04. August 2022
Der Kommunismus des 20. Jahrhunderts war vieles: Revolution und Regime, Kampf gegen den Kolonialismus und eine alternative Form von Sozialdemokratie. Wenn wir über ihn hinauskommen wollen, müssen wir ihn in allen seinen Facetten begreifen.
Sowjetisches Arbeiterdenkmal in Russland
Das Erbe der Oktoberrevolution ist zwischen zwei gegensätzlichen Interpretationen hin- und hergerissen. Den einen erschien der Aufstieg der Bolschewiki als Verkündung einer globalen sozialistischen Transformation, den anderen als Wegbereiter für ein Zeitalter des Totalitarismus. Die radikalsten Varianten dieser verfeindeten Deutungen – der offizielle Kommunismus und der Antikommunismus des Kalten Krieges – fließen hier ineinander, denn die Kommunistische Partei erschien beiden Seiten als Weltenbauer der Geschichte.
Jahrzehnte nach dem Schwinden ihrer Kräfte, muss die kommunistische Erfahrung weder verteidigt noch idealisiert oder dämonisiert werden. Stattdessen müssen wir sie mit kritischem Blick als dialektische Totalität verstehen, die von inneren Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnet ist und vielfältige Dimensionen in einem gewaltigen Spektrum von Schattierungen aufweist. Diese reichen von messianischem Tatendrang zu totalitärer Gewalt, von partizipativer Demokratie und kollektiver Entscheidungsfindung zu blinder Unterdrückung und Massenvernichtung, von der utopischsten Vorstellungskraft zur bürokratischsten Herrschaft. Dabei schwankte man mitunter in kürzester Zeit von einem Pol zum anderen.
Wie viele »Ismen« unseres politischen und philosophischen Lexikons ist der Begriff des Kommunismus mehrdeutig und widersprüchlich. Diese Ambiguität entspringt nicht ausschließlich der Diskrepanz zwischen der kommunistischen Idee und ihrer historischen Realität, sondern auch der extremen Vielfältigkeit, mit der diese Idee ihren Ausdruck fand. Nicht nur waren der russische, der chinesische und der italienische Kommunismus verschieden. Die kommunistischen Bewegungen selbst durchliefen tiefgreifende Veränderungen, selbst wenn ihre Anführer und ideologischen Referenzpunkte gleich blieben.
Wenn man die historische Laufbahn des Kommunismus als globales Ereignis betrachtet, erscheint er als Mosaik von Kommunismen. Wer seine »Anatomie« nachzeichnet, kann mindestens vier grundlegende Formen ausmachen, die jeweils miteinander verbunden sind und sich nicht notwendigerweise feindlich gegenüberstehen. Sie sind jedoch verschieden genug, um für sich selbst ernst genommen zu werden: Der Kommunismus als Revolution, der Kommunismus als Regime, der Kommunismus als Antikolonialismus und der Kommunismus als Variante der Sozialdemokratie.
Wir müssen uns an die Stimmung der Russischen Revolution erinnern, denn sie erschuf ein ikonisches Bild, das die Tragödien der Sowjetunion überlebte und das gesamte 20. Jahrhundert überschattete. Ihre Aura zog Millionen von Menschen aus der ganzen Welt an und verlor ihre Strahlkraft selbst dann nicht , als die die Aura der kommunistischen Regimes bereits zu ermatten begann. In den 1960er und 1970er Jahren befeuerte sie eine neue Welle politischer Radikalisierung, die nicht nur die eigene Autonomie gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten einforderte, sondern diese sogar als Feinde betrachtete.
Die Russische Revolution ging aus dem Ersten Weltkrieg hervor. Sie war ein Produkt des Zusammenbruchs des »langen 19. Jahrhunderts« und die symbiotische Beziehung zwischen Krieg und Revolution bestimmte die gesamte Entwicklung des Kommunismus des 20. Jahrhunderts. Schon die Pariser Kommune war aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 entstanden und damit ein Vorläufer militarisierter Politik gewesen, wie viele bolschewistische Denker betonten. Die Oktoberrevolution verstärkte diesen Zusammenhang jedoch in einem unvergleichbaren Maßstab.
Der Erste Weltkrieg veränderte den Bolschewismus: Verschiedene kanonische Werke der kommunistischen Tradition, wie Lenins Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky (1918) oder Leo Trotzkis Terrorismus und Kommunismus (1920), wären vor 1914 schlicht undenkbar gewesen. So wie das Jahr 1789 einen neuen Begriff der Revolution entwarf – einer der nicht mehr die Bewegung der Gestirne, sondern einen sozialen und politischen Bruch definiert – deutete der Oktober 1917 diesen Begriff im militärischen Sinne um: als Krise der alten Ordnung, Massenmobilisierung, Machtdualismus, bewaffneter Aufstand, proletarische Diktatur und gewaltsames Aufeinanderprallen mit der Konterrevolution.
Lenins Staat und Revolution formalisierte den Bolschewismus sowohl als Ideologie (also als Interpretation der Ideen von Karl Marx) wie auch als Einheit strategischer Grundsätze, die sich vom sozialdemokratischen Reformismus unterschied, der seinerseits zur abgeschlagenen Ära des klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gehörte. Der Bolschewismus entsprang einer Epoche zunehmender Brutalisierung, als der Krieg in die Politik hereinbrach und ihre Sprache und Handlungsweisen veränderte. Er war ein Produkt der anthropologischen Transformation, die für den alten Kontinent zum Ende des Großen Krieges typisch war.
Der genetische Code des Bolschewismus offenbarte sich überall, in den Texten, der Sprache und der Ikonografie, ebenso wie in Liedern, Symbolen und Ritualen. Er überdauerte den Zweiten Weltkrieg und spornte die rebellischen Bewegungen der 1970er Jahre an, deren Losungen und Liturgien die Idee einer gewaltsamen Konfrontation mit dem Staat obsessiv betonten. Der Bolschewismus schuf ein militärisches Paradigma der Revolution, welche die kommunistische Erfahrung im globalen Maßstab auf tiefgreifende Weise prägte.
