11. Januar 2023
Die politische Rechte ist im Aufwind, die Linke ist in der Kriegsfrage gespalten, die Klimakrise spitzt sich ungehalten zu: Was das für die Partei der Europäischen Linken bedeutet, erklärt der frischgewählte EL-Präsident Walter Baier im JACOBIN-Interview.
Walter Baier wurde auf dem letzten Parteitag der Europäischen Linken am 9. Dezember 2022 zum neuen Präsidenten gewählt.
Die Europapolitik zählt heutzutage nicht gerade zu den Bereichen, in die Linke viele politische Hoffnungen legen. Sei es die Einführung des Euros in den 1990er Jahren, die missglückte Einführung einer europäischen Verfassung zehn Jahre später oder die Erpressung Griechenlands durch die sogenannte Troika 2015: Linke Politik in Europa bedeutet in den meisten Fällen, gegen das, was im Namen »Europas« durchgesetzt wird, anzukämpfen.
Und dennoch stellt sich die Frage, was mit diesen europäischen Institutionen, deren Beschlüsse das Leben von Hunderten von Millionen Europäerinnen und Europäern beeinflussen, und dem europäischen Parlament, das zwar tagen und beraten darf, aber keine Entscheidungen treffen kann, umzugehen ist. Ablehnen und ignorieren? Oder versuchen, sozialistische Alternativen zumindest sichtbar zu machen und das Feld nicht komplett den Rechten und Neoliberalen überlassen? Die Partei der Europäischen Linken, die 2004 gegründet wurde und inzwischen über zwanzig nationale Parteien unter ihrem Dach versammelt, hat sich für Letzteres entschieden – entweder in der Regierung, wie gerade in Spanien oder Slowenien, in der Opposition, wie in Frankreich, oder auf der Straße.
Nach einer Phase des Aufschwungs in der Zeit nach der Finanzkrise musste die europäische Linke in den letzten Jahren einige herbe Rückschläge einstecken und sich von manchen Mitgliederparteien wieder verabschieden. Wo steht die Europäische Linke also heute? Und worin sieht die Partei in einer Zeit, in der die politische Rechte neuen Rückenwind zu gewinnen scheint, ihre Aufgabe?
JACOBIN hat mit dem österreichischen Marxisten Walter Baier, der im Dezember vergangenen Jahres zum neuen Vorsitzenden der Europäischen Linken gewählt wurde, über die Grenzen der europäischen Demokratie, die Chancen für linke Politik, den Krieg in der Ukraine und dessen Bedeutung für den Internationalismus gesprochen.
Du bist vor Kurzem zum Präsidenten der Partei der Europäischen Linken (EL) gewählt worden. Wie schätzt Du aktuell die allgemeine Lage der Linken in Europa ein?
Erstens ist es schon mal wichtig festzustellen, dass die europäische Linke mehr ist als die EL. Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Ökologiebewegungen, feministische Bewegungen, Künstlerinnen, Wissenschaftler – das ist ja alles die Linke im weiten Sinn. Und auch parteipolitisch ist es so, dass es Parteien außerhalb der EL gibt, die inhaltliche Überschneidungen mit uns haben, aber nicht der EL angehören.
Um die EL zu beschreiben, ziehe ich eigentlich eher den Begriff der »sozialistischen Linken« vor. Denn der Begriff »Linke« impliziert eine Identität auf einem Spektrum, das von linksliberal bis linksradikal reicht.
»Links« ist ein viel schwammigerer Begriff als »sozialistisch«.
Ja, und er ist auch politisch irreführend. Wir erleben jetzt, wie sich das linke Spektrum in der Kriegsfrage ausdifferenziert. Aber auch in der Frage des richtigen Umgangs mit dem Islamismus und dem antimuslimischen Rassismus oder der Frage der Solidarität mit bestimmten Regierungen, die einen progressiven Anspruch haben, lässt sich das beobachten.
Mir geht es um den Teil der Linken, der die Überwindung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ins Zentrum ihres Programms stellt. Alle Fragen sind jetzt überlagert durch den Krieg. Aber die Forderungen, die wir in der Auseinandersetzung mit dem Krieg erheben, sind natürlich von einer bestimmten Gesamtanalyse abhängig.
»Die Krise des Neoliberalismus bedeutet Frustration, Demütigung und massive soziale Entbehrungen für große Teile der Bevölkerung.«
Die nationalistischen, rechtsradikalen, neofaschistischen Parteien könnten die stärkste Fraktion im Europaparlament bilden, und es ist ganz offensichtlich, dass die Liberalen und Konservativen da keinen Damm der Abwehr bilden.
