05. September 2022
Putin wollte den postsowjetischen Raum mit russischem Kapital beherrschen. Als das misslang, stellte sich Russland neu auf – als expansionistische Imperialmacht nach Vorbild des Zarenreichs.
In Teilen der Linken gibt es einen seltsamen Widerwillen, den russischen Imperialismus als ein eigenständiges Phänomen zu betrachten. Meistens wird er als ein Spiegelbild des westlichen Imperialismus verstanden – demnach reagiert er auf dessen Provokationen und ahmt ihn dabei im Wesentlichen nach.
Diese »Imitations«-Theorie ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wie der liberale Intellektuelle Ivan Krastev feststellt, wiederholte Putin in seiner Rede zur Rechtfertigung der Annexion der Krim im Jahr 2014 zum Teil wörtlich die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die von den USA und ihren NATO-Verbündeten nach Kräften unterstützt wurde. Auch weist Krastev darauf hin, dass der russische Angriff auf Kiew mit dem Beschuss des Fernsehturms der Stadt begann, so wie die NATO 1999 den Belgrader Fernsehturm bombardierte.
Doch diese Ähnlichkeiten beweisen lediglich, wie besessen Putin von der »Heuchelei des Westens« ist und wie sehr er sich wünscht, sie vor der Welt bloßzustellen. Sie ändern nichts daran, dass die Geschehnisse auf der Krim mit denen im Kosovo kaum vergleichbar sind – so wurde der Kosovo zum Beispiel nicht von den USA annektiert – und dass der Kreml in den letzten Jahren von dieser Rhetorik abgerückt ist.
Die Rückkehr des russischen Imperialismus auf die Weltbühne lässt sich nicht von der globalen interimperialistischen Rivalität trennen – aber auch nicht darauf reduzieren. Russlands einzigartige Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat eine spezifische, scheinbar anachronistische Form des Imperialismus hervorgebracht, die überwiegend auf territoriale Expansion ausgerichtet ist und in der Invasion der Ukraine kulminiert.
Vor mehr als einem Jahrhundert bemerkte Leo Trotzki, dass infolge einer Kombination aus ungünstigen geografischen Bedingungen, geringer Bevölkerungsdichte und hartem internationalem Wettbewerb in Russland ein mächtiger, militaristischer Staat entstanden war. Dieser Staat versuchte, die wirtschaftliche Entwicklung durch staatliche Interventionen zu fördern, behinderte sie jedoch zugleich. Trotzkis Genosse Wladimir Lenin, der später die Oktoberrevolution anführen sollte, fügte spöttisch hinzu, der russische Staat habe einen eigenen, »beispiellos brutalen, mittelalterlichen, wirtschaftlich rückständigen, militärisch-bürokratischen Imperialismus« hervorgebracht.
Trotzki erkannte, dass sich die historische Entwicklung Russlands aus einem Zusammenspiel spezifischer lokaler Bedingungen und der Konkurrenz der Großmächte ergab. Das trifft in vielerlei Hinsicht auch auf den heutigen russischen Imperialismus zu, der noch in einigen weiteren Punkten dem zaristischen Imperialismus ähnelt, wie Lenin ihn beschrieb.
Die Einführung des Kapitalismus im Russland der 1990er Jahre verhalf einer neuen herrschenden Klasse zum Aufstieg. Diese kapitalistische Elite fungierte zugleich als eine sogenannte Kompradorenbourgeoisie – eine lokale herrschende Klasse, die den Ressourcenreichtum des Landes in ausländische Vermögenswerte und Immobilien umwandelt – und als nationale Bourgeoisie, die privatisierte Industrien schnell aufkaufte und die Lieferketten im gesamten postsowjetischen Raum dominierte.
»Einer der Architekten des russischen Kapitalismus sprach damals ganz offen davon, dass Russland ein ›liberales Imperium‹ errichten wolle.«
Gleichzeitig erbte Russland von der Sowjetunion ein aufgeblähtes Militär und den zweitgrößten militärisch-industriellen Komplex der Welt. Die Offiziere dieses gigantischen Apparats waren noch im strategischen Denken der Sowjetzeit geschult und übertrugen es in ihre neue Tätigkeit als russische Militärbürokraten.
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!
llja Matweew ist Politikwissenschaftler mit einem Schwerpunkt auf der politischen Ökonomie Russlands. Er hat unter anderem in den Zeitschriften Europe-Asia Studies, South Atlantic Quarterly und Socialist Register publiziert.
Ilja Budraitskis ist Politik- und Sozialtheoretiker und lebte bis vor kurzem in Moskau, wo er an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie am Institut für zeitgenössische Kunst unterrichtete. Sein neuestes Buch Dissidents among Dissidents über die Linke in Russland erschien Anfang 2022 bei Verso.