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09.02.2022

Wenn wir die Rechten schlagen wollen, müssen wir ihre Argumente verstehen

Konservative verwenden seit 200 Jahren dieselben Tricks, um Linke zu entmutigen und so Fortschritt zu verhindern.

Ronald Reagan und Margaret Thatcher in Venedig, 1987.

Ronald Reagan und Margaret Thatcher in Venedig, 1987.

Levan Ramishvili / Flickr.

Von Matt McManus

Übersetzung von Alexander Brentler

Zehn Jahre nachdem die neoliberale Revolution von Ronald Reagan und Margaret Thatcher den politischen Konsens entschieden nach rechts verschoben hatte, veröffentlichte der Ökonom und Sozialwissenschaftler Albert Otto Hirschman im Jahr 1991 ein kurzes Werk mit dem Titel Denken gegen die Zukunft: Die Rhetorik der Reaktion. Das Buch entwickelt eine Typologie der Argumente von Rechten – der »hauptsächlichen polemischen Gesten und Manöver, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dazu verwendet werden, ›progressive‹ Politik zu diskreditieren«.

Wie Hirschman betont, lässt sich konservatives Denken nicht auf eine Reihe rhetorischer Figuren beschränken. Gelegentlich treffen rechte Polemiken ins Schwarze. Doch betrachtet man konservative Politik im Großen und Ganzen, so tauchen bestimmte argumentative Strategien immer wieder auf. Wenn wir diese rhetorischen Muster identifizieren, können wir rechte Argumente leichter entkräften, egal in welcher Form sie daherkommen.

Drei Wellen Fortschritt, drei Wellen Rückschritt

Hirschman wurde 1915 in Berlin geboren. Nachdem er im spanischen Bürgerkrieg gegen den Franco-Faschismus gekämpft hatte, arbeitete er während des Zweiten Weltkriegs mit dem Emergency Rescue Committee zusammen, um prominenten Antifaschisten die Flucht vor den Nazis zu ermöglichen. Er floh schließlich selbst in die USA, wo er für den Rest des Kriegs für die Armee arbeitete und eine Stelle an der University of California in Berkeley annahm. Er war bis zu seinem Tod im Jahr 2012 in verschiedenen Kontexten akademisch tätig. Hirschman war zwar kein Radikaler, jedoch übte er scharfe Kritik an dem in den 1980er Jahren wieder erstarkenden Konservatismus. Die Rhetorik der Reaktion ist seine Antwort auf die Renaissance der Rechten.

Hirschman beginnt seine Analyse damit, drei »reaktionäre Wellen« in der westlichen Geschichte zu identifizieren. Jede von ihnen entstand als Reaktion auf egalitäre Projekte zur Umverteilung von Macht und Ressourcen, welche von progressiver Seite vorangetrieben wurden, während die Rechte jeweils versuchte, ihnen eigene intellektuelle und politische Antworten entgegenzusetzen.

Die erste reaktionäre Welle ereignete sich im frühen 19. Jahrhundert in Reaktion auf die liberale Forderungen nach formaler Gleichheit vor dem Gesetz, welche am deutlichsten in der Französischen Revolution artikuliert wurden. Die zweite Welle erstreckte sich vom 19. bis ins 20. Jahrhundert und stellte sich gegen die linke Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht. So schrieb etwa der Historiker Jacob Burckhardt über die Ausweitung des Wahlrechts in der Schweiz:

»Das Wort Freiheit klingt schön und rund, aber nur der sollte darüber mitreden, der die Sklaverei unter der Brüllmasse, Volk genannt, mit Augen gesehen und in bürgerlichen Unruhen duldend und zuschauend mitgelebt hat … Ich weiß zuviel Geschichte, um von diesem Massendespotismus etwas anderes zu erwarten, als eine künftige Gewaltherrschaft, womit die Geschichte ein Ende haben wird.«

Die dritte Welle begann im späten 19. Jahrhundert, als die Arbeiterbewegung und sozialistische Parteien an Einfluss und Macht gewannen. Diese Welle erreichte Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt, als Parteien der Arbeiterklasse in ganz Europa Wahlen gewannen und die Wirtschaft demokratisierten, indem sie den den Sozialstaat aufbauten, gewerkschaftliche Vertretung institutionalisierten und mitunter sogar bestimmte Sektoren der Wirtschaft vergesellschafteten.

Diese letzte reaktionäre Welle gegen wirtschaftliche Demokratisierung war wirkungsvoller als die vorherigen. Während Konservative mit einigem Erfolg den Kreis der Personen eingeschränkt haben, denen elementare Bürgerrechte und das Wahlrecht zugestanden wurden, entwickelten sich die Gesellschaften im Großen und Ganzen dennoch in eine progressive Richtung.