Meine Gesamtanalyse ist, dass die Welt in einem objektiven Transformationsprozess begriffen ist. Es ist nicht die Frage, ob wir die multipolare Weltordnung fordern – die entsteht sowieso. Dieser globale Übergangsprozess bildet den Rahmen, innerhalb dessen wir mit der ökologischen Krise umgehen müssen. Die ökologische und soziale Krise – in erster Linie das Gefälle der Lebenschancen zwischen Nord und Süd – verknüpfen sich zur heutigen Transformationskrise, die durch die Konkurrenz verschiedener imperialistischer Zentren überdeterminiert wird.
Das ist eine sehr explosive Mischung. Das Wichtigste ist, zu verhindern, dass sich diese Widersprüche in einem Weltkrieg entladen. Dazu ist erforderlich, breitest mögliche Allianzen einzugehen. Es geht – wenn man so will – darum, die Welt zu retten, aber nicht aus den Augen zu verlieren, dass eine andere Welt nötig und möglich ist.
Die Europäische Union ist eine notorisch antidemokratische und prokapitalistische Institution. Sie verfügt über verschiedene Mechanismen, um Marktliberalisierung vorantreiben und Verstaatlichung zu verhindern. Sie kann Mitgliedstaaten sogar dazu zwingen, Austerität durchzusetzen. 2015 haben wir das in Griechenland auf eine dramatische Art und Weise gesehen. Wie könnte ein produktiver sozialistischer Ansatz gegenüber einer solchen Institution aussehen?
Dem stimme ich zu. Wahr ist aber auch: Die EU existiert und die Transnationalisierung, für die sie einen politischen Rahmen abgibt, ist vor allem ein ökonomischer Prozess, aus dem man nicht einfach austreten kann.
Die EU ist neoliberal, so wie ihre Mitgliedsstaaten neoliberal sind. Genauso wie diese ist die EU ein Kampffeld, auf dem die sozialen, klassenmäßig bestimmten Gegensätze ausgetragen werden. Du hast zurecht darauf hingewiesen, dass das institutionelle Gefüge der EU undemokratisch ist. Mit der Machtverteilung, die dem Europäischen Rat gegenüber dem direkt gewählten Europäischen Parlament den Vorrang einräumt, gleicht die EU eher einem aufgeklärten Absolutismus als einer parlamentarischen Demokratie. Würde die EU einen Beitrittsantrag zur EU stellen, müsste sie mit dieser Kompetenzaufteilung abgelehnt werden. Dieser Zustand erweist sich in der jetzigen Krise als zunehmend dysfunktional. Bei den Ratssitzungen treffen die nationalistischen Superegos aufeinander und versuchen, sich im Hinblick auf ihre nationalen Öffentlichkeiten zu profilieren, was immer öfter Entscheidungen, darunter auch sinnvolle und notwendige, blockiert.
»Ich sehe eigentlich auch gar keine andere Alternative als die Demokratisierung der Institutionen.«
Aus demokratischer Perspektive wäre es meiner Meinung nach notwendig, dass ein auf Grundlage eines gleichen Wahlrechts – »one person, one vote« – gewähltes Parlament in allen Bereichen, die in die Kompetenz der EU fallen, die Entscheidungen trifft. Das würde heißen, dass bei den Wahlen – oder überhaupt bei Entscheidungs- und Machtkämpfen –, klassenmäßig bestimmte Programme und nicht Nationen miteinander konkurrieren. Anders gesagt: Wir müssen also denselben Rahmen herstellen, den sich die sozialistischen Parteien in den Nationalstaaten erobert haben.
Ich sehe eigentlich auch gar keine andere Alternative als die Demokratisierung der Institutionen. Denn wenn der Befund zutrifft, dass wir uns in dieser großen Phase der Transformation befinden, dann müssen wir anerkennen, dass das Änderungen in den Eigentumsverhältnissen ebenso wie in der Lebensweise für jeden Einzelnen und jede Einzelne erfordern wird. Diese Änderungen werden aber nur dann erfolgen können, wenn sie auf Konsens treffen. Und Konsens entsteht aus politischem Kampf und ideologischer Auseinandersetzung, und letztlich auch aus Demokratie. Die EU wird entweder demokratisch sein oder zerfallen.
Was wird es brauchen, um die EU zu demokratisieren? Hast Du als neuer Präsident der EL eine konkrete Strategie, eine Demokratisierung voranzutreiben? Und hat diese Strategie einen voraussichtlichen Zeitrahmen?
