Linken erkennt zwar die Rolle Russlands als Aggressor an, betont jedoch den westlichen Imperialismus als einen Grund für den Krieg. Nach dieser Lesart haben die Osterweiterung der NATO und die Konsolidierung der westlichen soft power in der Ukraine (durch die Unterstützung von neoliberalen NGOs, des Euromaidan-Aufstands und der Post-Maidan-Regierungen), Russland eingekreist und seine eurasische Einflusssphäre verletzt. Diese westliche Offensive provozierte demnach eine »defensive« Reaktion Russlands, das seinen Marinestützpunkt in Sewastopol sicherte, einen Eintritt der Ukraine in die NATO vereitelte und die Post-Maidan-Regierung destabilisierte, indem es die Krim annektierte und die Separatisten im Donbass unterstützte.
Dieses Narrativ hat die Stärke, dass es durch die Fokussierung auf die westliche Rolle im Konflikt die offensive Natur der NATO-Erweiterung und den Status der Post-Maidan-Regierung als US-Satellitenstaat herausstellt. Die Schwäche dieser Diagnose ist, dass sie den westlichen imperialistischen Block als geeinten Akteur darstellt, welcher die Ausweitung der NATO und die euroatlantische Integration der Ukraine von Anfang an unterstützte. Dabei zeichnet sie die Euromaidan-Revolution als vorsätzlichen, westlich gesteuerten Coup und nimmt mitunter die führende Rolle radikaler Nationalisten und Faschisten im Euromaidan-Aufstand zum Anlass, eine Homologie zwischen der NATO und Nazis zu attestieren. Damit prägt sie dem Konflikt eine überzogen geostrategische und makrostrukturelle Auffassung der Machtverhältnisse innerhalb der Ukraine auf. Durch diese Darstellung werden die Ereignisse entsprechend verzerrt.
Der US-amerikanische Staat hat die Ukrainekrise weniger verursacht als sich vielmehr eine regionale Dynamik zueignen gemacht, indem er den wachsenden Spalt zwischen Russland und der Ukraine für sein langfristiges Projekt, seine globale Hegemonie zu sichern, nutzte. In dieser Hinsicht erlaubte der Euromaindan-Aufstand Washington zwar zweifelsohne, eine loyalen Administration in Kiew zu etablieren. Gleichzeitig scheiterte die Revolution daran, das politische System des Landes grundlegend zu verändern, was zu Spannungen zwischen westlichen Regierungen und ukrainischen Oligarchen in Fragen der Korruptionsbekämpfung führte. Zugleich bedrohte der Trend zur nationalistischen Radikalisierung die Integration der Ukraine in den euroatlantischen Raum.
»Die USA nutzten ihre Position nach Ende des Zweiten Weltkriegs dazu, eine globale kapitalistische Ordnung zu schaffen, die auf einem ›informellen Imperium‹ statt auf formaler Kolonisierung und territorialer Expansion beruhte.«
Indem sie die Rivalität der Großmächte USA und Russland mehr oder minder in den Kategorien des Realismus interpretiert, ignoriert diese Perspektive Widersprüche innerhalb des westlichen imperialistischen Blocks mit Bezug auf die Ukrainepolitik (hauptsächlich zwischen den USA einerseits und vor allem Deutschland und Frankreich andererseits), ebenso wie die Rolle von Staaten und internationalen Organisationen bei der Reproduktion von Klassenverhältnissen und der Kapitalakkumulation. Auch wird hier die offen imperialistische Dimension der russischen Invasion (im Gegensatz zu ihrer »defensiven« Komponente gegenüber der NATO) außer Acht gelassen. Daraus ergibt sich eine alarmierende Tendenz, Putins konterrevolutionäre Aggression zu rechtfertigen – oder, noch schlimmer, den Kreml als antiimperialistische Speerspitze im Kampf gegen die US-Hegemonie zu verherrlichen.
Hinter Russlands Rhetorik des Realismus und des »Überlebens der Nation« steckt eine reaktionäre Antwort auf die neoliberale Globalisierung und die Erweiterung der NATO. Diese manifestiert sich zum Teil im Handeln einer subimperialen Macht, die die langfristigen Interessen ihrer Oligarchenklasse durch die Konsolidierung des Autoritarismus im eigenen Land zu sichern versucht, aber auch in einer Reihe von Aufständen in ihrer Peripherie (in der Ukraine, aber auch in Armenien, Kirgistan und Belarus) sowie ihrem Bestreben, über annektierte Territorien die exklusive Kontrolle zu behalten. Indem sie die Ideologie »nationaler Interessen« akzeptieren, laufen linke Versuche, die politischen Beschränkungen eines internationalen Systems aufzuzeigen, das von großen kapitalistischen Staaten und ihren Einflusssphären dominiert wird, darauf hinaus, dieses System zu naturalisierten und zu depolitisieren, statt es infrage zu stellen.