Die europäische Résistance reproduzierte die symbiotische Beziehung zwischen Krieg und Revolution ebenso wie die sozialistischen Transformationen in China, Korea, Vietnam und Kuba. Die internationale kommunistische Bewegung war von der Vorstellung einer revolutionären Armee mit Millionen von Kämpfern geprägt. Dies wirkte sich unvermeidlich auf Organisation, Autoritarismus, Disziplin, Arbeitsteilung und nicht zuletzt auch auf die Geschlechterhierarchien aus. In einer Bewegung von Kriegern konnten Anführerinnen nur die Ausnahme sein.
Die Bolschewiki waren davon überzeugt, im Sinne der »historischen Gesetzmäßigkeiten« zu handeln. Das Erdbeben von 1917 wurde im Zusammenspiel vieler Faktoren entfesselt. Einige waren mit der Longue durée der russischen Geschichte verbunden, andere waren kurzfristiger. Der Krieg synchronisierte all diese Faktoren schlagartig: Eine äußerst brutale Erhebung der Bauern gegen den Landadel, eine Revolte des städtischen Proletariats und schließlich die Zerrüttung einer Armee aus erschöpften Bauern, für die sich der schreckliche Krieg auch nach drei Jahren keinem wahrnehmbaren Ende zu nähern schien.
Wenn das die Voraussetzungen der Russischen Revolution waren, kann man sie nur schwer als historische Notwendigkeit begreifen. Das sowjetische Experiment war in den ersten fünf Jahren seiner Existenz zerbrechlich, prekär und instabil. Es wurde zu jedem Zeitpunkt bedroht und sein Überleben machte unerschöpfliches Durchhaltevermögen und gewaltige Opfer notwendig. Victor Serge, ein Zeitzeuge jener Jahre, schrieb 1919, dass die Bolschewiki den Zusammenbruch des sowjetischen Regimes als wahrscheinlich erachteten. Doch statt sie zu entmutigen, entfesselte dieses Bewusstsein nur ihre Beharrlichkeit, denn der Sieg der Konterrevolution hätte ein ungeheuerliches Blutbad bedeutet.
Die Widerstandsfähigkeit der Bolschewiki ist womöglich nur vor dem Hintergrund zu verstehen, dass sie unerschütterlich daran glaubten, im Sinne der »historischen Gesetzmäßigkeiten« zu handeln. In Wirklichkeit folgten sie jedoch keinem Gang der Natur, sie schufen eine neue Welt. Inspiriert von einer mächtigen utopischen Vorstellungskraft, konnten sie sich des Ausgangs ihrer Anstrengungen nicht gewiss sein. Das totalitäre Resultat ihrer Bemühungen war damals noch nicht vorstellbar.
Obwohl sich die Bolschewiki üblicherweise dem positivistischen Vokabular »historischer Gesetzmäßigkeiten« bedienten, hatten sie ihre militärische Vorstellung von der Revolution aus dem Großen Krieg geerbt. Die russischen Revolutionäre lasen Clausewitz und setzten sich mit den endlosen Kontroversen um das Vermächtnis des Blanquismus und der Kunst der Revolution auseinander. Die Gewalt der Revolution entsprang jedoch keinem ideologischen Impuls. Sie hatte ihren Ursprung in einer Gesellschaft, die von der Brutalität des Krieges gezeichnet war.
Dieses genetische Trauma hatte weitreichende Konsequenzen. Der Krieg hatte die Spielregeln der Politik verändert und ungekannte Formen des Autoritarismus hervorgebracht. Im Jahre 1917 herrschten noch Chaos und Spontaneität in der bolschewistischen Massenpartei, die mehrheitlich aus neuen Mitgliedern bestand und von einer Gruppe Exilanten geführt wurde. Der Autoritarismus konsolidierte sich allerdings schnell, als der Bürgerkrieg begann. Lenin und Trotzki beanspruchten das Vermächtnis der Pariser Kommune von 1871, aber Julius Martow lag richtig, als er den jakobinischen Terror der Jahre 1793– 1794 als ihren tatsächlichen Vorläufer ausmachte.
Das militärische Paradigma der Revolution sollte allerdings nicht mit einem Kult der Gewalt verwechselt werden. In seiner Geschichte der Russischen Revolution hat Trotzki solide Argumente gegen die weitverbreitete These eines bolschewistischen »Coups« vorgebracht. Er lehnte die idyllische Vision der Eroberung des Winterpalais als spontane Volkserhebung ab und widmete sich ausführlich der methodischen Vorbereitung eines Aufstandes. Dieser bedurfte nicht nur einer rigorosen und effizienten Militärorganisation. Auch die politischen Bedingungen mussten ausführlich analysiert und der Zeitpunkt seiner Ausführung sorgfältig geplant sein.
Im Ergebnis erfolgte die Absetzung der Übergangsregierung und die Festnahme ihrer Mitglieder praktisch ohne Blutvergießen. Die Zersetzung des alten Staatsapparats und der Aufbau eines neuen war hingegen ein schmerzhafter Prozess, der sich über einen mehr als drei Jahre anhaltenden Bürgerkrieg erstreckte. Selbstverständlich musste der Aufstand technisch vorbereitet und von einer Minderheit durchgeführt werden. Er ist deswegen aber nicht mit einer »Verschwörung« gleichzusetzen. Entgegen weit verbreiteter Ansichten, etwa von Curzio Malaparte, schrieb Trotzki, der siegreiche Aufstand sei »durch einen Abgrund getrennt von der Umwälzung durch Verschwörer, die hinter dem Rücken der Massen handeln«.
Zweifellos waren der Sturm auf das Winterpalais und die Absetzung der Übergangsregierung ein entscheidender Wendepunkt im revolutionären Prozess: Lenin nannte dies einen Aufstand oder einen Umsturz (Pereworot). Die meisten Historiker erkennen jedoch an, dass sich diese Wendung in einer Periode von außergewöhnlichem Überschwang vollzog, die von einer permanenten gesellschaftlichen Mobilisierung charakterisiert war. Ihr paradoxer Kontext war ein russischer Staat, der sich zwar weiterhin an einem Weltkrieg beteiligte, sein Monopol auf die Ausübung legitimer Gewalt jedoch bereits verloren hatte.
