04. Februar 2021
»Shareholder aller Länder, vereinigt euch«, lautete der Schlachtruf der Reddit-Trader. Das Finanzkapital bringt man so nicht zu Fall. Denn Shareholder sind die stillen Partner einer Allianz gegen Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit.
Die Redditors mögen einigen Hedgefonds geschadet haben. Den Arbeitenden bei GameStop nützt das wenig.
Im Jahr 1976 veröffentlichte der Ökonom Peter Drucker The Unseen Revolution: How Pension Fund Socialism Came to America. Das Buch beginnt mit einem Satz, der damals für Verblüffung gesorgt haben muss, heute aber einen etwas amüsanten Beiklang hat: »Wenn sich der Sozialismus über das ›Eigentum der Arbeiter an den Produktionsmitteln‹ definiert, dann sind die USA das erste wirklich ›sozialistische‹ Land.«
Der Pensionsfonds-Sozialismus basiert auf der überaus angenehmen Vorstellung, sozialer Wandel könne sich langsam, schrittweise und ohne große, offene Konflikte vollziehen. Anstatt in ihren Fabriken gegen ihre Bosse zu kämpfen – oder gegen den kapitalistischen Staat, dessen Funktion es ist, die Herrschaft des Kapitals auf der Straße zu verteidigen –, könnten die Arbeiterinnen und Arbeiter die Macht ihres Eigentums nutzen, um Druck auf Unternehmen auszuüben und sie zu einem verantwortungsvolleren Handeln zu bewegen.
Denn zusammen genommen, hat dieses Eigentum wirklich beachtliche Ausmaße. In Großbritannien beläuft sich das Vermögen der privaten Pensionsfonds laut einer Erhebung des Office for National Statistics auf 6,1 Billionen Pfund – das sind 42 Prozent des Gesamtvermögens und weit mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung Großbritanniens. Ein erheblicher Teil dieses Vermögens ist auf die eine oder andere Weise in den Aktienmarkt investiert. Theoretisch könnten die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Macht als Shareholder nutzen, um Unternehmen zu zwingen, die Löhne zu erhöhen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren.
Doch Druckers »unsichtbare Revolution« ist leider nie in eine Bewegung gemündet, die eine ernsthafte Bedrohung für den Kapitalismus hätte darstellen können. Das liegt einerseits daran, dass es extrem kostspielig wäre, alle Menschen mit privatem Rentenvermögen in kollektive Verhandlungen einzubeziehen.
Vor allem aber ist es der Tatsache geschuldet, dass das Rentenvermögen sehr ungleich verteilt ist. Die Wohlhabenden haben viel, die Mittelschicht hat ein wenig, und die meisten haben fast nichts davon. Mit anderen Worten: »Menschen mit Rentenvermögen« sind keine Klasse – sie haben keine gemeinsamen Interessen, die sie in einem Kampf für soziale Veränderung zusammenbringen könnten.
Auftritt Reddit: Bewaffnet mit dem Geld, das im Rahmen der aufeinanderfolgenden Covid-19-Konjunkturprogramme verteilt wurde, schlossen sich in den vergangenen Monaten Millionen einfacher Leuter zusammen, um Hedgefonds in den Bankrott zu treiben, die eine Reihe von Aktien leerverkauft hatten – darunter der Videospiel-Einzelhändler GameStop.
Um das Geschehen kurz zusammenzufassen: Ein paar Nutzer des Reddit-Forums »WallStreetBets« bemerkten, dass einige Hedgefonds erhebliche Short-Positionen unter anderem in GameStop-Aktien hielten, also große Wetten darauf abgeschlossen hatten, dass die Preise dieser Aktien fallen würden.
Diese Positionen waren besonders riskant. Denn die Fonds würden die Differenz zwischen dem Preis, den die Aktie besaß, als sie die Wette abschlossen, und dem Preis, den sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft haben wird, ausgleichen müssen – und während der Preis einer Aktie nur um einen bestimmten Betrag sinken kann (bis er den Nullpunkt erreicht), kann er prinzipiell unendlich steigen, wodurch der Fonds potenziell unbegrenzte Verluste erleiden könnte.