Das Hauptmittel der Demokratisierung waren und sind soziale Kämpfe. Es geht darum, transnationale europäische Kämpfe zu führen. Die aktuellen Streiks der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner für die Verteidigung des Lebensstandards weisen objektiv über den Rahmen der Nationalstaaten hinaus. Die Verteidigung und der Ausbau öffentlichen Eigentums konvergiert mit den Forderungen der Ökologiebewegungen nach einem anderen System der Mobilität. Aufgabe der EL als einer »verbindenden Partei« ist es, solche Zusammenhänge herzustellen, die Europäisierung der Kämpfe »an sich« in eine Europäisierung »für sich« zu verwandeln.
Marc Botenga, ein Europa-Abgeordnete der belgischen Partei der Arbeit, hat im Dezember auf unserem Parteitag gesagt, 2023 muss ein Jahr der Kampagnen werden. So sehe ich das auch. Dieses Jahr muss ein Jahr der Verbindung zwischen der EL und den sozialen Kämpfen werden. Natürlich ist das leichter gesagt als getan, denn die EL ist eine Partei der Parteien und kann sich nur gemäß einer Strategie bewegen, die unter den Parteien konsensfähig ist. Aber genau das ist meine eigentliche Aufgabe als Präsident: einen solchen Konsens zu moderieren.
Die Wahlen zum Europaparlament 2024 werden auch im Zeichen der Konfrontation mit der radikalen, nationalistischen Rechten stehen. Die Krise des Neoliberalismus bedeutet Frustration, Demütigung und massive soziale Entbehrungen für große Teile der Bevölkerung. In vielen Ländern führt das zu einem nationalen Chauvinismus und damit auch zu einer Stärkung der radikalen Rechten.
Die nationalistischen, rechtsradikalen, neofaschistischen Parteien könnten die stärkste Fraktion im Europaparlament bilden, und es ist ganz offensichtlich, dass die Liberalen und Konservativen da keinen Damm der Abwehr bilden. Wer, wenn nicht die sozialistische Linke, könnte zu einem Pol werden, um den sich progressive Kräfte neu gruppieren?
Der Europawahlkampf stellt eine besondere Gefahr für die Linke dar, weil es aufgrund der undemokratischen Natur der Institution sehr schwierig ist, auf EU-Ebene konkrete Veränderungen durchzusetzen, die das Leben der Menschen verbessern. Da die Rechte sowieso den Status quo gegen fortschrittliche Veränderungen verteidigt, sind sie dieser Gefahr nicht ausgesetzt. Das Risiko, dass sie ihre Wahlversprechen nicht einhalten kann und ihre Wählerschaft enttäuscht, ist viel geringer. Wie soll die Linke mit dieser Gefahr umgehen, die zur Europapolitik gehört?
Das ist die Gefahr, die mit dem Parlamentarismus ganz generell verbunden ist. Du trittst zu Wahlen an und Du versprichst, dass durch die Stimmabgabe für Deine Partei sich alles zum Besseren wendet. Aber Tatsache ist, dass Politik auf der Grundlage ökonomischer Strukturen kapitalistischer Verhältnisse stattfindet. Und das engt den Rahmen im nationalstaatlichen und im europäischen Maßstab ein.
Ehrlich gesagt sehe ich die Gefahr, dass die europäische Linke unrealistische Erwartungen gegenüber der EU erzeugt, nicht. Erstens hat die Niederlage der griechischen Regierung in der Auseinandersetzung mit der Troika 2015 viele Illusionen bezüglich der EU zerstört. Zweitens sind die Wahlen zum Europaparlament auch nationale Wahlen, wo Parteien nationale Kampagnen führen. Und drittens glaube ich, dass eine Wahlkampagne, ob national oder europäisch, nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie mit sozialen Kämpfen verbunden ist. Der Aufstieg von Podemos zum Beispiel war unmittelbar mit einer riesigen sozialen Bewegung verbunden.
Eine der wenigen Erfolgsgeschichten für die europäische Linke in letzter Zeit ist Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise, der in der Vergangenheit euroskeptische Positionen vertreten hat. In Italien hingegen, wo die Demokratische Partei – die Nachfolgerin der Kommunistischen Partei – der EU gegenüber völlig unkritisch ist, wurde gerade eine Politikerin aus der faschistischen Tradition des Landes zur Ministerpräsidentin gewählt. Wäre es für die Linke nicht klug, aus wahltaktischen Gründen gegen die EU zu sein, insbesondere wenn wir die radikale Rechte untergraben wollen?