Paradoxerweise, überschneiden sich konservative und anarchistische Kritiken der Oktoberrevolution in der These des bolschewistischen »Coups«. Ihre Beweggründe waren sicherlich verschieden, um nicht zu sagen entgegengesetzt, doch sie kamen zum selben Schluss: Lenin und Trotzki hatten eine Diktatur errichtet.
»Grau sind die Tage die vorüberziehen. Einer nach dem anderen sind die Funken der Hoffnung erloschen. Terror und Despotismus haben das Leben, welches im Oktober geboren wurde, zerstört. Den Losungen der Revolution wurde abgeschworen und ihre Ideale im Blut des Volkes ertränkt. Der gestrige Atem verurteilt Millionen zum Tod, der heutige Schatten liegt wie ein schwarzes Bahrtuch über dem Land. Die Diktatur zerstampft die Massen unter ihrem Fuß. Die Revolution ist tot; ihr Geist schreit in der Wildnis.«
Emma Goldman und Alexander Berkman waren 1919 aufgrund ihrer Begeisterung für die Russische Revolution aus den USA ausgewiesen worden, konnten aber die bolschewistische Herrschaft und die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes nicht akzeptieren. Im März 1921 entschlossen sie sich dazu, die Sowjetunion zu verlassen. 1923 veröffentlichte Goldmann My Disillusionment in Russia (Meine Enttäuschung über Russland), zwei Jahre später verfasste Berkman Der Bolschewistische Mythos, in dem er eine bittere Bestandsaufnahme präsentiert:
Ihre Kritik verdient Aufmerksamkeit, denn sie wurde aus dem Inneren der Revolution heraus formuliert. Ihre Diagnose war erbarmungslos: Die Bolschewiki hatten eine Parteidiktatur errichtet, die nicht nur im Namen der Sowjets, sondern – wie in Kronstadt – gegen sie agierte und deren autoritäre Züge immer erdrückender wurden.
Tatsächlich hatten nicht einmal die Bolschewiki selbst diese vernichtende Einschätzung angefochten. In L’An 1 de la révolution russe (Das Jahr Eins der Russischen Revolution) aus dem Jahr 1930 beschrieb Victor Serge die UdSSR während des Bürgerkriegs folgendermaßen:
»In diesem Moment erfüllte die Partei innerhalb der Arbeiterklasse die Funktionen eines Gehirns und eines Nervensystems. Sie sah, fühlte, wusste, dachte und wollte für und mit den Massen; ihr Bewusstsein, ihre Organisation wurden zum Gegengewicht der Schwäche der Individuen in der Masse. Ohne sie wäre die Masse nichts als eine Halde menschlichen Staubs gewesen, deren verworrene Bestrebungen nur von Blitzen der Intelligenz durchzogen worden wären – in Abwesenheit eines geeigneten Mechanismus zur Schaffung groß angelegter Aktionen zum Scheitern verurteilt – und welche die leidlichen Qualen nur noch intensiver durchlitten hätte. Durch ihre beharrliche Agitation und Propaganda, stets die ungeschönte Wahrheit verkündend, enthob die Partei die Arbeiter ihres engen, individuellen Horizonts und enthüllte ihnen die gewaltigen Blickwinkel der Geschichte. Nach dem Winter 1918– 1919 wurde die Revolution das Werk der Kommunistischen Partei.«
Die Lobrede der Bolschewiki auf die Diktatur der Partei, ihre Verteidigung der Militarisierung der Arbeit und die brutale Sprache , mit der sie auf jede linke Kritik an ihrer Macht – sei sie sozialdemokratisch oder anarchistisch – reagierten, waren abscheulich und gefährlich. Gerade in den Jahren des Bürgerkriegs fand der Stalinismus seine Prämissen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass seine linke Alternative nicht leicht zu realisieren gewesen wäre. Wie Serge sehr klar erkannte, war die wahrscheinlichste Alternative zum Bolschewismus der konterrevolutionäre Terror.
Die Oktoberrevolution war kein Staatsstreich, auch wenn die Macht von einer Partei erobert wurde, die nur eine Minderheit repräsentierte und die ihre Isolation sogar noch verstärkte, als sie sich entschied, die Verfassungsgebende Versammlung aufzulösen. Am Ende des Russischen Bürgerkrieges hatten die Bolschewiki allerdings die Mehrheit gesichert und sich zur hegemonialen Kraft eines zerstörten Landes aufgeschwungen.
Dieser dramatische Wandel wurde nicht durch die Tscheka und den staatlichen Terror herbeigeführt, so unbarmherzig diese auch waren. Er entstand durch die Spaltung der Konterrevolutionäre, die Unterstützung durch die Arbeiterklasse und die Tatsache, dass die Bauern und nicht-russischen Nationalitäten ins Lager der Bolschewiki übergingen. War das endgültige Resultat die Diktatur einer revolutionären Partei, die Alternative wäre kein demokratisches Regime gewesen, sondern eine Militärdiktatur russischer Nationalisten, adeliger Landbesitzer und Pogromisten.
Das kommunistische Regime institutionalisierte die militärische Dimension der Revolution. Es zerstörte den kreativen, anarchistischen und auf Selbstbefreiung zielenden Geist von 1917, schrieb sich aber gleichzeitig in den revolutionären Prozess ein. Die Verschiebung der Revolution in Richtung des Sowjetregimes vollzog sich in mehreren Schritten: Bürgerkrieg (1918– 1921), Kollektivierung der Landwirtschaft (1930– 1933) und politische Säuberungen der Moskauer Prozesse (1936– 1938).
