28. September 2022
Der Winter ist noch nicht angebrochen, doch die sozialen Härten der steigenden Preise sind schon jetzt spürbar. Die Kampagne »Genug ist Genug« hat Menschen gefragt, wie sie die Preiskrise jeden Tag belastet.
Wenn das Geld nicht mehr für den Wocheneinkauf reicht, bleibt vielen nur noch der Gang zur Tafel.
IMAGO / Michael Schick (eingefärbt)Immer mehr Menschen sehen sich mit unbezahlbaren Gaspreisen konfrontiert und neben dem Heizen drohen auch Duschen und Essen für viele unerschwinglich zu werden. Die Kampagne »Genug ist Genug« hat Menschen dazu aufgerufen, von ihrem Alltag zu erzählen. Wir veröffentlichen fortwährend schriftliche Zusendungen von denjenigen, die über ihre Erfahrungen berichten wollen.
Man würde nicht vermuten, dass in Deutschland – einer der größten Industrienationen der Welt – Menschen Angst davor haben, im kommenden Winter frieren zu müssen oder sich das Nötigste nicht mehr leisten zu können. Tatsache ist jedoch, dass viele mit genau diesen Ängsten konfrontiert sind. So berichtet beispielsweise die 40-jährige erwerbsunfähige Sarah: »Ich hungere, die Waschmaschine ist kaputt, mir fehlt das Geld für eine dringende Zahnbehandlung und das Geld für einen Staubsauger«. Auch für den 31-jährigen Martin, der in der Kinder- und Jugendarbeit tätig ist, folgt »ein Verzicht auf den Nächsten«. Der 34-jährige Student Paul hat das Gefühl, dass sich die Lage immer weiter verschlimmert: »Angst macht mir, dass man jetzt schon komplett über dem finanziellen Limit leben muss. Gleichzeitig habe ich Sorge davor, was nun noch bevorsteht und was das gesellschaftlich bedeuten kann«.
Das Unverständnis für die Entscheidungen der Politik wird immer größer: Das Bürgergeld halten viele für eine Mogelpackung. Immer wieder fällt der Satz: »Ich fühle mich allein gelassen«. Aber auch Menschen, die die Krise weitestgehend gut überstehen, äußern Kritik. Für die 39-jährige Sarah läuft grundsätzlich etwas falsch: »Mein Mann bekam trotz sehr guten Gehalts einen Coronabonus und war nicht einmal in Kurzarbeit. Wir benötigen auch kein Energiegeld-Geschenk. Das soll an Menschen gehen, die es wirklich brauchen«.
»Armsein ist ein Zustand, der dich wertlos fühlen lässt.«
Hinzu kommt, dass viele von psychischen Belastungen berichten. Immer mehr Betroffene erzählen davon, Ängste vor ganz banalen Dingen – wie dem wöchentlichen Einkauf – zu entwickeln. Für Menschen, die sowieso schon unter Depressionen leiden, ist die Situation besonders belastend. Eine davon ist die herzkranke 30-jährige Mira, die bislang vergeblich auf ausreichende Unterstützung wartet: »Ich bin schwer herzkrank und habe Depressionen. Ich bin viel alleine, weil ich aufgrund der Armut natürlich nicht am sozialen Leben teilhaben kann. Langsam weiss ich auch nicht mehr, wie ich über die Runden kommen soll. Ich bin nur noch zuhause mit meinem Kummer und den Sorgen«.
Lindner, der hinter der Popularität des 9-Euro-Tickets nichts weiter als eine »Gratismentalität« vermutet, ignoriert, dass die Maßnahme für viele eine wirkliche Entlastung war. Neben den vor allem ökologischen Vorteilen hat es auch im Bereich der sozialen Teilhabe gewirkt. Für die 26-jährige Ruby hat sich durch das Ticket die Möglichkeit eröffnet, Freunde öfter treffen zu können und gemeinsam etwas zu unternehmen, was jetzt nicht mehr machbar ist: »Ich bin während Corona wegen meiner psychischen Gesundheit arbeitslos geworden. Beim Warten auf das Arbeitslosengeld habe ich mein gesamtes Erspartes aufbrauchen müssen. Wenn etwas kaputt geht, heißt das, ein bis zwei Monate nicht genug Geld für Essen zu haben, von Mobilität und sozialem Kontakt wie dem Sportverein ganz zu schweigen. Das 9-Euro-Ticket hatte es mir ermöglicht, zumindest Freunde wieder zu besuchen und an Treffen teilzunehmen, doch auch das ist jetzt wieder weg«.