Wenn der Realismus kein gutes Verständnis der Ukrainekriegs ermöglicht, so lässt dieser sich ebenso wenig als Rivalität zwischen Imperien im klassisch-marxistischen Sinne verstehen. In ihrer Analyse der Entstehung des globalen Kapitalismus zeigen Leo Panitch und Sam Gindin auf, dass die USA ihre Position als Hegemon nach Ende des Zweiten Weltkriegs dazu nutzten, kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse zu vertiefen und zu erweitern, indem sie eine globale kapitalistische Ordnung schufen, die auf einem »informellen Imperium« statt auf formaler Kolonisierung und territorialer Expansion beruhte.
Dieses Projekt erweiterte die im Kapitalismus vorherrschende formale Trennung zwischen der ökonomischen und der politischen Sphäre über die nationalen Grenzen hinaus und war untrennbar mit der Umstrukturierung der westeuropäischen und japanischen herrschenden Klassen durch den US-Staat und das multinationale Kapital (in der Form von ausländischen Direktinvestitionen, neuen bilateralen Verbindungen, dem Bretton-Woods-System, der NATO und der europäischen Integration) verbunden. Dabei war diese Restrukturierung wichtigen gesellschaftlichen Akteuren innerhalb dieser Staaten durchaus willkommen.
Anstatt an der Krise der 1970er Jahre zu zerbrechen, reformierte sich diese Weltordnung unter US-Ägide entlang neoliberaler Prinzipen, die die alten, keynesianischen ablösten. Während der »langen 90er« (1992–2007) bildete die unipolare Dominanz der USA die Grundlage für eine Vertiefung und Erweiterung der Globalisierung nach Osteuropa. Gleichzeitig integrierten die herrschenden Klassen von neuen Industriestaaten wie China, Indien oder Brasilien ihre Wirtschaftsstrukturen in den globalen Kapitalismus, statt sich von ihm unabhängig zu machen. Der Status der NATO als Regionalallianz, welche das US-amerikanische Bekenntnis zu europäischen »Sicherheit« untermauern sollte, trat gegenüber ihrer globalen Rolle als Träger der US-Hegemonie in den Hintergrund.
Ausgehend vom Zusammenbruch der Finanzmärkte von 2007 und 2008 entfaltete sich eine multidimensionale Krise der neoliberalen Globalisierung, welche eine Vielzahl von Verfallssymptomen ökonomischer, politischer und ökologischer Natur mit sich brachte. Diese Krise wurde verschärft durch die Wahl von Donald Trump, den Brexit und die geopolitischen Spannungen mit Russland und China. Diese Entwicklung erschwert es dem US-amerikanischen Staat zunehmend, seine unipolare Dominanz, das neoliberale Regime des »Freihandels« und die dadurch ermögliche internationale Mobilität des Kapitals aufrechtzuerhalten. Dasselbe gilt für die Beschränkung der imperialistischen Geopolitik auf das Handeln entwickelter kapitalistischer Staaten gegenüber marginalisierten Staaten im Globalen Süden, wofür die katastrophalen »Spezialeinsätze« der Regierung von George W. Bush in Afghanistan und Irak als paradigmatische Beispiele gelten können.
Doch während die gegenwärtigen Regionalkonflikte in der Ukraine und im südchinesischen Meer über alles hinausgehen, was auf dem Höhepunkt der unipolaren Weltordnung vorstellbar war, so sind sie doch weit davon entfernt, leninistischen Thesen zu bestätigen, wonach der Wettstreit entwickelter kapitalistischer Länder, dich sich gegenseitig als globaler Hegemon abzulösen versuchen, primär die heutige Geopolitik bestimmt. Wie der Politiksoziologe Ray Kiely darlegt, war dieses Muster der Rivalitäten, deren Wurzel die ungleiche Entwicklung von Industrie und Kolonialismus bildet, vor allem geprägt durch »einen europäischen Imperialismus, der auf Protektionismus im Inland und monopolistischen Handelsbeziehungen mit dem Ausland basierte und mit einem etablieren und entwickelteren kapitalistischen Imperialismus koexistierte, den Großbritannien ab Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildete. Ersterer war eine Antwort auf letzteren, der – tatsächlich erfolgreiche – Versuch, der Übermacht Großbritanniens etwas entgegenzusetzen.«
Die Dynamik des Ukrainekriegs ist kein Ausdruck einer Wiederkehr der Rivalität um die globale Hegemonie. Stattdessen drücken sich darin spezifische regionale Faktoren aus, die mit dem Status der Ukraine als geografisch und geostrategisch wichtigem, aber exponiertem und innerlich gespaltenem postsowjetischen Staat zu tun haben, der für externe Mächte ein leichtes Angriffsziel brietet, oft aufgrund der Kollaboration lokaler Akteure.