Mit der Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung hatten die Bolschewiki die Überlegenheit der Sowjetdemokratie bestätigt, doch gegen Ende des Bürgerkriegs lag sie bereits im Sterben. Inmitten dieses grausamen und blutigen Konflikts, führte die UdSSR die Zensur ein, unterdrückte politischen Pluralismus bis hin zur Abschaffung von Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Partei, militarisierte die Arbeit, schuf die ersten Arbeitslager und gründete eine neue politische Polizei (die Tscheka). Im März 1921 verkörperte die gewaltsame Niederschlagung des Kronstädter Aufstands das Ende der Sowjetdemokratie und die UdSSR erhob sich als Einparteiendiktatur aus dem Bürgerkrieg.
Zehn Jahre später setzte die Kollektivierung der Landwirtschaft der Bauernrevolution ein gewaltsames Ende, etablierte neue Formen totalitärer Gewalt und zentralisierte die Modernisierung des Landes auf bürokratische Weise. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eliminierten die politischen Säuberungen die Überreste des revolutionären Bolschewismus und disziplinierten eine ganze Gesellschaft durch die Herrschaft des Terrors. Zwei Jahrzehnte lang schuf die Sowjetunion ein gigantisches System von Konzentrationslagern.
Seit Mitte der 1930er Jahre entsprach die Sowjetunion in groben Zügen der klassischen Definition des Totalitarismus, wie sie wenige Jahre später von vielen konservativen politischen Denkern ausgearbeitet wurde: ein Zusammenspiel von offizieller Ideologie, charismatischer Führung, Einparteiendiktatur, Unterdrückung des Rechts und des politischen Pluralismus, Monopolisierung aller Kommunikationsmittel durch Staatspropaganda, gesellschaftlichem und politischem Terror, abgesichert durch ein System von Konzentrationslagern, sowie von Unterdrückung des kapitalistischen freien Marktes durch eine zentralisierte Ökonomie.
Diese Beschreibung, die gegenwärtig genutzt wird, um auf Ähnlichkeiten zwischen dem Kommunismus und dem Faschismus hinzuweisen, ist nicht falsch, aber ausgesprochen oberflächlich. Selbst wenn man die enormen Unterschiede zwischen den kommunistischen und faschistischen Ideologien ebenso ausblendet wie den sozialen und ökonomischen Gehalt ihrer politischen Systeme, muss man dennoch anerkennen, dass eine solche Definition von Totalitarismus die innere Dynamik des Sowjetregimes nicht erfasst. Sie ist schlicht außerstande, das Sowjetregime in den historischen Prozess der Russischen Revolution einzuordnen. Sie beschreibt die UdSSR als statisches, monolithisches System. Der Aufstieg des Stalinismus bedeutete demgegenüber jedoch eine grundlegende und langwierige Umwälzung von Staat und Kultur.
Ebensowenig zufriedenstellend ist die Definition des Stalinismus als bürokratische Konterrevolution oder als »verratene« Revolution. Der Stalinismus stellte sicherlich eine radikale Abkehr von den Ideen der Demokratie und der Selbstbefreiung dar, aber er war keine Konterrevolution im eigentlichen Sinne. Ein Vergleich mit dem napoleonischen Reich ist insofern angebracht, als der Stalinismus die durch die Russische Revolution hervorgebrachten Umwälzungen bewusst mit der Aufklärung und der Tradition des Russischen Zarenreiches verband. Der Stalinismus war jedoch nicht die Auferstehung des Ancien Régime, weder in politischer noch ökonomischer, nicht einmal in kultureller Hinsicht.
Der Stalinismus hatte nicht die Macht der alten Aristokratie wieder hergestellt. Er schuf eine komplett neue ökonomische, administrative, wissenschaftliche und intellektuelle Elite, die aus den niederen Klassen der Sowjetgesellschaften – insbesondere den Bauern – rekrutiert und in den neuen kommunistischen Institutionen ausgebildet wurde. Das ist der Schlüssel zur Klärung der Frage, warum der Stalinismus trotz Terror und Massendeportationen von einem gesellschaftlichen Konsens profitierte.
Den Stalinismus als einen Schritt im Prozess der Russischen Revolution zu interpretieren, bedeutet nicht, sich diesen Prozess als lineare Laufbahn vorzustellen. Die erste Welle des Terrors ereignete sich inmitten eines Bürgerkriegs als die Existenz der Sowjetunion selbst von einer internationalen Koalition bedroht war. Die Brutalität der Weißen Konterrevolution, die extreme Gewalt ihrer Propaganda und ihrer Praktiken – Pogrome und Massaker – trieb die Bolschewiki zur Errichtung einer unbarmherzigen Diktatur.
Stalin initiierte die zweite und dritte Welle des Terrors – Kollektivierung und Säuberungen – während der 1930er Jahre in einem befriedeten Land, dessen Grenzen international anerkannt waren und dessen politische Macht weder von inneren noch von äußeren Kräften bedroht wurde. Zwar signalisierte der Aufstieg Hitlers in Deutschland mittelfristig die Möglichkeit eines neuen Krieges, doch der massive, blinde und irrationale Charakter der Gewalt Stalins schwächte die Sowjetunion erheblich, anstatt statt sie für die Konfrontation mit solchen Gefahren zu rüsten.
Der Stalinismus war eine »Revolution von oben«, eine paradoxe Mischung aus Modernisierung und sozialer Regression. Er mündete in Massendeportationen, einem System von Konzentrationslagern, einem Ensemble von Gerichtsverfahren, welche die Fantasien der Inquisition wieder ausgrub, und einer Welle von Massenexekutionen, welche Staat, Partei und Armee enthaupteten. Auf dem Land bedeutete der Stalinismus laut Nikolai Bucharin die Rückkehr zur »feudalen Ausbeutung« der Bauern mit katastrophalen ökonomischen Folgen. Während die Kulaken in der Ukraine verhungerten, machte das Sowjetregime zehntausende Bauern zu Technikern und Ingenieuren.