La France Insoumise ist Teil der EL und der Linksfraktion im Europaparlament, und die PD Italiens gehört der Partei der Europäischen Sozialdemokraten an. Das ist der Unterschied.
Darüber hinaus scheint mir die Frage »für oder gegen die EU« falsch gestellt zu sein. Das ist das Dilemma, vor das uns die herrschende Politik stellen will: Akzeptiert das neoliberale, autoritäre Krisenmanagement oder die Nationalisten kommen. Wir dürfen das nicht akzeptieren, sondern müssen uns eingestehen, dass wir angesichts des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses und im gegebenen Gefüge der EU-Institutionen in der Defensive und in der Opposition zum Mainstream agieren. Das ist so, auch wenn Parteien der radikalen Linken sich in einzelnen Ländern an Regierungen beteiligen, und es schließt auch nicht aus, dass an bestimmten Stellen Reformen im Interesse der Lohnabhängigen innerhalb des Systems erreicht werden. Dafür hat die Linksfraktion im Europaparlament einige gute Beispiele geliefert.
»Der Kern der bedrohlichen Sicherheitslage ist meiner Meinung nach die Stationierung von Atomwaffen in Europa.«
Ich sehe die EL eben als Oppositionskraft, in Menschenrechtsfragen – die Flüchtlingspolitik der EU ist ein ethischer Supergau –, aber auch und vor allem in sozial-ökonomischen Fragen. Wir verlangen die Nationalisierung oder Sozialisierung der großen Energieanbieter. Wir verlangen die Aufhebung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um die ökologische Transformation finanzieren zu können. Wir sind in Opposition zu den Aufrüstungsprogrammen, die die EU zurzeit beschließt. All das sind Forderungen, die auf der Ebene der EU ihren politischen Ausdruck in der EL finden.
Du bist nicht nur als ehemaliger Vorsitzender der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bekannt, sondern auch als NATO-Kritiker. Ich vermute, wir sind beide der Meinung, dass die NATO ein Instrument des US-Imperialismus ist. Immer mal wieder wird in den Medien diskutiert, ob die EU ihre eigene Armee schaffen soll. Wie stehst Du dazu? Sollte die Linke das als Maßnahme gegen die imperiale Hegemonie der USA unterstützen?
Ich glaube, man muss diese Frage vor allem konkret stellen. Unter heutigen Umständen würde die Verwandlung der EU in eine Militärunion lediglich ein zweites Standbein der NATO schaffen. Das wäre weder im Interesse der europäischen Sicherheit noch im Interesse der europäischen Bevölkerungen.
Wenn man die Frage der NATO aus der Perspektive der europäischen Sicherheit stellt, dann ist generell zu sagen, dass gemeinsame Sicherheit nicht auf der Grundlage eines Militärpakts entstehen kann. Die historische Friedensforschung zeigt, dass Militärpakte in den allermeisten Fällen nicht zu Sicherheit, sondern zu Kriegen geführt haben. Militärpakt heißt: Ich rüste auf gegen irgendjemanden, der wieder gegen mich aufrüstet, und an irgendeinem Punkt wird aus der Aufrüstung die militärische Konfrontation. Im Interesse der europäischen Bevölkerungen müssten wir genau das Gegenteil tun, nämlich abrüsten.
Der Kern der bedrohlichen Sicherheitslage ist meiner Meinung nach die Stationierung von Atomwaffen in Europa. Das lässt sich sogar empirisch zeigen, weil die Welt aus der Perspektive der Vereinigten Staaten anders ausschaut als aus der Perspektive Europas. Ich war vor zwei Monaten in New York und war erstaunt darüber, dass der Ukraine-Krieg in den US-Medien anders als in Europa eine zweitrangige Rolle spielt. Es ist ein Krieg wie in Afghanistan oder Syrien – es ist eines von vielen US-Engagements. Aus europäischer Perspektive aber, wo es 108 Atomkraftwerke und 300 Großstädte gibt, haben wir ein anderes sicherheitspolitisches Szenario und ein anderes sicherheitspolitisches Interesse.
Deshalb ist notwendig, die europäische Sicherheit von den USA abzukoppeln. Und das bedeutet, eine Politik zu machen, die darauf abzielt, Atomwaffen abzubauen oder völkerrechtlich verankerte atomwaffenfreie Zonen durchzusetzen, wie es sie in Lateinamerika und Afrika bereits gibt. Mit der NATO ist das alles nicht zu machen. Aber erst auf der Basis einer solchen Friedensstrategie könnte man die Diskussion eröffnen, ob und mit welchen Aufgaben, eine EU-Verteidigung geschaffen werden sollte.