Die Redditors erkannten, dass sie den Hedgefonds einen Strich durch die Rechnung machen konnten, wenn sie sich zusammentun und einen »Short Squeeze« herbeiführen, der den Preis von Aktien wie GameStop in die Höhe treibt und die Leerverkäufer dazu zwingt, die Differenz zu decken.
Unter gewöhnlichen Umständen wäre diese Strategie wahrscheinlich nicht aufgegangen: Kleinanleger sind in der Regel nicht finanzstark und koordiniert genug, um einen signifikanten Einfluss auf die Preise zu haben. Aber wir leben nicht in gewöhnlichen Zeiten.
Erstens ist es unmöglich, zu sagen, wie hoch der tatsächliche »Wert« einer Aktie ist, da ein Jahrzehnt der Ankaufsprogramme von Zentralbanken die Aktienkurse in die Höhe getrieben hat. Fast alle US-Aktien sind gewissermaßen überbewertet. Aber wenn sie alle überbewertet sind, dann ist keine von ihnen überbewertet.
Zweitens leben wir in einer äußerst unsicheren Zeit, die sich durch erhebliche Schwankungen an den Finanzmärkten auszeichnet. Im Grunde werden heutzutage alle Wetten abgeschlossen, ohne dass jemand wirklich versteht, was gerade geschieht, oder mit Gewissheit sagen kann, was morgen geschehen wird. Was als »sicher« und was als »riskant« gilt, wird durch diese Bedingungen stark verzerrt.
Drittens werden die USA – die als führende Imperialmacht die Weltreservewährung drucken kann – vom Kapital als sicherer Hafen in einer Welt voller Ungewissheiten angesehen. (Die Kehrseite davon ist eine massive Kapitalflucht aus den ärmsten Ländern der Welt, die in einigen Fällen zu großen Schuldenproblemen geführt hat.)
Und schließlich gibt es jetzt Millionen von Kleinanlegern, die dank der Corona-Konjunkturpakete und der zusätzlichen Ersparnisse, die viele Bessergestellte im Laufe der Pandemie anhäufen konnten, über zusätzliches Geld verfügen.
Das Zusammenspiel dieser Faktoren schafft die perfekten Voraussetzungen für Finanzblasen – seien es viele kleine oder eine große. Unter diesen Bedingungen hat ein koordinierter Short-Squeeze durch eine ausreichend große Gruppe kleiner Trader mit genügend Geldmitteln das Potenzial, erheblichen Einfluss auf den Markt auszuüben. Und so kam es dann auch – die Redditors hätten beinahe einen großen Hedgefonds in den Ruin getrieben.
Auf den ersten Blick könnte sich die Redditor-Revolution nicht stärker von Druckers Pensionsfonds-Revolution unterscheiden: Die Redditors investieren direkt ihr eigenes Geld, sie sind koordiniert darauf aus, so viel Chaos wie möglich auf den Finanzmärkten anzurichten – ihr Ziel ist keineswegs, Unternehmen sanft zu mehr sozialer Verantwortung zu bewegen.
Aber in Wirklichkeit beruhen beide Ansätze auf der gleichen irrtümlichen Logik: nämlich dass Arbeiterinnen und Arbeiter als solche keine Macht aufbauen könnten, und stattdessen versuchen sollten, als Eigentümerinnen und Eigentümer Einfluss auszuüben.
Um zu verstehen, warum diese Art von »Organizing« niemals eine Bedrohung für die Finanzmärkte darstellen wird – geschweige denn für den Kapitalismus als Ganzes – sollten wir uns über die Ziele von Organisierung klar werden. Im Kern sollte sie versuchen, erstens die Kapitalakkumulation zu stören, zweitens einen zentralen sozialen Antagonismus hervorzuheben und drittens den Menschen ein Gefühl für ihre eigene Macht und Handlungsfähigkeit zu geben.