Kurz: Der sowjetische Totalitarismus vereinigte Moderne und Barberei; sein Kurs war eigentümlich, beängstigend, promethianisch. Der Historiker Arno Mayer definiert den Stalinismus als »ungleiches und instabiles Amalgam monumentaler Errungenschaften und monströser Verbrechen«. Selbstverständlich fällt es jedem linken Wissenschaftler leicht, Victor Serges Beurteilung zu teilen, wonach der Stalinismus durch eine moralische, philosophische und politische Trennlinie vom authentischen Sozialismus abgeschnitten war. Die UdSSR Stalins war – in Serges Worten – »ein absoluter, nach Kasten organisierter, totalitärer Staat, betrunken von der eigenen Macht, dem der Mensch nichts zählt«. Dies ändert jedoch nichts an der, von Serge selbst eingeräumten, Tatsache, dass sich dieser rote Totalitarismus inmitten eines ausgedehnten historischen Prozesses entfaltete, der mit der Oktoberrevolution seinen Anfang genommen hatte.
Im Gegensatz zu teleologischen Herangehensweisen könnte man anmerken, dass dieses Resultat weder historisch unvermeidlich, noch in ein kohärentes marxistisches ideologisches Muster eingeschrieben war. Die Ursprünge des Stalinismus können jedoch nicht einfach, wie etwa im radikalen Funktionalismus, den historischen Umständen des Krieges und der sozialen Rückständigkeit eines gigantischen Landes mit absolutistischer Vergangenheit zugeschrieben werden; auch wenn der Aufbau des Sozialismus in diesem Land unweigerlich bedeuten musste, das Grauen der »ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« nachzuholen.
Inmitten des Russischen Bürgerkrieges spielte die bolschewistische Ideologie eine Rolle in dieser Metamorphose von einem demokratischen Aufschwung hin zu einer totalitären Diktatur. Ihr normatives Verständnis der Gewalt als »Geburtshelferin der Geschichte« und die sträfliche Gleichgültigkeit, die sie dem juristischen Rahmen eines revolutionären Staates – eine zum Aussterben verurteilte historische Übergangserscheinung – entgegenbrachten, begünstigte das Entstehen eines autoritären Einparteienregimes.
Verschiedene Stränge führen von der Revolution zum Stalinismus, von der UdSSR zu kommunistischen Bewegungen der ganzen Welt. Der Stalinismus war ein autoritäres Regime, doch er war ebenso jahrzehntelang die hegemoniale Strömung der Linken weltweit.
Die Bolschewiki vertraten eine radikale Verwestlichung. Die bolschewistische Literatur war voller Bezugnahmen auf die französische Revolution, 1848 und die Pariser Kommune. Nirgends erwähnten sie aber die Haitianische oder die Mexikanische Revolution. Das »Rad der Geschichte«, eine beliebte Metapher bei Trotzki und Lenin, rollte von Moskau nach Berlin. Nicht von der grenzenlosen russischen Landschaft zu den Feldern der Morelos oder auf die Plantagen der Antillen.
Genauso wie Theaterkritiker die Arbeiter übersähen, die hinter dem Vorhang die Bühnenbilder austauschen, so ignoriere die Geschichtsschreibung auch die Bauern, beklagte Trotzki in einem Kapitel seiner Geschichte der Russischen Revolution. In seinem eigenen Buch tauchen die Bauern jedoch vor allem als anonyme Masse auf. Sie werden nicht vernachlässigt, aber nur mit analytischer Distanz statt mit Empathie betrachtet.
Die Bolschewiki hatten zwar begonnen, ihre Vision der Bauern als kulturell rückständige und politisch konservative Klasse zu überdenken – eine Position, die sie aus Marx’ Schriften zum Bonapartismus übernommen hatten. Doch ihr proletarischer Tropismus war zu stark, sodass diese Revision – die nicht frei von theoretischen und strategischen Auseinandersetzungen war – erst durch den antikolonialen Kommunismus in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen realisiert wurde.
In China resultierte die kommunistische Hinwendung zur Bauernschaft aus der vernichtenden Niederlage der städtischen Revolutionen in der Mitte der 1920er Jahre, ebenso wie aus dem Versuch, den Marxismus in eine nationale Geschichte und Kultur einzuschreiben. Nach der blutigen Unterdrückung durch die Kuomintang (KMT), waren die kommunistischen Zellen in den Städten fast vollständig demontiert worden; ihre Mitglieder saßen im Gefängnis oder wurden verfolgt. Während ihres Rückzugs auf das Land, wo sie Schutz vorfanden und ihre Bewegung neu organisieren konnten, begannen viele kommunistische Führer, die Bauern mit anderen Augen zu sehen und ihre verwestlichte Auffassung der »Rückständigkeit« Asiens aufzugeben.
Zu Beginn des Jahres 1927, also noch vor den Massakern, die durch die KMT im Laufe dieses Jahres in Shanghai und Guangdong verübt wurden, bezog sich Mao Zedong auf diese strategische Wende – Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen der Kommunistischen Internationale und ihrer chinesischen Sektion in den 1930er Jahren. Zurück im heimischen Hunan verfasste Mao seinen berühmten Bericht, in dem er nicht das städtische Proletariat, sondern die Bauern als treibende Kraft der chinesischen Revolution ausmachte.
Im Gegensatz zu den Moskauer Agenten, die die Bauernmilizen lediglich als Zündstoff für urbane Aufstände verstanden, setzte Mao den Aufbau einer sowjetischen Republik in Jiangxi fort. Wäre er vom ländlichen Charakter der Chinesischen Revolution nicht überzeugt gewesen, hätte er den Langen Marsch nicht organisieren können, um die Vernichtungswelle der KMT aufzuhalten. Dieses epische Unterfangen, das zuerst noch als tragische Niederlage interpretiert wurde, bereitete den Weg für den erfolgreichen Kampf des folgenden Jahrzehnts, erst gegen die Japaner und schließlich gegen die KMT.
Die Ausrufung der Volksrepublik China in Beijing im Jahr 1949 war das Ergebnis eines Prozesses, der von den Aufständen 1925 über den Langen Marsch und den antijapanischen Kampf ausging und eine seiner notwendigen Prämissen im Oktober 1917 gefunden hatte. Aber er war ebenso das Produkt einer strategischen Revision. Es gab eine komplexe genetische Verbindung zwischen der chinesischen und der russischen Revolution. Die drei wichtigsten Dimensionen des Kommunismus – Revolution, Regime und Antikolonialismus – vereinigten sich emblematisch in der chinesischen Revolution.