»Ich verdiene mehr Geld, habe am Ende des Monats aber trotzdem genauso viel wie vorher, nämlich gar nichts.«
Für den 22-jährigen Niklas, der seit seinem 18. Lebensjahr zur Tafel geht, war das 9-Euro-Ticket eine Maßnahme, in der er endlich mitgedacht wurde: »Das erste Mal bei der Tafel war ich mit achtzehn. In den letzten Jahren ist die finanzielle Situation immer schlimmer geworden. Mit den immer weiter steigenden Preisen und dem kaum steigenden Bedarf eines Sozialhilfeempfängers ist es langsam wirklich schwer. Hinzu kommen die krass gestiegenen Energiepreise. Der einzige Lichtblick war tatsächlich das 9-Euro-Ticket«.
Der 40-jährige Traumapädagoge und Erzieher Karsten berichtet uns wiederum, dass er seit dem Auslaufen des Tickets wieder vor der Herausforderung steht, für seine Familie 230 Euro anstelle von 27 Euro monatlich für öffentliche Verkehrsmittel zu zahlen: »In den letzten drei Monaten sind unsere Lebenshaltungskosten durch verteuerte Lebensmittel gestiegen. Wir unterstützen unsere Eltern finanziell und müssen nach dem Wegfall des 9-Euro-Tickets als Familie fast 230 Euro für Bus und Bahn zahlen«.
Die Reallöhne sind seit Jahresbeginn in Deutschland um 6,7 Prozent gesunken. Dass sie nicht ausreichend sind, um ein anständiges Leben zu führen, ist kein Geheimnis. Die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro ist längst überfällig – reicht angesichts der steigenden Inflation aber kaum aus. Denn heute kann man sich von den 12 Euro deutlich weniger kaufen als bei der Ankündigung im Wahlkampf vor achtzehn Monaten. Dennoch feiert sich die Ampel für einen Mindestlohn, der nicht mal ansatzweise an die angestiegenen Preise angepasst wurde. Nicht nur der Mindestlohn, sondern die meisten Löhne der Arbeiter- und Mittelklasse waren schon vor den steigenden Kosten zu niedrig – so wie bei der 24-jährigen Emma, die 30-Stunden die Woche in einer Kita arbeitet. Trotz Ausbildung bleibt am Ende nicht viel übrig: »Ich verdiene mehr Geld, habe am Ende des Monats aber trotzdem genauso viel wie vorher, nämlich gar nichts«.
»Ich weiß einfach nicht, wie das ausreichen soll – und ich habe einen Hochschulabschluss und bin damit eigentlich noch privilegiert.«
Auch die 33-jährige wissenschaftliche Mitarbeiterin Franziska steht durch ihr niedriges Gehalt vor besonderen Herausforderungen: »Mir war immer klar, dass ich meinen Job nur machen kann, weil ich in einer WG lebe, denn die Miete ist für Alleinstehende oder Familien zu teuer in meiner Stadt. Gleichzeitig kann ich aber keine Rücklagen bilden und als Arbeiterkind erbe ich weder noch ist Kapital als Backup in meiner Familie vorhanden. Unvorhergesehene Kosten wie beispielsweise Zahn-OPs konnte ich nicht vom Verdienst abdecken, dafür arbeite ich schon immer in Honorarjobs nebenher. Ich weiß einfach nicht, wie das ausreichen soll – und ich habe einen Hochschulabschluss und bin damit eigentlich noch privilegiert«. Die 28-jährige an Multipler Sklerose sowie PTSD leidende Jovana berichtet, dass in so einer Situation an Selbstverwirklichung gar nicht erst zu denken ist: »Das Schlimmste ist, dass ich jeden Euro dreimal und nicht nur zweimal umdrehen muss und mittlerweile Spenden-Anträge ausfüllen muss, um mir beispielsweise meinen Schuljahresbeitrag leisten zu können. Es ist ein Gefühl des Überlebens und nicht mehr des Lebens.«
»Das, was ich noch sparen kann, wird die nächste Nebenkostenabrechnung fressen.«
Dem 22-jährigen Nick fehlt es vor allem an Verständnis aus der Politik. Als Kind einer alleinerziehenden Altenpflegerin, die er schon seit seinem 16. Lebensjahr finanziell mit Lohnarbeit unterstützt, beschreibt er seine Situation folgendermaßen: »Armsein ist ein Zustand, der dich ganz tief in dir, in deiner ganz individuellen Existenz angreift und dich wertlos fühlen lässt. Geld sollte dich als Menschen nicht definieren, aber unser System lehrt uns tagtäglich, dass du nur so viel Wert bist, wie du verdienst«. Der 61-jährige Rechtsbetreuer und Sozialarbeiter Martin fasst das Problem folgendermaßen zusammen: »Die Armen brauchen eine starke Stimme! Pflegebedürftigkeit und Armut hat in Deutschland keine Lobby und die Politik vergisst diese Menschen«.
