11. April 2024
Ohne Teilnahme am globalen Handel wird es den Ländern des Globalen Südens kaum gelingen, ihr Wohlstandsniveau zu heben. Doch um Entwicklung zu ermöglichen, muss die WTO grundlegend reformiert werden, erklärt Handelsexperte Rangarirai Machemedze im Interview.
Die Generaldirektorin der Welthandelsorganisation Ngozi Okonjo-Iweala spricht zur WTO-Ministerkonferenz in Genf am 12. Juni 2022.
Um die Jahrtausendwende stand keine multilaterale Institution so sehr für die Macht der Konzerne und die neoliberale Globalisierung wie die Welthandelsorganisation (WTO). Die internationalen Gipfeltreffen der WTO wurden zu Hotspots antikapitalistischer Großdemonstrationen und zu Sammelpunkten einer transnationalen Bewegung, die kurzzeitig die Geburt einer neuen Linken zu versprechen schien.
Während diese »globalisierungskritische« Bewegung quasi Geschichte ist, hat die WTO überlebt. Heute steht die Organisation nicht mehr im Zentrum radikaler Kritik, obwohl sie nach wie vor die wichtigste Institution zur Regulierung des Welthandels ist. Drei Viertel des globalen Handels basieren auf ihren Regeln. Dennoch gilt die WTO als geschwächt; weitreichende Liberalisierungen sind seit langem nicht mehr beschlossen worden. Doch die »Entwicklungsagenda« der Doha-Runde, auf die sich die Mitgliedsstaaten 2001 geeinigt haben, wird ebenfalls nicht umgesetzt. Es ist eine Pattsituation.
Was ist die Rolle der WTO heute – und wie muss sie im Sinne der nachholenden Entwicklung reformiert werden? Merle Groneweg sprach mit dem Handelsexperten Rangarirai Machemedze von dem Southern and Eastern African Trade Information and Negotiations Institute (SEATINI) über die Zukunft des Welthandels in einer zunehmend spannungsgeladenen Welt.
Eine interessante Entwicklung auf der WTO-Ministerkonferenz im Frühjahr in Abu Dhabi war, dass Indien und Südafrika das Abkommen für »Investitionserleichterungen« (IFDA) blockiert haben. Insbesondere China hat sich für das Abkommen starkgemacht – und die chinesische Regierung hat angeblich auch viele jener Staaten, die in der WTO als »Entwicklungsländer« klassifiziert sind, zur Unterstützung des IFDA gedrängt. Wie beurteilen Sie die Ereignisse?
China will in vielen Entwicklungsländern, darunter auch afrikanische Staaten, investieren; vor allem im Rohstoffsektor. In der WTO steht die Volksrepublik auf eigenen Füßen, mit starken Ambitionen in den Bereichen Hightech und elektronischer Handel, während es innerhalb der BRICS zu Differenzen kommt.
Indien und Südafrika haben einiges von dem, was in Abu Dhabi auf dem Tisch lag, mit Nachdruck blockiert, darunter das IFDA. Sie hatten die Kapazitäten, um das Abkommen zu analysieren – und dabei zu erkennen, dass es Entwicklungsstaaten diverse Verpflichtungen zugunsten ausländischer Investoren auferlegt, was nicht im Interesse ersterer ist. Außerdem wurde das Abkommen plurilateral – also außerhalb der multilateralen WTO-Gremien – verhandelt, soll nun aber in WTO-Recht überführt werden.
Indien und Südafrika blockieren es deshalb auch aus verfahrenstechnischen Gründen, da sie befürchten, dass es aufgrund der WTO-Blockaden zu immer mehr plurilateral vorangetriebenen Liberalisierungen kommt. Andere Entwicklungsländer verfügen nicht über die Kapazitäten beziehungsweise das politische Gewicht, das Indien und Südafrika als große Schwellenländer haben. In den letzten Jahren konnten die beiden Staaten dabei gewissermaßen vorangehen, beispielsweise, als sie sich für die TRIPS-Ausnahmeregelung in Bezug auf Covid-19-Impfstoffe eingesetzt haben.
»Der Multilateralismus ist der einzige Weg, auf dem Staaten ihre Stimmen bündeln können.«
Zudem blockieren die USA seit Jahren auch die Ernennung von neuen Richterinnen und Richtern für die Berufungsinstanz. Aus Sicht der US-Regierung hat die Berufungsinstanz in der Vergangenheit nicht nur Recht gesprochen, sondern auch Recht geschaffen, indem sie bei Einzelfällen neue Normen gesetzt hat. Da aufgrund des Widerstands keine neuen Richterinnen und Richter ernannt werden, ist die Berufungsinstanz seit Jahren nicht mehr arbeitsfähig. Ohne effektives Streitschlichtungsverfahren besteht natürlich Zweifel an der Durchsetzbarkeit der vereinbarten Regeln; zumal sich insbesondere Entwicklungsstaaten gegen weitere Liberalisierungen stellen. Was bedeutet das für die Handelspolitik?