Als radikaler Bruch mit der traditionellen Ordnung war sie unbestreitbar eine Revolution, die das Ende von jahrhundertelanger Unterdrückung verkündete. Als Beendigung des Bürgerkriegs resultierte sie in der Eroberung der Macht durch eine militarisierte Partei, die ihre Diktatur von Beginn an in den autoritärsten Formen aufgebaut hatte. Als Beendigung eines fünfzehnjährigen Kampfes, erst gegen die japanische Besatzung und schließlich gegen die KMT – eine nationalistische Kraft, die sich zur Agentin der westlichen Großmächte gemacht hatte – markierte der kommunistische Sieg von 1949 nicht nur das Ende des Kolonialismus in China sondern ebenso einen bedeutenden Moment im globalen Prozess der Entkolonisierung.
Nach der russischen Revolution überschritt der Sozialismus die europäischen Grenzen und wurde im Süden und in der kolonialen Welt auf die Agenda gesetzt. Die UdSSR wurde aufgrund ihrer geografischen Lage zwischen Europa und Asien – ein gigantisches Territorium auf beiden Kontinenten mit einer Vielzahl nationaler, religiöser und ethnischer Gemeinschaften – zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen Verbindung zwischen dem Westen und der kolonialen Welt. Der Bolschewismus konnte die proletarischen Klassen der industrialisierten Länder im gleichen Maß ansprechen wie die kolonisierten Völker des Südens.
Während des 19. Jahrhunderts gab es im Westen fast keinen Antikolonialismus. Eine beachtenswerte Ausnahme bildete die anarchistische Bewegung, deren Aktivisten und Ideen zwischen Osteuropa, Lateinamerika und verschiedenen asiatischen Ländern im Umlauf waren. Nach Marx’ Tod setzte der Sozialismus seine Hoffnungen und Erwartungen vor allem in die wachsende Stärke der hauptsächlich weißen und männlichen industriellen Arbeiterklasse, die sich in den entwickelten (zumeist protestantischen) kapitalistischen Ländern des Westens konzentrierte.
Jede sozialistische Massenpartei beinhaltete mächtige Strömungen, die die »zivilisierende Mission« Europas in der Welt verteidigten. Sozialdemokratische Parteien – besonders diejenigen aus den größten Imperien – vertagten die koloniale Befreiung auf die Zeit nach der sozialistischen Transformation Europas und der Vereinigten Staaten. Die Bolschewiki brachen auf radikale Weise mit dieser Tradition.
Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale, der 1920 in Moskau stattfand, stimmte einem programmatischen Dokument zu, das zu kolonialen Revolutionen gegen den Imperialismus aufrief: Die Gründung kommunistischer Parteien in der kolonialen Welt und die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen war das erklärte Ziel. Damit bekräftigte der Kongress unmissverständlich eine radikale Abkehr von den alten sozialdemokratischen Perspektiven auf den Kolonialismus.
Einige Monate später organisierten die Bolschewiki einen Kongress der Völker des Ostens in Baku, der Hauptstadt der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik, auf dem beinahe 2.000 Delegierte aus 29 asiatischen Nationalitäten zusammenkamen. Gigori Sinowjew betonte explizit, dass die Kommunistische Internationale mit den älteren sozialdemokratischen Herangehensweisen gebrochen hatte, nach denen das »zivilisierte Europa« als »Lehrmeister des ›barbarischen Asiens‹« auftreten konnte und sogar musste. Die Revolution wurde nicht mehr als exklusive Sphäre der »weißen« europäischen und amerikanischen Arbeiter betrachtet. Ohne die Befreiung der kolonisierten Völker war der Sozialismus fortan nicht mehr vorstellbar.
Die konfliktreichen Beziehungen zwischen dem Kommunismus und dem Nationalismus sollten in den folgenden Jahrzehnten deutlicher hervortreten, aber die Oktoberrevolution war der historische Ausgangspunkt des globalen Antikolonialismus. In den 1920er Jahren verlagerte sich der Antikolonialismus plötzlich vom Reich historischer Möglichkeiten auf das Feld politischer Strategie und militärischer Organisation. Die Baku-Konferenz verkündete diesen historischen Wandel.
Das Bündnis zwischen dem Kommunismus und dem Antikolonialismus durchlebte verschiedene Krisen und Spannungsphasen, die sowohl mit ideologischen Konflikten als auch der Außenpolitik der UdSSR verknüpft waren. Am Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligte sich die Französische Kommunistische Partei an einer Koalitionsregierung, die die antikolonialen Revolten in Algerien und Madagaskar gewaltsam unterdrückte. Im darauffolgenden Jahrzehnt unterstützen sie Premierminister Guy Mollet zu Beginn des Algerienkrieges. In Indien war die kommunistische Bewegung seit dem Zweiten Weltkrieg marginalisiert, da sie den antikolonialen Kampf ausgesetzt und das militärische Bündnis des Britischen Imperiums mit der UdSSR im Kampf gegen die Achsenmächte unterstützt hatte.
Auch wenn diese Beispiele die Widersprüche des kommunistischen Antikolonialismus aufzeigen, so ändern sie jedoch nichts an der historischen Rolle der UdSSR als logistische Basis vieler antikolonialer Revolutionen. Der gesamte Prozess der Entkolonisierung vollzog sich im Kontext des Kalten Krieges, innerhalb der Kräfteverhältnisse, die erst durch die Existenz der UdSSR entstanden sind.
Im Rückblick erscheint die Entkolonisierung als historische Erfahrung, in der sich die bereits genannten widersprüchlichen Dimensionen des Kommunismus – Emanzipation und Autoritarismus, Revolution und diktatorische Macht – auf permanente Weise vereinigten. Die antikolonialen Kämpfe wurden meistens als von Befreiungsarmeen getragene militärische Kampagnen verstanden und organisiert. Die politischen Regime, die sie unterstützen, waren von Anfang an Einparteiendiktaturen.
