07. Dezember 2021
Die Grünen-Politikerin Cansin Köktürk ist Sozialarbeiterin und wurde als Ampel-Kritikerin bekannt. Im JACOBIN-Interview erzählt sie, wie ihr Arbeitsalltag ihre Politik beeinflusst und warum sie mehr radikale Gerechtigkeit von ihrer Partei einfordert.
Cansin Köktürk, 26. Oktober 2021.
Vergangenen Oktober hattest Du Dich klar gegen das Sondierungspapier ausgesprochen. Jetzt ist der Koalitionsvertrag da. Lehnst Du auch den ab?
Es gibt auf jeden Fall positive Aspekte, das muss man auch mal erwähnen. 12 Euro Mindestlohn sind gut. Klar könnte da mehr gehen, aber das ist schon ein Fortschritt. Kindergrundsicherung, die Wahlrechtsreform, die Streichung von Paragraf 219a oder die Abschaffung von Kettenduldungen finde ich auch super.
Aber es gibt natürlich auch vieles, mit dem ich überhaupt nicht zufrieden bin – die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld zum Beispiel. Das ist Blödsinn, solange der Regelsatz nicht deutlich angehoben wird. Ich weiß nicht wem die 3 Euro mehr etwas bringen sollen.
Außerdem fehlt mir eine Steuerreform. Die kleinen und mittleren Einkommen werden nicht ent- und die großen nicht stärker belastet. Bei den Energiekosten sehe ich auch keine Entlastung, es gibt keine Bürgerversicherung, keine Rentenreform und die Asylpolitik ist meiner Meinung nach auch mangelhaft.
Du hast damals gesagt, Du hättest das Gefühl, die FDP habe die Wahl gewonnen. Fühlt sich das immer noch so an?
Vorher wurde viel von einem Generationenwahlkampf gesprochen. Aber um Generationengerechtigkeit herzustellen, braucht es Umverteilung, sonst kommen wir aus diesem Kreislauf nicht raus. Armut wird immer weitervererbt. Im Koalitionsvertrag vermisse ich Maßnahmen, die dieses Problem ernst nehmen. Die FDP hat sich da einfach durchgesetzt. In diesem Sinne fühlt es sich schon noch so an, als hätte sie die Wahl gewonnen.
Dir wird immer wieder der Titel »Rebellin« zugeschrieben. Wie wird das innerhalb der Partei aufgenommen?
Ich erhalte tatsächlich überwiegend Zuspruch. Aber natürlich habe ich beispielsweise für meine Kritik am Sondierungspapier auch Gegenwind bekommen. Da wurde mir unterstellt, dass ich unsolidarisch gehandelt hätte. Vielleicht ist das für manche unsolidarisch, aber ich finde es unsolidarischer, Versprechen nicht einzuhalten. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich auf Fraktionszwang oder Parteimitgliedschaft einfach nicht so viel gebe. Mich interessieren die Menschen da draußen eben mehr.
Außerdem finde ich, dass konstruktive Kritik eine Partei weiterbringt. Und deswegen werde ich auch nicht aufhören für soziale Gerechtigkeit und eine humane Flüchtlingspolitik zu kämpfen.
Wenn Du öffentlich auftrittst und diese Kritik übst, machst Du das als die Politikerin Cansin oder als die Sozialarbeiterin Cansin?
Ich kann da nicht wirklich unterscheiden. Ich mache meinen Job aus Überzeugung. Und ich bin schon bewusst als Sozialarbeiterin in die Politik gegangen, mit dem Ziel auch eine zu bleiben, und mich nicht durch den Fraktionszwang verbiegen zu lassen.
Die Soziale Arbeit selbst hat ja grundsätzlich einen politischen Auftrag. Du kämpfst ja jeden Tag dafür, die Menschen dort aufzufangen, wo die Politik versagt hat. Es ist für mich immer schwierig, jemandem zu folgen, der mir nur anhand von Theorien erklären will, was jetzt gelungene Integration ist oder so, aber das aus der Praxis gar nicht kennt. Diese Realitäten und Erfahrungen werden oft übersehen, wenn man selbst Teil der Politik-Blase ist.
Und als Sozialarbeitern sehe ich die absolute Notwendigkeit, dass die Arbeit, die wir Tag für Tag machen, in die Politik getragen wird: Am Ende bleibt es schließlich an uns hängen, den Menschen zu erklären, was sich durch den Koalitionsvertrag für sie verändert hat und was nicht. Wir bekommen die Auswirkungen dieser Politik direkt zu spüren.
Du arbeitest ja mit Menschen, die prekär leben, arbeitest aber gleichzeitig in einer Branche, in der die Arbeitsbedingungen oft auch für euch sehr hart sind. Was bedeutet das für Deine politische Ausrichtung?