Was den ersten Punkt angeht, so haben die Redditors die Kapitalakkumulation nicht gestört – sie haben sie gefördert. Sicher, sie sind dabei auch gegen die Hedgefonds vorgegangen und haben damit den Reichtum einiger Rentiers reduziert, die ihr Geld damit verdienen, gegen andere Kapitalistinnen und Kapitalisten zu wetten.
Aber sie taten dies, indem sie den Aktienkurs eines anderen Unternehmens erhöht haben. Damit haben sie den Reichtum seiner Shareholder (darunter offenbar auch einige große Finanzinstitutionen) gesteigert und die Eigentümerinnen und Manager dieses Unternehmens gestärkt – sowohl im Verhältnis zu anderen Unternehmen als auch im Verhältnis zu den Arbeiterinnen und Arbeitern an jedem Punkt entlang der Lieferketten.
Was den zweiten Punkt betrifft, so hat es die Aktion versäumt, einen zentralen Antagonismus innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen in den Fokus zu rücken. Der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital wurde nicht thematisiert – und ebenso auch die Spaltung der Gesellschaft in Menschen mit Eigentum und Menschen ohne Eigentum, die diesen Gegensatz unter den Bedingungen der Finanzialisierung um eine weitere Dimension erweitert hat.
Politikerinnen und Politiker wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan haben die Menschen nicht ohne Grund derart dazu ermutigt, Aktien zu kaufen und in private Rententöpfe einzuzahlen: Sie wollten eine Klasse von »Mini-Kapitalisten« schaffen, um den fundamentalen Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital zu verschleiern.
Je mehr Menschen aus der Mittelschicht in Aktien investieren, desto leichter können die Reichen alle davon überzeugen, dass es in ihrem Interesse ist, wenn die Vermögenspreise immer weiter steigen.
Alle, so das Argument, können Eigentümerinnen und Eigentümer werden, wenn sie nur genug sparen. Das ist natürlich eine Lüge: Viele Menschen, auch in den reichen Teilen der Welt, sind in einem Teufelskreis aus Niedriglöhnen und Schulden gefangen, aus dem sie sich vielleicht nie werden befreien können. Und ein erheblicher Teil der Gewinne, die über die Börsen im Globalen Norden ausgeschüttet werden, wurde durch die extreme Ausbeutung verarmter Arbeiterinnen und Arbeiter im Globalen Süden erzielt.
Im Bezug auf den dritten Punkt war die GameStop-Saga tatsächlich ein kleiner Erfolg: Die Redditors haben die Macht kollektiven Handelns erkannt. In einer Welt, die den meisten Menschen beibringt, dass sie keine Möglichkeit haben, irgendetwas zu verändern, ist das keine geringe Leistung.
Auch hat das schnelle Eingreifen der Torwächter des Finanzkapitalismus, mit dem sie unter anderem den Handel mit GameStop-Aktien unterbanden, einer großen Zahl von Menschen bewusst gemacht, wie das System im Interesse der großen Player manipuliert wird. Ein »Mini-Kapitalist« ist in Wirklichkeit gar kein Kapitalist, sondern nur der stiller Partner einer Allianz gegen Arbeiterinnen und Arbeiter auf der ganzen Welt.
Wenn irgendetwas Gutes von dieser Geschichte bleibt (abgesehen von einigen lustigen Memes), dann vielleicht, dass die Redditors ihr neu gewonnenes kollektives Bewusstsein – so begrenzt es auch sein mag – in Zukunft an ihren Arbeitsplätzen, an der Wahlkabine und auf der Straße einsetzen könnten.
Grace Blakeley ist Ökonomin, Journalistin und demokratische Sozialistin. Ihre Texte erschienen unter anderem bei »Tribune«, »Jacobin«, »The Guardian« und im »New Statesman«. Darüber hinaus betreibt sie den Podcast »A World to Win«. 2019 veröffentlichte sie ihr erstes Buch »Stolen: How to Save the World from Financialisation« (Repeater Books), 2020 folgte »The Corona Crash: How the Pandemic Will Change Capitalism« (Verso). »Stolen« erscheint 2021 auf Deutsch im Brumaire Verlag.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.