In Kambodscha erstickte diese militärische Dimension des antikolonialen Kampfes am Ende eines bestialischen Kriegs jeden emanzipatorischen Impuls. Die Machteroberung der Roten Khmer führte unverzüglich zur Entstehung einer genozidalen Macht. Die Heiterkeit des aufständischen Havanna am Ersten Januar 1959 und die kambodschanischen Killing Fields sind die dialektischen Pole des Kommunismus als Antikolonialismus.
Die vierte Dimension des Kommunismus des 20. Jahrhunderts ist die sozialdemokratische: In einigen Ländern und Epochen spielte der Kommunismus jene Rolle, die traditionell von der Sozialdemokratie verkörpert wurde. In den westlichen Ländern ereignete sich dies hauptsächlich in den Nachkriegsjahrzehnten und war einem Arrangement verschiedener Umstände geschuldet, die mit dem internationalen Kontext, der Außenpolitik der UdSSR und dem Fehlen oder der Schwäche traditioneller sozialdemokratischer Parteien verknüpft war. Ähnliches ließ sich allerdings auch in einigen durch Entkolonisierung entstandenen Ländern beobachten.
Die wichtigsten Beispiele für dieses besondere Phänomen finden sich in den USA zur Zeit des New Deal, in Italien und Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wie auch in Indien (Kerala und Westbengalen). Selbstverständlich war der sozialdemokratische Kommunismus in geographischer und chronologischer Hinsicht beschränkter als seine anderen Formen, doch er existierte trotzdem. Zu einem gewissen Grad war die Wiedergeburt der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg selbst ein Nebeneffekt der Oktoberrevolution, die das Machtgleichgewicht in globalem Maßstab verschoben und den Kapitalismus gezwungen hatte, durch bedeutsame Transformationen ein »menschliches Antlitz« anzunehmen.
Der sozialdemokratische Kommunismus ist eine paradoxe Definition, die die Verbindungen zwischen dem französischen, italienischen oder indischen Kommunismus und den Revolutionen, dem Stalinismus und der Entkolonisierung berücksichtigt. Sie ignoriert weder die Fähigkeit dieser Bewegungen, Aufstände anzuleiten – insbesondere während der Résistance gegen die Nazibesatzung – noch ihre jahrzehntelangen Verbindungen mit Moskau. Die erste offene Kritik der Außenpolitik der UdSSR wurde in den 1960er Jahren formuliert, erst im Hinblick auf das sino-sowjetische Zerwürfnis, dann in Bezug auf den Einmarsch sowjetischer Panzer in die Tschechoslowakei.
Sogar ihre innere Struktur und Organisation war mindestens bis in die 1970er Jahre viel stalinistischer als sozialdemokratisch. Das gleiche gilt für ihre Kultur, ihre theoretischen Quellen und ihre politische Vorstellungskraft. Gleichzeitig spielten diese Parteien trotz dieser klar erkennbaren Züge eine typisch sozialdemokratische Rolle: Sie reformierten den Kapitalismus, begrenzten die soziale Ungleichheit und machten medizinische Versorgung, Bildung und Freizeitangebote für die größtmögliche Masse an Menschen zugänglich. Kurz gesagt: Sie verbesserten die Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen und verliehen ihnen eine politische Repräsentation.
Eine Eigenart des sozialdemokratischen Kommunismus war natürlich, dass er von der Macht ausgeschlossen blieb, abgesehen von einigen Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ausbruch des Kalten Krieges. Im Gegensatz zur britischen Labour Party, der deutschen SPD oder den sozialdemokratischen Parteien Skandinaviens, konnten diese kommunistischen Parteien nicht für sich beanspruchen, einen Wohlfahrtsstaat aufgebaut zu haben.
In den USA war die Kommunistische Partei gemeinsam mit den Gewerkschaften eine der linken Säulen des New Deal, doch sie war nie an der Roosevelt-Regierung beteiligt gewesen. Sie kam nie an die Macht und war während der McCarthy-Ära antikommunistischen Kampagnen ausgesetzt. In Frankreich und Italien konnten die kommunistischen Parteien aufgrund ihrer Stärke und Fähigkeit, die Regierung unter Druck zu setzen, großen Einfluss auf die Sozialpolitik der Nachkriegszeit ausüben.
Die Arena ihres Sozialreformismus war der kommunale Sozialismus in jenen Städten, die sie als hegemoniale Hochburgen hielten, etwa Bologna oder der »rote Gürtel« um Paris. In einem viel größeren Land wie Indien lassen sich die kommunistischen Regierungen in Kerala und Westbengalen als Äquivalente zu »lokalen« postkolonialen Wohlfahrtsstaaten verstehen.
In Europa fußte der sozialdemokratische Kommunismus auf zwei notwendigen Prämissen: Einerseits hatte die Résistance die kommunistischen Parteien als demokratische Kräfte etabliert, andererseits war die Nachkriegszeit von ökonomischem Wachstum geprägt. In den 1980ern endete die Zeit des sozialdemokratischen Kommunismus, weshalb das Ende des Kommunismus im Jahr 1989 auch die historische Entwicklung der Sozialdemokratie in neues Licht rückt.
Ein vollendeter sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat existierte nur in Skandinavien. Anderswo war der Wohlfahrtsstaat eher ein Resultat kapitalistischer Selbstreformation denn sozialdemokratischer Machteroberung. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, inmitten eines ruinierten Kontinents, war der Kapitalismus zu einem Neustart ohne starke Staatsintervention schlichtweg nicht imstande. Der Marshall-Plan sollte ungeachtet seines offensichtlichen – und im Großen und Ganzen erfüllten – Ziels, die Prinzipien des »freien Marktes« gegen die sowjetische Planwirtschaft zu verteidigen, den Übergang vom totalen Krieg zur friedlichen Rekonstruktion sicherstellen.