Nachdem sich der russlandfreundliche Präsident Wiktor Janukowytsch 2014 in letzter Minute weigerte, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen und damit die Euromaidan-Revolution auslöste, führte die Abschaffung von Sprachgesetzen zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung durch die neue Regierung zu einem bewaffneten Konflikt mit Rebellen im Donbass, der schnell internationale Bedeutung als geopolitisches Armdrücken zwischen den USA und Russland annahm. Der regierende »neoliberal-nationalistische« Block von Präsident Petro Poroschenko wurde durch Antipathie gegenüber Russland und die ideologische Auffassung des Euromaidan-Aufstands als demokratische Revolution, die angeblich alle Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrer Ablehnung des Autoritarismus vereinte, zusammengeschweißt. Die Mehrheit im Osten des Landes favorisierte zu Anfang eine erweiterte regionale Autonomie innerhalb einer föderalisierten Ukraine, die gegenüber einer ökonomischen Integration mit Russland, etwa durch Projekte wie die Eurasische Wirtschaftsunion, aufgeschlossen bleiben würde.
Nach der relativ gewaltlosen Annektion der mehrheitlich russischsprachigen Krim 2014 hatte es Putin abgelehnt, die »Volksrepubliken« im Donbass ebenfalls Russland einzuverleiben. Stattdessen drängte er deren Vertreter, die Minsker Abkommen zu unterzeichnen, die eine Förderalisierung der Ukraine vorsahen. Die Post-Maidan-Regierung wurde im Gegenzug noch stärker von den USA abhängig, die Sanktionen gegen Russland verhängten, ihrerseits die nationalistische und rechtsextremistische Ablehnung der Misker Abkommen (die als »Kapitulation« verunglimpt wurden) stillschweigend unterstützten, das ukrainische Militär trainierten und aufrüsteten sowie die »Partnerschaft« des Landes mit dem US-Militär und der NATO vertieften.
»Putins Invasion signalisiert vor allem Russlands Fähigkeit, unabhängig von Washington zu agieren, nicht aber die Ambition, die USA als dominante imperiale Macht abzulösen.«
Dieser bewaffnete Patt zwischen lokalen Kräften, die die Intervention sowohl Russlands als auch der USA nach sich zog, ebnete die Bahn dafür, was Susan Watkins von der New Left Review als uneindeutig oszillierende doppelte Kriegsführung Putins gegen die Ukraine und die NATO beschreibt. Zum einen handele ich sich hierbei um »eine gewagtes defensives Manöver gegen den Vormarsch der militärischen Macht der USA«, zu anderen aber auch um einen »neo-imperialistischen Krieg mit dem Ziel der Eroberung oder Teilung« der Ukraine.
Diese »entscheidende Eskalation« reflektierte sowohl den Status der NATO als US-geführte, gegen Russland gerichtete offensive Militärallianz als auch die politische Wiederkehr des großrussischen Nationalismus, der durch die NATO-Erweiterung nach Ende des Kalten Krieges zusätzlich begünstigt wurde. Washington, das von Russland auf keine Weise direkt militärisch bedroht wird, verweigerte den Einsteig in Verhandlungen und »trug hierdurch dazu bei, Russlands defensive Einstellung gegenüber der NATO in eine aggressive, neo-imperialistische Haltung gegenüber der Ukraine zu verwandeln«.
Obwohl Vergleiche zwischen Putin und Hitler inzwischen fester Bestandteil der westlichen Propaganda geworden sind, befindet sich Moskau, wie Gindin unterstreicht, in einer relativ schwachen Position gegenüber den USA und der NATO. Russland bemüht sich um Anerkennung als regionale Großmacht, die mit den USA und der EU in einer »multipolaren« Welt im Wettbewerb steht, ist jedoch nicht in der Lage, die Gesamtstruktur des globalen Kapitalismus unter US-Dominanz zu verändern. Putins Invasion signalisiert deshalb vor allem Russlands Fähigkeit, unabhängig von Washington zu agieren, nicht aber die Ambition, die USA als dominante imperiale Macht abzulösen.