Für wirtschaftliche Rechte gilt das aber nicht. Die Konservativen konnten – mit Hilfe ihrer Handlanger aus dem politischen Zentrum – die Ausweitung des Sozialstaats weitgehend eindämmen und die verbliebenen Leistungen vielfach privatisieren. Das politische Terrain hat sich so weit nach rechts verschoben, dass selbst Bill Clinton verkündete, dass »die Arä des starken Staats« vorüber sei und Thatcher verlauten ließ, Tony Blairs New Labour wäre ihr größter politischer Erfolg. Die Möglichkeiten wirtschaftlicher Teilhabe für Arbeiterinnen und Arbeiter so weit wie möglich einzuschränken, war die oberste Priorität von Thatcher und Reagan.

Die Konservativen hatten unter anderem deshalb so großen Erfolg damit, die Wirtschaftsdemokratie zu torpedieren, weil es ihnen gelang, die Mittelschicht und Teile der Arbeiterklasse auf ihre Seite zu ziehen. Dies beweist, dass es für die Linke wichtig ist, die Argumente und Rhetorik der Rechten zu verstehen – und genau das ist das Hauptanliegen von Hirschmans Buch.

Die Rhetorik der Reaktion

Laut Hirschman bedienen sich Konservative dreier »Thesen«: der Verkehrungsthese, der Vergeblichkeitsthese und der Gefährdungsthese. Er betrachtet alle drei der Reihe nach und dekonstruiert historische Beispiele für die oft überspannten Schlussfolgerungen der Rechten. Bei der Lektüre wird deutlich, dass Konservative – trotz ihrer Selbstwahrnehmung als hart gesottene Realisten – oft in eine Rhetorik der Selbstschmeichelung und Abscheu gegenüber allen, die sie als »unwürdig« erachten, verfallen.

Für die Verkehrungsthese gilt das am offensichtlichsten. Denn Konservative stellen diese als eine tiefgründige Einsicht dar, obwohl sie sich oft genug als falsch erwiesen hat. Diese These besagt, dass immer dann, wenn die Linke etwas zum Besseren verändern will, stattdessen »das exakte Gegenteil« eintritt. Die hehren Ziele würden stets verfehlt, weil sie unbeabsichtigte Folgen zeitigten. Der Staatsmann und Philosoph Joseph de Maistre ging in seinen Betrachtungen über Frankreich gar davon aus, dass Gott die Revolutionäre von 1789 bestrafen und dem Land eine »Erhöhung des Christentums und der Monarchie« bescheren würde.

Diese Art von Wunschdenken, bei dem Gott den reaktionären Kräften nicht nur Recht gibt, sondern sie sogar triumphieren lässt, indem er progressive Vorhaben ins Gegenteil verkehrt, spendet Rechten natürlich Trost, wirkt aber wenig überzeugend auf alle anderen, die diese intellektuellen Beruhigungsmittel nicht ebenfalls bereits konsumieren.

Ähnliche Ausbrüche gab es, als das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde. Angeblich große Denker bezeichneten damals die »Mehrheit in jedem Land« als »Narren«, deren Emanzipation nichts als den Ruin bringen würde. Scheinbar hatten allein die Rechten die Weitsicht, einzusehen, dass alle Bemühungen einfacher Leute zwingend in die Katastrophe führen würden.

Doch Größenwahn ist nicht dasselbe wie gründliche Analyse, und die Voraussagen der Konservativen, dass die Welt untergehen würde, wenn die »niedrigen Stände« gleiche Rechte und das Wahlrecht gewinnen sollten, stellen sich als schlichtweg falsch heraus. Darüber hinaus wendet Hirschman ein, dass das Argument der unbeabsichtigten Folgen genauso gut auch umgekehrt funktioniert: Sozialprogramme, welche Armut bekämpfen sollen, könnten etwa dazu führen, dass die Anzahl der Straftaten sinkt – doch niemand würde dies als eine Verkehrung wahrnehmen, selbst wenn dieser Nebeneffekt »unbeabsichtigt« wäre.

Das zweite Argument der Rechten, das Hirschman sich vornimmt, ist ernüchternder. Die Vergeblichkeitsthese besagt: »Jeder angebliche Wandel war, ist, und wird nur oberflächlich, nur Schein, Fassade, Kosmetik und deshalb illusorisch sein, die tieferen Strukturen der Gesellschaft bleiben von ihm gänzlich unberührt.« Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert versuchten Kritiker der Demokratisierung wie Alexis de Tocqueville und Vilfredo Pareto aufzuzeigen, dass die Siege der Linken lediglich zur Folge hatten, eine Plutokratie gegen die andere auszutauschen. In diesem Sinne schimpfen auch heutige Konservative wie der Journalist George F. Will auf den Sozialstaat, der angeblich eine riesige, ineffiziente Bürokratie mit sich bringt, die es den Reichen erlaubt, vom Staat immer mehr Zuwendungen abzuzweigen.

Wie der Politologe Corey Robin richtigerweise festgestellt hat, ist die Vergeblichkeitsthese gegenüber der Linken effektiver, weil sie eine gewisse Ähnlichkeit zu der Art von struktureller Analyse aufweist, die von Radikalen bevorzugt wird. Wenn Progressive beanspruchen, die Institutionen und Machtverhältnisse der Gesellschaft grundlegend zu verändern, dann aber nur oberflächliche Veränderungen erzielen, stehen Konservative stets bereit, um zu verkünden: »Wir haben es ja gesagt.« Das ruft auf der Linken wiederum ein Gefühl von Ohnmacht und Sinnlosigkeit hervor.