Ohne diese massive amerikanische Hilfestellung wären viele in materieller Hinsicht zerstörte europäische Länder nicht zu einem schnellen Wiederaufbau in der Lage gewesen. Die USA waren besorgt, dass ein neuer ökonomischer Zusammenbruch ganze Länder in die Arme des Kommunismus treiben würde. Unter diesem Blickwinkel war der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit das unerwartete Resultat einer komplexen und widersprüchlichen Konfrontation zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus, die 1917 ihren Anfang genommen hatte.
Ungeachtet der Werte, Überzeugungen und Leidenschaften ihrer Mitglieder und Anführer waren die sozialdemokratischen Parteien in der Rolle des Nutznießers: Sie konnten Freiheit, Demokratie und den Wohlfahrtsstaat gerade wegen der Existenz der UdSSR verteidigen, während der Kapitalismus durch den Kontext des Kalten Krieges dazu gezwungen war, sich selbst zu transformieren. Erst nach 1989 schmückte sich der Kapitalismus wieder mit seinem »barbarischen« Antlitz, entdeckte den Elan seiner heroischen Epochen wieder und demontierte den Wohlfahrtsstaat nahezu überall.
In den meisten westlichen Ländern wandte sich die Sozialdemokratie dem Neoliberalismus zu und machte sich zu einem unersetzlichen Werkzeug seiner Durchsetzung. Mit dem Verschwinden der traditionellen Sozialdemokratie verschwand auch der sozialdemokratische Kommunismus: Die Selbstauflösung der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) im Jahre 1991 war der emblematische Epilog dieses Prozesses: Die PCI verwandelte sich nicht in eine klassische sozialdemokratische Partei, sondern in eine Verfechterin des Mitte-links-Liberalismus, der sich die Demokratische Partei der USA explizit zum Vorbild nahm.
Mit dem Niedergang des Kommunismus 1989 endete ein Stück, das gleichermaßen Epos und Tragödie, aufregend und schrecklich war. Die Zeit der Entkolonialisierung und des Wohlfahrtsstaates war vorbei, aber der Zusammenbruch des Kommunismus als Regime brachte auch das Ende des Kommunismus als Revolution mit sich. Anstatt neue Kräfte freizusetzen, schuf das Ende der UdSSR ein weitverbreitetes Bewusstsein über die historische Niederlage der Revolutionen des 20. Jahrhunderts: Paradoxerweise versank mit dem Ende des Realsozialismus die gesamte kommunistische Utopie.
Die Linke des 21. Jahrhunderts muss sich selbst neu erfinden und sich von alten Gepflogenheiten distanzieren. Sie muss neue Modelle, neue Ideen und eine neue utopische Vorstellungskraft hervorbringen. Ein solcher Wiederaufbau ist keine leichte Aufgabe, denn der Niedergang des Kommunismus hinterließ eine Welt ohne Alternativen zum Kapitalismus und schuf eine neue geistige Landschaft. Eine neue Generationen ist in einer neoliberalen Welt aufgewachsen, die nur den Kapitalismus als »natürliche« Form des Lebens kennt.
Die Linke hat ein ganzes Ensemble revolutionärer Traditionen – insbesondere den Anarchismus – wiederentdeckt, die im letzten Jahrhundert unterdrückt oder marginalisiert waren und eine Vielzahl politischer Subjekte erkannt, die zuvor ignoriert oder deren Anliegen als zweitrangig deklariert wurden. Die Erfahrungen der »Alter-Globalisierungs«-Bewegungen, des Arabischen Frühlings, Occupy Wall Street, den spanischen Indignados, Syriza, den französischen Nuit Debout und Gelbwesten, feministischen und LGBT-Bewegungen und Black Lives Matter sind Schritte im Aufbauprozess einer neuen revolutionären Vorstellungskraft. Sie sind uneinheitlich, gründen auf Erinnerungen, und sind doch gleichzeitig von der Geschichte des 20. Jahrhunderts losgelöst.
Wenn der Kommunismus des 20. Jahrhunderts als Versuch geboren wurde, den Himmel im Sturm zu erobern, so entwickelte er sich mit und gegen den Faschismus zu einem Ausdruck der Dialektik der Aufklärung. Letztlich waren die Industriestädte sowjetischer Prägung, Fünfjahrespläne, Kollektivierung der Landwirtschaft, Raumfahrzeuge, zu Fabriken umgebaute Gulags, Nuklearwaffen und ökologische Katastrophen verschiedene Formen des Sieges der instrumentellen Vernunft.
War der Kommunismus nicht das schreckliche Antlitz des prometheischen Traums, einer Idee des Fortschritts, die jede Erfahrung der Selbstbefreiung auslöschte und zerstörte? War der Stalinismus nicht der Sturm, der bei Walter Benjamin den Trümmerhaufen bis zum Himmel wachsen lässt und von Millionen von Menschen mit »Fortschritt« verwechselt wird? Der Faschismus verschmolz ein Ensemble konservativer Werte der Aufklärungsgegner mit einem modernen Kult der Wissenschaft, Technologie und mechanischen Stärke. Der Stalinismus kombinierte einen ähnlichen Kult technologischer Moderne mit einer radikalen und autoritären Form der Aufklärung: Der Sozialismus verwandelte die Welt in eine »kalte Utopie«.
Eine neue, globale Linke wird keinen Erfolg haben, solange sie sich dieser historischen Erfahrung verweigert. Den emanzipatorischen Kern des Kommunismus aus diesem Trümmerfeld zu bergen, ist kein abstraktes, intellektuelles Unterfangen. Es wird neue Kämpfe und neue Konstellationen erfordern, in denen die Vergangenheit plötzlich zurückkehrt und in denen die Erinnerung an sie wieder »aufblitzt«. Revolutionen kann man nicht vorplanen. Sie kommen stets unerwartet.
Enzo Traverso lehrt Geschichtswissenschaften an der Cornell University. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem Buch Revolution: An Intellectual History, erschienen 2021 auf englischer Sprache bei Verso Books.
Enzo Traverso lehrt in Geschichtswissenschaften an der Cornell University. Sein neuestes Buch trägt den Titel Revolution: An Intellectual History.