Ich vermute, dass wir eine weitere Schwächung der WTO sowie des Multilateralismus insgesamt erleben. Nur äußerst starke Interventionen auf politischer Ebene könnten die verschiedenen Interessen zusammenbringen.
Gelingt dies nicht, wird sich fortsetzen, was bereits nach der WTO-Ministerkonferenz in Cancún 2003 geschah. Damals hieß es: Jetzt machen wir es halt bilateral. Doch der bilaterale Ansatz ist für die polit-ökonomisch schwächeren Länder gefährlicher, wie es sich etwa bei den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (Economic Partnership Agreements; EPAs) zwischen der EU und den Afrikanischen, Karibischen und Pazifikstaaten zeigt. Die EPAs werden als Entwicklungsinstrumente angepriesen, verhindern jedoch wirtschaftliche Entwicklung.
Die EU-Kommission preist den »Freihandel« an und schließt nur zu gerne neue Abkommen ab. Dabei übt sie jedoch maßgeblichen Druck auf andere Staaten aus, darunter neben den schon erwähnten EPAs auch in Verhandlungen mit Ländern wie Vietnam und Indonesien oder Ecuador, Kolumbien und Peru. Ihr Druckmittel, um diverse Liberalisierungen zu erreichen, ist der Zugang zum EU-Binnenmarkt, dessen Nachfrage für viele Exportindustrien so wichtig ist.
Ja, so hat die EU sich nach langwierigen EPA-Verhandlungen damit durchgesetzt, dass Exportsteuern nur noch unter bestimmten Bedingungen erhoben werden können. Doch Exportsteuern sind nicht nur wichtige Einnahmequellen für afrikanische Staaten, sondern auch wirtschaftspolitische Instrumente: Wird der Export von unverarbeiteten Rohstoffen teurer, entstehen Anreize für die Weiterverarbeitung vor Ort.
Außerdem haben die EPAs die regionale Integration gestört. Länder, die derselben regionalen Wirtschaftsgemeinschaft angehören, nämlich der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (Southern African Development Community; SADC) wurden in zwei Bereiche aufgespalten. Auch deshalb bin ich gegen den bilateralen Ansatz – denn dann droht, dass die Staaten sich mitunter nicht nur im Wettbewerb, sondern schon in den Verhandlungen unterbieten.
Der Multilateralismus ist der einzige Weg, auf dem Staaten ihre Stimmen bündeln können. Deshalb müssen wir die WTO als multilaterale Institution retten – aber sie kann nur gerettet werden, wenn sie tatsächlich reformiert wird. Bleibt die Architektur des Welthandelssystems unverändert, bleibt auch die erforderliche wirtschaftliche Entwicklung aus.
Es ist ungewöhnlich, dass sich der Referent eines entwicklungspolitisch ausgerichteten Instituts für die Rettung der WTO einsetzt. Ist sie nicht das verhasste Symbol all jener, die Handelsliberalisierungen bekämpfen, gerade weil sie nachholende Entwicklung erschwert, wenn nicht gar verhindert?
Mir ist klar, dass viele sagen, bei der WTO ginge es ohnehin nicht um Entwicklung. Aber Handel und Entwicklung lassen sich nicht voneinander trennen. Offiziell wurde die WTO gegründet, um als multilaterale Institution Handelsregeln aufzustellen, die Staaten eine faire Teilnahme am globalen Handelssystem ermöglichen soll.
Mit dem Marrakesch-Abkommen 1994 wurde die WTO zur Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens von 1947 (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT). In der Präambel werden die Grundsätze und Ziele genannt, darunter nicht zuletzt Vollbeschäftigung und die Erhöhung der Lebensstandards.
»Es geht darum, dass mehr Wertschöpfung auf dem afrikanischen Kontinent stattfindet und die Staaten zu Produzenten von Industriegütern werden.«
Viele der Staaten, die der WTO in den 1990ern beigetreten sind, hatten eine Phase der Unterentwicklung hinter sich – und hofften, dass der Beitritt ihre Chance auf wirtschaftliche Entwicklung verbessern und sogar strukturelle Veränderungen erwirken könnte. So wurde die WTO insbesondere vielen afrikanischen Staaten verkauft. Doch letzteren fehlten die Kapazitäten, um zu analysieren, ob die Teilnahme am multilateralen Handelssystem für sie von Nutzen sein würde. Und natürlich wird der Entwicklungsgedanke aufgrund des Machtungleichgewichts zwischen jenen Staaten, deren Regierungen in der WTO miteinander verhandeln, stark vernachlässigt.