Du hast als Präsident der EL Deine Funktion als Konsensstifter angesprochen. Wie soll die Partei grundsätzlich gemeinsame Positionen finden, wenn es Themen gibt, bei denen verschiedene Nationalparteien verschiedene Positionen haben? Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine haben etwa manche Linksparteien in Skandinavien ihre Opposition zu einem NATO-Eintritt abgeschwächt oder aufgegeben.
Ich werde versuchen, eine doppelte Funktion auszuüben. Ich werde auf der einen Seite moderieren und Konsens herstellen. Aber ich habe mich in den letzten fünfzehn Jahren auch wissenschaftlich mit europäischer Integration und europäischer Sicherheitspolitik beschäftigt, und habe daher auch eigene Meinungen, die ich zur Diskussion stellen werde. Bei der Konsensfindung gehe ich von zwei Überlegungen aus. Die eine ist, dass für Auffassungsunterschiede in der Linken in erster Linie nicht ideologische Unterschiede ausschlaggebend sind, sondern unterschiedliche objektive Bedingungen, die zu unterschiedlichen politischen Urteilen führen. Wir sollten uns daher nicht gegenseitig belehren, sondern die jeweiligen Interessen im Dialog verstehen lernen.
»Ob Kurdinnen und Kurden in Schweden an die Türkei ausgeliefert werden, ist eine Kampffrage.«
Das zweite methodische Prinzip ist eine Schlussfolgerung aus meiner bisherigen politischen Arbeit: Natürlich geht es in der Politik immer um Kompromisse. Aber bisweilen ist, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, auch etwas anderes erforderlich, nämlich eine Vertiefung der Analyse. Vor allem muss man nach Vorne denken.
Der Krieg in der Ukraine ist ein geradezu klassisches Beispiel dafür. Schweden und Finnland sind dabei, der NATO beizutreten. In Finnland ist der Linksbund, eine Beobachterpartei in der EL, an der Regierung beteiligt. Jetzt kann man natürlich viele Worte darüber verlieren, wie bedauerlich dieser Beschluss ist. Aber das Leben und die Politik gehen weiter. Es stellen sich Fragen wie: Werden in Schweden und Finnland Atomwaffen oder atomwaffenfähige Trägersysteme stationiert? Werden die beiden Länder die Stationierung fremder Truppen gestatten? Werden sie sich an NATO-Interventionen beteiligen?
Mit diesen Fragen sind heute alle NATO-Mitgliedsstaaten konfrontiert ist. Und es sind Kampffragen. Ob Kurdinnen und Kurden in Schweden an die Türkei ausgeliefert werden, ist eine Kampffrage. All diese Fragen werden mit einem NATO-Beitritt nicht gelöst, sondern kommen auf den Tisch.
Bei Debatten über den Ukraine-Krieg und seine Folgen ist es meiner Meinung nach weniger relevant, über die gebrochenen Versprechen an Gorbatschow, die russische Intervention in Tschetschenien oder die NATO-Osterweiterung zu reden. Da habe auch ich meine Interpretation, aber solche Interpretationen sind immer strittig.
Meiner Meinung nach müssen wir darüber diskutieren, was europäische Sicherheit heute und in Zukunft erfordert. Natürlich muss der Krieg in der Ukraine beendet werden und die russischen Truppen abziehen. Eine Friedensregelung muss die nationale Selbstbestimmung der Ukraine ebenso wie die russischen Interessen an einer sicheren Grenze berücksichtigen. Aus gesamteuropäischer Sicht geht es aktuell um eine Einigung zwischen Russland und den USA, in Europa nicht neuerlich atomare Mittelstreckenraketen zu stationieren. In der Perspektive sollte Europa überhaupt von den Atomwaffen befreit und das Niveau der Rüstungen vermindert werden. Das sind die Fragen bei denen wir – unbeschadet der Beurteilung der Vorgeschichte des Kriegs in der Ukraine – zu gemeinsamen Schlussfolgerungen kommen müssen.
Walter Baier wurde auf dem 7. Parteitag der Europäischen Linken im Dezember 2022 als deren neuer Präsident gewählt. Er war 1994–2006 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Österreichs und 2006–2021 Koordinator von transform! europe, die parteinahe Stiftung der EL.