Selbst im Fall Chinas demonstriert Xi Jinpings verhaltene Unterstützung für Puntins Krieg die Auswirkungen der Integration des Landes in den globalen Kapitalismus, die anhält und noch nie so tief reichte wie heute. Trotz der Anzeichen für eine verstärkte Zusammenarbeit beim jüngsten Zusammentreffen zwischen Xi und Putin zeigt der Kontrast zwischen einerseits Chinas rascher Industrialisierung und seiner Abhängigkeit von Absatzmärkten in den USA und andererseits der partiellen Deindustrialisierung des postsowjetischen Russlands und der Wichtigkeit von Energieexporten für die russische Wirtschaft die beschränkten Gemeinsamkeiten der beiden Länder. Diese reichen kaum darüber hinaus, dass beide postkommunistische Staaten mit einem angespannten Verhältnis zum Westen sind.
Da China weder das Interesse daran noch die Fähigkeit dazu aufweist, die zentrale Rolle des US-Dollar auf den globalen Finanzmärkten, des US-Finanzministeriums und der US-Notenbank beim Management der Weltwirtschaft, oder des US-Militärs und der NATO für die Geopolitik fundamental herauszufordern, werden sich die Forderungen der Volksrepublik auch in Zukunft darauf beschränken, Washington zu verantwortungsbewussterem Verhalten als Hegemon aufzufordern und, in Gindins Worten, Chinas »wachsenden Status innerhalb der Hierarchie der kapitalistischen Staaten« anzuerkennen.
Die russische Intervention im Donbass vor 2022 übertraf noch die westliche Unterstützung der Ukraine im selben Zeitraum. Doch Putins anschließende Invasion führte zu einer von den USA angeleiteten Mobilisierung in einem Ausmaß, das für die Vertreterinnen und Vertreter der These, die US-amerikanische Hegemonie befinde sich im Niedergang, zuvor praktisch unvorstellbar war. Trotz ihrer abnehmenden unipolaren Dominanz ergriffen die USA die Gelegenheit des Kriegs, um ihre globale Vormachtstellung zu erneuern und den Aufstieg eines möglichen zukünftigen imperialistischen Rivalen mittels einer zweigliedrigen Strategie in Europa und Asien zu vereiteln.
Einerseits nutzen die USA den akuten bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, um ihre Hegemonie in Europa zu zementieren. Washington geht einer direkten Auseinandersetzung mit Moskau aus dem Weg und kalibriert seine Unterstützung für Kiew in Form von Waffen und ökonomischer Ressourcen stattdessen dahingehend, den ukrainischen Verteidigungskampf in einem langen Patt enden zu lassen. Dies hat zum Ziel, durch eine aktive Balancestrategie »Russland zu schwächen«. Dabei handelt es sich um ein klassisches Manöver der anglo-liberalen Außenpolitik, das auf der Mobilisierung der überragenden ökonomischen, finanziellen und technischen Möglichkeiten des Westens beruht und darauf ausgelegt ist, Russlands Volkswirtschaft langfristig zu untergraben.
»Die USA haben die Dynamik in der Region verschärft, indem sie bei jeder Gelegenheit die unwahrscheinliche Möglichkeit eines ukrainischen Sieges beschworen und bestehende Anreizstrukturen verstärkten, die weitere Kämpfe gegenüber Verhandlungen begünstigen.«
Hierbei soll die Regierung in Kiew insoweit gestützt werden, dass eine »Kapitulation« nach Art der Minsker Abkommen (wie sie der Xi-Putin-Gipfel darstellte) vermieden wird, aber nicht so sehr, dass die NATO in einen direkten Krieg mit Moskau hineingezogen wird. Da dieser Steuerungsmechanismus eher Krieg als Frieden in der Region erfordert, haben die USA die Dynamik in der Region verschärft, indem sie bei jeder Gelegenheit die unwahrscheinliche Möglichkeit eines ukrainischen Sieges beschworen und gleichzeitig bestehende Anreizstrukturen verstärkt haben, die weitere Kämpfe gegenüber Verhandlungen begünstigen (insbesondere bei den Friedensgesprächen in Istanbul).