Auch der 23-jährige Pfleger Maiki schließt sich Martins Urteil an und beklagt, dass es sich einfach nicht mehr lohnt, einer Arbeit nachzugehen, die einen gesellschaftlichen Nutzen hat. Arbeit muss seiner Meinung nach wieder mehr wertgeschätzt werden – und zwar nicht nur in Form von gesellschaftlicher Anerkennung, sondern durch anständige Bezahlung: »Ich hatte nie viel Geld und immer ein paar Schulden. Dank der Ausbildung konnte ich mir und meiner Freundin ein schönes Leben ermöglichen. Jetzt bleibt immer weniger Geld am Ende des Monats übrig und das, was ich noch sparen kann, wird die nächste Nebenkostenabrechnung fressen. Hinzu kommt die Undankbarkeit in der Pflege. Es ist nicht so, dass ich nicht gerne arbeite, aber wenn es einen kaputt macht und man trotzdem zu wenig Geld hat, erscheint es sinnlos«.
Die explodierenden Energiepreise rauben derzeit vielen den Schlaf. Die 41-jährige Angie beunruhigt vor allem die Tatsache, die wenigen und hart erarbeiteten Ersparnisse aufgrund von Gas- und Strompreisen zu verlieren: »Viel ansparen konnte ich nicht, aber nun habe ich Angst, dass meine wenigen Ersparnisse, die ich mir mühselig erarbeitet habe, für Gas und Strom komplett drauf gehen. Ich habe keine Ahnung, was da auf mich zukommt«. Auch die 35-jährige Krankenpflegerin Nicola Katharina teilt diese Angst: »Meinen hart erarbeiteten Lebensstil aufrechtzuhalten, scheint immer mehr Richtung Utopie zu gehen und der Schuldensumpf steht auch wieder vor der Tür«.
Die 34-jährige Physiotherapeutin Elisa empfindet nicht nur die Angst und Panikmache der Politik als extrem belastend, sondern vor allem, dass sich die Geldsorgen bis in die kleinsten Alltagssituationen hineindrängen: »Ganz aktuell ist meine Zahnarztrechnung höher ausgefallen und gefühlt ist die Zahnreinigung jetzt ein Luxus! Ich gehe arbeiten, um am Ende dreimal zu überlegen, ob man sich nach einem wirklich anstrengenden Tag eine Badewanne einlässt oder nicht und was das kostet. Die Lösungsansätze und die Verantwortung werden hauptsächlich an die untere und mittlere Schicht abgedrückt. Man lebte vorher schon beschränkt und achtsam, aber was jetzt verlangt wird, ist einfach katastrophal«.
»Das Schlimmste ist das Gefühl, mich von den gewählten Politikern nicht vertreten zu fühlen.«
Die 33-jährige Sozialarbeiterin Jessi, die seit Langem endlich finanziell unabhängig war, ist in der aktuellen Situation wieder genau da, wo sie vor einigen Jahren stand: »Nach Ausbildung und Studium und dadurch, dass ich nicht mehr alleine lebe, hatte sich meine finanzielle Situation sehr gebessert. Ich musste nicht mehr jeden Cent umdrehen und wir konnten uns nicht nur zwischendurch den einen oder anderen ›Luxus‹ leisten, sondern uns den Traum vom Eigenheim erfüllen. Wir sind nicht reich, aber ich habe zum ersten Mal, seit ich auf eigenen Beinen stehe, nicht dauernd finanzielle Ängste gehabt. Aktuell ist es für mich zum Glück noch nicht so eine Riesen-Katastrophe wie für andere. Eine Energiekostenerhöhung haben wir noch nicht bekommen, aber ich habe sehr große Sorge vor dem, was kommt und verzichte deshalb häufig auf Dinge, um möglichst viele Rücklagen für den ›Ernstfall‹ zu haben«.
Der 25-jährige Arbeitslose und baldige Student Marcel fühlt sich von der Politik unverstanden und fordert statt Einmalzahlungen einen generellen Politikwandel: »Das Schlimmste ist das Gefühl, mich von den gewählten Politikern nicht vertreten zu fühlen. Diese Politik bekämpft nicht die Ursachen der existierenden Probleme, sondern nur die Symptome, wenn überhaupt. Gleichzeitig habe ich Angst, als chronisch erkrankter und bald Studierender weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden«.
Nicht nur der russische Angriffskrieg und die verfehlte Energiepolitik, sondern vor allem die neoliberale Ausgestaltung des Energiemarkts trägt eine große Verantwortung für die aktuelle Notlage.