Die 1995 in Kraft getretenen WTO-Regeln haben unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Staaten; vor allem Entwicklungsländer sind negativ betroffen, da ihre Rolle als Rohstofflieferanten quasi zementiert wird. Ich gehöre zu denjenigen, die sich dafür einsetzen, dass die Organisationen aus den Klauen jener gerettet wird, die ihre polit-ökonomische Macht zu eigennützigen Zwecken ausüben.
Welcher Reformen bedarf es, um wirtschaftliche Entwicklung zu erzielen?
Die Industriestaaten hatten den politischen Spielraum, um ihre Wirtschaft mit Zöllen und anderen protektionistischen Instrumenten zu entwickeln. Doch aufgrund der Handelsliberalisierungen ist es für afrikanische Staaten schwer, eine wirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung zu erreichen, durch die sie auch über Rohstoffe hinaus wettbewerbsfähig mit anderen Volkswirtschaften handeln können.
Für afrikanische Staaten sollten nicht die gleichen Regeln gelten wie für Industriestaaten. Deshalb gibt es das Konzept der »Sonder- und Vorzugsbehandlung« (Special and Differential Treatment, S&DT). S&DT erkennt an, dass sich Staaten auf unterschiedlichen Wirtschaftsstufen befinden. Deshalb sollte es ein fester Bestandteil jedes Abkommens werden, um den politischen Spielraum zu erweitern. Beispielsweise können sogenannte »Anforderungen an lokale Inhalte« (local content requirements) die industrielle Entwicklung vor Ort fördern. Doch aufgrund der Profitabilitätskrise in der globalen Wirtschaft verhindern reichere Staaten, dass ärmere Staaten diese Vorteile progressiver Handelsregeln nutzen können.
Die Afrikanische Gruppe in der WTO hat konkrete Vorschläge eingebracht, um eben jenen Spielraum für mehr Industrialisierung zu fordern. In Abu Dhabi wurde auch darüber verhandelt, ob es zu diesem Thema zumindest erstmal eine Arbeitsgruppe geben soll, jedoch ohne Erfolg. Was fordert die Afrikanische Gruppe?
Es geht darum, dass mehr Wertschöpfung auf dem Kontinent stattfindet und die afrikanischen Staaten zu Produzenten von Industriegütern werden. Dafür braucht es jedoch politische Rahmenbedingungen. Neben dem schon erwähnten S&DT geht es unter anderem um das »Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen«, das Ländern politischen Spielraum zur Bewältigung von Herausforderungen einräumt, wenn es um Armut, Umwelt und Technologie geht.
So ist es gemäß Artikel 8 möglich, Subventionen zu gewähren, um Umweltschutz, ländliche Entwicklung, oder Forschung und Entwicklung (Research and Development, R&D) zu fördern. Einige Staaten haben bereits von seiner Anwendung profitiert, doch der Artikel ist im Jahr 2000 ausgelaufen. Jetzt ist es nicht mehr möglich, solche Subventionen zu gewähren, ohne dass andere Staaten dies mit Gegenleistungen quittieren. Die Afrika-Gruppe fordert daher die Wiedereinführung dieses Artikels, um politischen Handlungsspielraum für Industrialisierung und Entwicklung zu erlangen.
»Es kann nicht ausschließlich um den Schutz von geistigem Eigentum gehen, sondern auch um die Förderung von Forschung und Entwicklung.«
Apropos Research and Development: Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurde tatsächlich eine kurzzeitige Aussetzung des Schutzes von geistigem Eigentum erkämpft, zumindest bezüglich der Herstellung von Impfstoffen. Ist dies ein Anknüpfungspunkt für weitere Forderungen?
Ja, TRIPS, also das Übereinkommen zu Rechten des geistigen Eigentums, muss dringend reformiert werden. Wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Interessen; es kann nicht ausschließlich um den Schutz von geistigem Eigentum gehen, sondern auch um die Förderung von Forschung und Entwicklung. Technologie steht im Mittelpunkt von Innovation und Wandel, doch das TRIPS-Abkommen verhindert den Technologietransfer.
Doch Technologietransfer ist notwendig, damit Entwicklungsstaaten auch mehr industrielle Güter produzieren und höhere Positionen in den Wertschöpfungsketten einnehmen. Insbesondere in Hinblick auf Green Tech muss hier mehr geschehen: Den afrikanischen Staaten werden von der EU und anderen Nachhaltigkeitsstandards aufgestülpt, die sie aktuell nur schwer erfüllen können.
Wir alle wollen den Planeten retten, aber uns fehlen häufig die Kapazitäten, um den Anforderungen gerecht zu werden. Wenn Sie sich auch in Deutschland dafür einsetzen können, dass die Erfüllung bestimmter Anforderungen an Technologietransfers geknüpft wird, können wir uns gemeinsam in eine Richtung bewegen.
Rangarirai Machemedze ist Koordinator von SEATINI Southern Africa in