Welche besonderen Umstände auch immer Putin zur Wahl des Zeitpunkts seiner Invasion mit einer unterdimensionierten Truppenstärke von 190.000 (zu wenig, um Europas flächenmäßig zweitgrößtes Land mit vierzig Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern einzunehmen), jedenfalls hat der anfängliche Erfolg Kiews, den Angriff auf die Zentralukraine abzuwehren, nicht zu einer dauerhaften militärischen Überlegenheit geführt. Dem russischen Militär ist es gelungen, für die Fähigkeiten der ukrainischen Armee kritische Infrastruktur und produktive Ressourcen zu zerstören. Russland mobilisiert weiter Truppen in großer Zahl und verfügt, als Resultat gestiegener Rohstoffpreise, über einen boomenden Exportüberschuss und damit die Fähigkeit, sein Militär neu auszurüsten. Das zeigt auch das Scheitern des westlichen Sanktion, die weder die russische Rüstungsproduktion noch die Anstrengungen zur Importsubstitution seit 2014 stoppen konnten. Als dies deutet darauf hin, dass Russland, so Watkins, eine »tiefe Ressourcenstärke für einen Abnutzungskrieg« aufweist.
Zwar könnte der Krieg Russland langfristig teuer zu stehen kommen und Puntins Regierung potentiell destabilisieren, doch unmittelbar erschwert er eher die Integration der Ukraine in den globalen Kapitalismus unter US-Einfluss. Kiews Abhängigkeit von Militärhilfe, Ressourcen und Kommandostrukturen der USA, um komplexe Manöver ausführen zu können, bedeutet, dass sich seine Kriegsführung an den Annahmen des Pentagon über die Erfolgschancen möglicher Gegenoffensiven orientieren muss.
»Die Schulden der Ukraine bei westlichen Kreditgebern haben die Fähigkeit des Landes, eine staatliche geführte, zentral geplante Kriegswirtschaft aufzubauen, eingeschränkt – und machen den Weg frei für massive Gewinne von Investoren in der Nachkriegswirtschaft.«
Mit seiner zunehmenden militärischen Verflechtung mit der NATO (unabhängig vom formalen Bündnisstatus der Ukraine) wird das Land auch von den US-geführten Managementstrukturen der Weltwirtschaft abhängiger. Seine Schulden bei westlichen Kreditgebern haben die Fähigkeit des Landes, eine staatliche geführte, zentral geplante Kriegswirtschaft aufzubauen, eingeschränkt – und machen potentiell den Weg frei für massive Gewinne von Investoren in der Nachkriegswirtschaft. Die IWF, die Weltbank und die Europäische Investitionsbank nutzen ihre Kredite als Druckmittel, die Privatisierung der Verbliebenen öffentlichen Betriebe und ihren Verkauf an US- und EU-basierte Konzerne durchzusetzen.
Die USA haben nicht nur erreicht, Russland zu schwächen und die Westorientierung der Ukraine zu stärken. Es ist ihnen auch gelungen, strukturelle Brüche innerhalb des westlichen Lagers zu überbrücken, die ihre Gesamtstrategie gefährdet hatten. Vor allem hat die Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, so der Soziologe Wolfgang Streeck, »eine bequeme Gelegenheit, um die unbedingte Loyalität europäischer Staaten gegenüber der NATO, einer in den vergangenen Jahren zunehmend brüchigen Allianz, wiederherzustellen«.
Frankreich und Deutschland sind im Vergleich zu den USA von russischen Energieimporten abhängiger und von den Auswirkungen eines Landkriegs in Europa stärker betroffen und versuchen daher, wenigstens nominell eine gewisse, beschränke Unabhängigkeit von Washington zu unterstreichen und eine Eskalation des Konflikts mit Russland zu vermeiden. Einige der Gründe für diese zunehmende »Brüchigkeit« der transatlantischen Allianz sind also:
1. die mangelnde Fähigkeit oder Willigkeit von vier aufeinanderfolgenden Bundesregierungen unter Angela Merkel, das beim Gipfel von Riga 2006 beschlossene 2-Prozent-Ziel der NATO einzuhalten, allem US-amerikanischen Druck zum Trotz;
2. der gescheiterte Versuch von Merkel und Nicolas Sarkozy, zu verhindern, dass die USA die Ukraine und Georgien nach den »rosa« und »orangen« Revolutionen von 2003 und 2004 sowie dem NATO-Gipfel in Bucharest 2008 formal zum Eintritt in die Allianz einluden;
3. die Umgehung der Ukraine (und Polens) durch die geplanten Nord-Stream-Pipelines zum Transport russischen Erdgas nach Deutschland und Westeuropa (die von Washington als Hindernis für den Ausbau des Flüssiggasexports aus den USA und als strategische Waffe Moskaus zur Spaltung der NATO wahrgenommen wurden); und
4. der Ausschluss der USA bei den Misker Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine (die unter anderem von damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier ausgehandelt wurden).