»Durch die gestiegenen Kosten duschen wir nur noch mit kaltem Wasser.«
Der politische Wille zur Veränderung, zu einer echten nachhaltigen und sozialen Energieversorgung ist derzeit einfach nicht vorhanden, so das Urteil des ehemals in der Landwirtschaft tätigen 33-jährigen Studenten Matteo: »Ich gebe über 70 Prozent meines Einkommens für Miete aus und ich sehe bei unserer Politik absolut keinen Willen zur Veränderung, Verbesserung und Hilfe. Ich weiß nicht, wo das noch enden soll und ich habe langsam die Schnauze voll«.
Während die große Mehrheit der Bevölkerung und der Wirtschaft unter den hohen Energiepreisen leidet, gibt es einige Konzerne, die von der Not profitieren. So hat beispielsweise der Energieversorgungskonzern RWE seine Gewinnprognose von 3,6–4,0 Milliarden Euro auf 5,0–5,5 Milliarden Euro erhöht. Damit ist klar: Die hohen Energiepreise des einen sind die Übergewinne des anderen. Bereits während der Coronapandemie hat ein Großteil der Bevölkerung verzichten müssen, während einige wenige von der Krise profitierten. Immer wieder wird von der Politik Verzicht gefordert.
Menschen wie der 24-jährige Kevin müssen inzwischen bei vielen Dingen zurückstecken: »Einkaufen ist fast unbezahlbar und durch das Leben im ländlichen Raum ist das Autofahren und damit auch Tanken eine Notwendigkeit. Man spart an allem, was geht. Im Winter werden deshalb fast alle Heizungen in der Wohnung kalt bleiben müssen. Das Schlimmste ist aber, dass man, obwohl man es sonst ohne zu überlegen tun würde, dreimal überlegt, ob man mit dem Haustier zum Tierarzt gehen kann«.
Auch Familien sind von der Krise besonders schwer betroffen. Die 39-jährige Alleinerziehende Ines erzählt: »Durch die gestiegenen Kosten duschen wir nur noch mit kaltem Wasser. Auch Nahrungsmittel werden langsam knapp und eintönig, weil ich mir nichts mehr leisten kann. Jeder Einkauf kostet 50 Euro aufwärts. Ich habe gleich zu Beginn des Monats kein Geld mehr und muss gucken, wie ich an Nahrungsmittel komme«.
»Wir gehen zur Tafel und Baden ist bei uns nicht mehr erlaubt. Es kann nichts mehr gespart werden«.
Auch die 32-jährige Anni, die mit ihrem Mann und den Schwiegereltern zusammen wohnt, ist verzweifelt. Trotz Kinderwunsch versuchen sie derzeit aus finanzieller Angst nicht mehr schwanger zu werden: »Mein Mann und mein Schwiegervater können nicht arbeiten gehen und meine Schwiegermutter arbeitet nur in Teilzeit. Das Geld fehlt also an allen Ecken und Enden. Alles ist teurer geworden, das Heizöl und das Benzin sind da nur die Spitze. Ohne Flohmärkte oder Ähnliches könnten wir uns kaum über Wasser halten. Eigentlich wollten mein Mann und ich versuchen schwanger zu werden, mittlerweile trauen wir uns das aber nicht mehr, da wir Angst haben, einem Baby finanziell nichts bieten zu können«. Bei anderen, wie der 38-jährigen alleinerziehenden Melanie, stellt sich die Frage, wo überhaupt noch eingespart oder verzichtet werden soll: »Wir kaufen secondhand, gehen zur Tafel oder Lebensmittelrettung, wir essen fast nur Sachen, die im Angebot sind, und Baden ist bei uns nicht mehr erlaubt. Es kann nichts mehr gespart werden«.
Derzeit betreffen Verzicht und Mangel wie so häufig vor allem die Ärmsten unserer Gesellschaft. Dabei ist es an der Zeit, dass alle Güter des Lebens endlich gerecht verteilt und die wachsende Unzufriedenheit und Hilflosigkeit ernst genommen werden.
Die Kampagne »Genug ist Genug« ruft Menschen dazu auf, die derzeitige Lage nicht weiter hinzunehmen und ihre Geschichten zu erzählen. Schriftliche Zusendungen werden fortwährend von uns gelesen und veröffentlicht, um die Einzelschicksale hinter der Krise sichtbar zu machen.
Marie Fischer hat ihren Bachelor in Politikwissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn erworben und studiert derzeit »Gesellschaftliche Strukturen und demokratisches Regieren« in Düsseldorf.