Ich habe die Debatte um die Pflege während der Coronapandemie sehr genau verfolgt. Es wurde ja auf einmal ziemlich viel über Pflegekräfte gesprochen, obwohl die schon vor der Pandemie total überlastet waren. Es macht mich wütend, dass es erst eine Pandemie braucht, damit die Überlastung vom Pflegepersonal gesehen wird. Diese Menschen arbeiten seit Jahren unter diesen Bedingungen und müssen endlich die Anerkennung bekommen, die sie verdienen.
Dasselbe gilt auch für uns Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Unsere Branche ist aber ein bisschen in Vergessenheit geraten. Wir machen ja auch während der Pandemie ständig Hausbesuche und arbeiten in überfüllten Einrichtungen, wo die Infektionsgefahr einfach unglaublich hoch ist. Grundsätzlich würde ich sagen: Die Soziale Arbeit braucht eine viel stärkere Stimme, weil sie so eine immense Aufgabe leistet.
Jetzt haben die Grünen aber ja beispielsweise die Hartz-Reformen mitgetragen und sind auch darüber hinaus nicht als Partei der sozialen Gerechtigkeit bekannt. Wie gehst Du mit diesen Widersprüchen um?
Fehler passieren. Ich bin kein Fan davon, nachtragend zu sein. Mir geht es darum, diese Fehler auszubügeln. In unserer Gründungszeit waren wir noch deutlich mehr Anti-Parteien-Partei und Bewegung als jetzt. Ich glaube, dass wir diese radikale Positionierung zu vielen Fragen in den letzten Jahren vernachlässigt haben, zum Beispiel auch bei den Rüstungsexporten. Das macht mich total wütend. Und ich bin auch in die Partei eingetreten, weil ich diese ursprünglichen Grundwerte wieder stark machen will.
Es ist nicht so, als würde ich sagen: Die Partei muss sich komplett neu denken oder als würde ich jetzt eine reine Bewegungspartei daraus machen wollen oder können. Die Zeiten ändern sich und die Gesellschaft auch. Aber wenn man von Menschenrechten oder Formen von monetärer Hilfe spricht, dann muss man auch dazu stehen und politische Entscheidungen für das Wohl der Menschen treffen und nicht das Leid verschlimmern. Mein Ziel ist es, diesen Grundgedanken einer radikal humanitären und radikal gerechten Partei zurückzubringen. Auch bei meinen Parteigenossen und -genossinnen.
Und was hat für Dich damals gegen SPD oder die LINKE gesprochen?
Ich finde es nicht gut, dass wir so extrem zwischen den Parteien unterscheiden, die eigentlich ähnliche Ziele haben, und dass trotzdem so oft gegeneinander geschossen wird. Es ist nicht so, als wäre ich zu den Grünen gegangen, weil mir das Ziel des Sozialismus irgendwie auf die Nerven gegangen wäre. Für mich war damals einfach eher der Klimaschutz ausschlaggebend. Und für mich bedingen sich Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit gegenseitig. Wobei ich an der Stelle sagen muss, dass die LINKE auch ein gutes Klimaprogramm hat.
Was geht in Dir vor, wenn Robert Habeck mit Blick auf die katastrophale Situation der Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze sagt, es brauche Infokampagnen vor Ort?
Das ist realitätsfern, muss ich ganz ehrlich sagen. Es geht um Leben und Tod. Es geht darum, dass wir ein Mindestmaß an Sicherheit schaffen. Und das kann nicht erst in einem Monat passieren. Diese Regierung wird auf jeden Fall an Glaubhaftigkeit verlieren, wenn sie diese Katastrophe nicht in den Griff bekommt.
Man kann sich nicht mit Begriffen wie »Humanität« und »Menschenrechte« schmücken und am Ende nichts tun außer einer Infokampagne. Mir fehlt im Koalitionsvertrag was genau jetzt der Plan ist, um die Menschen an den EU-Außengrenzen zu retten und nicht mehr sterben zu lassen.
Mit Sarah-Lee Heinrich oder mit Timon Dzienus gibt es im Umfeld der Grünen ja gerade mehrere junge Menschen, die linker sind als die Partei. Siehst Du Dich in dieser Riege und würdest Du sagen, da entsteht gerade so etwas wie eine laute, junge Parteilinke?
Ich denke schon. Ich finde die Arbeit, die die Grüne Jugend macht, wirklich sehr gut. Wir sind öfter mal im Austausch und es kann durchaus sein, dass daraus eine linke Strömung entstehen kann. Das merke ich ja auch an dem Support, den ich aus der Partei und ihrem Umfeld für meine Positionen bekommen. Da gibt es viele Menschen, die genauso denken wie ich. Die sagen: Danke Cansin, endlich sagt’s mal jemand.