Die Erneuerung des imperialen Führungsanspruchs der USA in diesen Bereichen vollzog sich auf schnelle und dramatische Weise. Nach dem 24. Februar 2022 erklärte Olaf Scholz rasch die Zeitenwende: Nord Stream 2 ging nicht in Betrieb, das NATO-Ziel sollte erfüllt werden, eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO war nicht mehr ausgeschlossen, eine Bewaffnung Kiews wurde gegenüber einer Verhandlungsoption bevorzugt. Eine Bühne für diese erneuerte Untergebenheit gegenüber den USA bieten die Zusammenkünfte der Verteidigungsminister von vierzig Staaten bei den Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein. Dass dieser Ort – formell Hoheitsgebiet der USA – dem nominell multinationalen NATO-Hauptquartier in Brüssel vorgezogen wurde, spricht bereits Bände.
»Die EU wird gegenwärtig zu einem ›geo-öknomischen Werkzeug der NATO, also der USA‹ reduziert und das Washington näher stehende Post-Brexit-Großbritannien wieder stärker in europäische Angelegenheiten involviert.«
Auch erhält die US-Hegemonie Auftrieb durch die wachsende geopolitische Bedeutung der mittel- und osteuropäischen Staaten und der Fähigkeit des »antirussischen, daher proamerikanischen Flügels in der EU unter der Führung von Polen«, so Streeck, Druck auf Frankreich in Deutschland auszuüben. Streeck schließt daraus, dass der Krieg »den Schwerpunkt Europas sowohl nach Osten, dadurch aber zugleich auch nach Westen, in Richtung der USA verschoben« habe. Darüber hinaus haben zwei nordische Länder, in denen es zuvor keine Mehrheit für einen NATO-Beitritt gab – Finnland und Schweden – ihren Kurs geändert und werden sich der Allianz anschließen, deren Positionierung entlang der russischen Grenzen und in der Ostsee dadurch deutlich gestärkt wird.
Die EU wird gegenwärtig zu einem »geo-öknomischen Werkzeug der NATO, also der USA« reduziert und das Washington näher stehende Post-Brexit-Großbritannien wieder stärker in europäische Angelegenheiten involviert. Das verleitet europäische Regierungen dazu, das blutige Chaos von »Spezialeinsätzen« unter US-Führung in Afghanistan, Irak und anderswo herunterzuspielen, ebenso wie die beispiellose Aufrüstung im »Krieg gegen den Terror« und die Tatsache, dass Washington die verbliebenen Rüstungskontrollabkommen, die es mit der Sowjetunion und später Russland geschlossen hatte, unilateral aufkündigte.
Der politische Mainstream in Europa ist ebenso zu der Ansicht gelangt, dass Europas Führungen den Krieg ermöglicht haben, indem sie Handel mit Russland förderten und gegenüber Putin eine Politik des Appeasement verfolgten – eine Fehlentscheidung, die sich offenbar nur durch eine vollständige Abkehr von Russland bei gleichzeitigen Waffenlieferungen in die Ukraine korrigieren lässt. Wie Ischtschenko bemerkt, dient die Vorstellung von Ukrainerinnen und Ukrainern die »für etwas kämpfen und sterben, woran zu viele im Westen nicht mehr glauben« westlichen Regierungen routinemäßig dazu, ihre nachlassende interne Legitimität angesichts multipler Krisen wiederherzustellen.
Indem es jegliche Möglichkeit einer Synergie zwischen Russlands »defensiver« Strategie gegenüber der NATO-Erweiterung und den Interessen Europas ausschließt, hat der wiederbelebte Atlantizismus auch jegliche Hoffnung auf eine strategische Autonomie Europas zunichte gemacht. Diese wurden am lautesten von französischen Regierungen eingefordert und hatte sich nach 2008, der Wahl von Trump und dem Brexit unter den herrschenden Klassen in Europa zunehmender Popularität erfreut. Ohne wirkliche Aussicht auf eine Entkopplung von der strukturellen Macht der USA fällt Europa nun die unangenehme Aufgabe zu, Sanktionen gegen Russland mitzutragen, ohne auf mögliche Gegenreaktionen und die Auswirkungen auf eine gemeinsame Energiepolitik in der EU achten zu können, und dies bei einem sehr unterschiedlichen Grad der Abhängigkeit von russischen Energieimporten.
Trotz der unablässigen Rhetorik von einem »nachhaltigen Kapitalismus« haben europäische Staaten vor allem russisches Erdgas durch Flüssiggas aus den USA ersetzt. Waffenlieferungen an die Ukraine waren derweil ein hervorragendes Geschäft für Lockheed Martin und andere US-amerikanische Rüstungskonzerne, deren europäische Konkurrenz sich ebenfalls über volle Auftragsbücher freuen kann – vor allem in Deutschland.
»Taiwan soll nach Plänen der USA zu einer bewaffneten Festung gegen den chinesischen ›Expansionsdrang‹ aufgerüstet werden.«
Die USA nutzten Putins Angriff auf die Ukraine nicht nur, um Europas regionale Sicherheitsarchitektur dem eigenen Hegemonieprojekt aufs Neue unterzuordnen, der militärisch unentschiedene Konflikt, der durch die Unterstützung Kiews zustande kam, erlaubt ihnen auch eine größere Flexibilität bei der strategischen Einhegung Chinas. Die neuen geopolitischen Spannungen in der Region haben Barack Obamas Konzept einer »Wende nach Asien« zu neuem Leben erweckt. Washington versucht nun, seine euroatlantische und indopazifische Strategie durch ein Bündnis »gleichgesinnter Partner« – darunter Japan, Südkorea und Australien – in einem neuen kalten Krieg gegen China in Einklang zu bringen. Hiervon zeugt auch das 2022 beschlossene neue Strategiekonzept der NATO.
Japan folgte dem deutschen Beispiel mit der Ankündigung, seinen Militärhaushalt über die nächsten fünf Jahre fast zu verdoppeln (der damit zum drittgrößten der Welt wird) – unter anderem durch den Kauf von vierhundert Tomahawk-Marschflugkörpern, die das chinesische Festland erreichen können. Australien plant derweil den Kauf und die Entwicklung von nuklear angetriebenen U-Booten im Rahmen seiner trilateralen Sicherheitspartnerschaft mit den USA und Großbritannien (AUKUS). Teil dieser Partnerschaft ist auch die turnusgemäße Entsendung von US-Atom-U-Booten auf Ausbildungsmissionen, die China wenig überraschend als Provokation auffasst.
Darüber hinaus ist das Indopazifische Kommando der USA – das derzeit eine Truppenstärke von 375.000, inklusive ziviler Kräfte, aufweist – im Begriff, sich auf den Philippinen neu zu etablieren. Unter anderem verschaffte es sich Zugriff auf weitere Militärbasen, diversifizierte die Präsenz der Luftwaffe durch eine Verlegung aus großen, zentralen Basen und führte gemeinsame Übungen in der Philippinensee durch. Die offizielle Rechtfertigung hierfür ist Abschreckung gegenüber China, die einen Angriff auf Taiwan verhindern soll, das nach Plänen der USA zu einer bewaffneten Festung gegen den chinesischen »Expansionsdrang« aufgerüstet werden soll.
Beim Krieg in der Ukraine handelt es sich weniger um einen nationalen Befreiungskampf von Unterdrückten gegen ihren Unterdrücker oder um eine imperiale Rivalität zwischen entwickelten kapitalistischen Mächte als vielmehr um den Ausdruck einer regionalen Dynamik. Die Ursachen des Krieges liegen in der besonderen Situation, die sich aus dem Zerfall der Sowjetunion und der Entstehung einer Reihe heterogener Staaten mit großen russischsprachigen Minderheiten ergab.
Als die multidimensionale Krise des globalen Kapitalismus unter US-Führung nach 2008 im postsowjetischen Raum immer schärfere und tragischere Formen annahm, führte die zunehmende Militarisierung und Internationalisierung des gesellschaftlichen Konflikts in der Ukraine schließlich zur russischen Invasion. Dieser Angriff hat nun einen ukrainischen Verteidigungskrieg zur Folge, der sich als Teil einer breiter angelegten US-Strategie zur Sicherung seiner globalen Hegemonie angesichts realer, aber beschränkter Herausforderungen für die eigene unipolare Dominanz vom Ziel einer Verhandlungslösung entfernt.
Ein brutaler Abnutzungskrieg, in dem oligarchisch dominierte Kapitalfraktionen gemeinsam mit rechtsextremen Kräften und Imperialmächten um die Vorherrschaft kämpfen, stellt den denkbar schlechtesten Pfad zur Lösung dieser Krise dar, die sich aus der instabilen postsowjetischen Dynamik ergibt. Wenn die sozialistische Linke ihr politisches Projekt unter den gegenwärtigen Umständen voranbringen will, muss ihr Ausgangspunkt der Aufbau einer starken, unabhängigen und geopolitisch ungebundenen Antikriegsbewegung sein, die eine Massenunterstützung für Demokratie, Diplomatie, Deeskaltion und Abrüstung auf beiden Seiten organisieren kann.
»Eine Antikriegsbewegung sollte eine alternative Vision der Dekolonisierung hochhalten, die eine gerechte sozioökonomische Entwicklung fordert, statt ressentimentgeladene kulturelle Ausschlüsse zu propagieren.«
Die Selbstverteidigung der Ukraine zu unterstützen ist notwendige Bedingung für effektive Verhandlungen, um den Krieg zu beenden. Trotzdem muss eine solche Antikriegsbewegung die Ideologie eines »nationalen Befreiungskampfs« ablehnen, die von den Verfechtern antirussischer und westlicher Identitätspolitik verbreitet wird. Stattdessen sollte sie eine alternative Vision der Dekolonisierung hochhalten, die sich auf eine unabhängige sozialistische Politik im Sinne der arbeitenden Bevölkerung beruft und eine gerechte sozioökonomische Entwicklung fordert, statt ressentimentgeladene kulturelle Ausschlüsse zu propagieren. Diese würde die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht nur als Kämpferinnen und Kämpfer gegen Russland, sondern vor allem als Menschen wertschätzen und die sozialistische Vergangenheit des Landes als etwas anderes als eine rein externe koloniale Bürde auffassen.
Andererseits muss sich diese Bewegung auch mit der anhaltenden Dominanz und integrativen Kapazität des US-amerikanischen Staates und Kapitals auseinandersetzen. Neben den negativen Auswirkungen von Sanktionen und Militärausgaben auf die Lebensstandards und den Kampf gegen den Klimawandel muss sie auch die destruktive Führungsrolle der USA und der NATO benennen, die auf der ganzen Welt durch Waffenexporte, nukleare Proliferation und direkte sowie indirekte militärische Interventionen imperialistische Gewalt ausüben. Washingtons Strategie zur Rekonstituierung seines informellen Imperiums setzt auf Krieg statt auf Frieden. Die Friedensbewegung muss stattdessen aufzeigen, dass den Interessen der ukrainischen (und russischen) Arbeiterklasse eher dadurch gedient ist, den Konflikt zu deeskalieren und eine Verhandlungslösung für die in im Zerfall der Sowjetunion begründeten Krisen anzustreben.
Sollte es der Linken nicht gelingen, diese kämpferische Antikriegsbewegung gegen ein hochgradig militarisiertes US-Imperium zu versammeln, droht sie zum Anhang der NATO zu werden, während zugleich die Ukraine zerstört wird. Indem sie die ideologische Linie der Imperialmacht USA wiederholen, überhöhen reduktionistische Positionen Kiews »Befreiungskampf« und ignorieren andere wichtige Konfliktachsen, wodurch die Eskalationsdynamik insgesamt verstärkt statt abgeschwächt und neoliberale und neokonservative kriegstreiberische Positionen der eigenen herrschenden Klasse gefestigt werden. Hierdurch wird auch Kiews wachsende Abhängigkeit von der Macht der USA verdeckt und die Rolle des Westens bei der Unterstützung rechtsextremer, autoritärer und diktatorischer Regime (darunter Saudi-Arabien, die Türkei, Katar und Israel) verschleiert.
Noch ist nicht alles verloren, doch der Schaden, der bereits angerichtet wurde, ist immens. Nicht zuletzt öffnet dies der extremen Rechten die Tür, wenn diese sich als die führende Kraft gegen den Tod und die Zerstörung positionieren kann, die uns die führenden Institutionen des globalen Kapitalismus gebracht haben.
Kyle Bailey ist Doktorand an der Fakultät für Politikwissenchaft der York University in Toronto. Er hat zuletzt im Socialist Register und im Journal of Australian Political Economy veröffentlicht.