Und das ist Absicht. Wie Hirschman feststellt, ist die Vergeblichkeitsthese mehr als eine reine Beschreibung der Welt – sie ist der Versuch einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Indem sie die Sinnlosigkeit linker Politik proklamieren, versuchen Konservative, progressive Kräfte davon abzuschrecken, den Kampf überhaupt erst aufzunehmen. Am besten können Linke dem begegnen, indem sie sich vom Defätismus und ihrer eigenen Tendenz zum Vergeblichkeitsdenken lossagen – und anerkennen, dass ihre Melancholie auf lange Sicht nur der Gegenseite nutzt.

Schließlich hat die Linke oft genug Transformationen bewerkstelligt, die von Konservativen als unmöglich dargestellt wurden. Frühe Kritiker des allgemeinen Wahlrechts warnten, die Demokratie würde unweigerlich in Demagogie enden oder zu Unruhen führen. Der Philosoph Edmund Burke meinte, die »schweinischen Massen« würden das Gemeinwesen destabilisieren. In Wirklichkeit sind etablierte Demokratien nicht nur die stabilsten und am besten regierten Gesellschaften auf der Welt, auch Freiheit und Gemeinwohl gedeihen am besten dort, wo die »niedrigen Stände« die meiste institutionelle Repräsentation genießen: in Sozialdemokratien.

Kritikerinnen öffentlicher Gesundheitssysteme warnen stets, dass jedes Abweichen von kapitalistischen Märkten im Gesundheitswesen schreckliche Auswirkungen haben würde. Dafür ignorieren sie die Jahrzehnte von Erfolgen, die beweisen, dass öffentliche Gesundheitssektoren bessere medizinische Resultate, eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und niedrigere Kosten zur Folge haben. Es ist kein Zufall, dass sich der Nationale Gesundheitsdienst NHS – diejenige Institution in Großbritannien, die dem Sozialismus am nächsten kommt – einer überwältigenden Beliebtheit erfreut. Solche Erfolge kamen immer dadurch zustande, dass die Linke entschied, die Zweiflerinnen und Neinsager zu ignorieren. Und sie taten gut daran.

Bestimmte konservative Kommentatoren, wie der Ökonom Thomas Sowell, verbinden die Verkehrungs- mit der Vergeblichkeitsthese und behaupten, dass progressive Politik sowohl nutzlos als auch schädlich für jene sei, die von ihr profitieren sollen. Doch, wie Hirschman anmerkt, schließen sich diese Behauptungen praktisch aus. Denn laut der Verkehrungsthese ist es der Linken durchaus möglich, die Welt dramatisch zu verändern – wenn auch nur zum Schlechten. Die Vergeblichkeitsthese hingegen ist wesentlich zynischer, sofern sie annimmt, dass die Linke nichts grundlegend verändern kann.

Der dritte Trick der Reaktion ist die Gefährdungsthese. Während die Verkehrungs- und die Vergeblichkeitsthese »bemerkenswert einfach und stumpf« sind, schlägt die Gefährdungsthese einen Umweg ein, indem sie behauptet, dass »angestrebte Veränderungen, obwohl vielleicht in sich wünschenswert, inakzeptable Risiken und Konsequenzen der einen oder anderen Art mit sich bringen«. In anderen Worten: Indem wir alles auf einmal haben wollen, würden wir gefährden, was wir bereits erreicht haben.

Zwar liegt Hirschmans Fokus auf der Rechten, jedoch wird die Gefährdungsthese nicht ausschließlich von diesen ins Feld geführt. So beteuern etwa auch Mitte-links-Politikerinnen und -Politiker wie Hillary Clinton und Tony Blair zwar ihre Sympathie für egalitäre Ziele, betonen dabei jedoch, dass jeder Versuch, sie zu erreichen, wirtschaftliche Schwierigkeiten zur Folge hätte.

Auch in der liberalen politischen Theorie ist dieses Denken tief verwurzelt: Tocquevilles Thesen zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit und Isaiah Berlins Trennung zwischen »negativer« und »positiver« Freiheit sind offensichtliche Beispiele dafür. Die Attraktivität der Gefährdungsthese rührt von unserem Verdacht her, dass wir nicht zu viel des Guten oder zu viele gute Dinge gleichzeitig haben können, ohne etwas anderes dafür aufs Spiel zu setzen. Dies führt wie auch die Vergeblichkeitsthese in den Defätismus – allerdings in eine noch melancholischere und zynischere Variante, die sich nach einem Optimismus sehnt, der aber stets Gefahren birgt.

Die Gefährdungsthese schöpft ihre rhetorische Kraft aus der Behauptung, dass eine wertvolle Reform oder Institution bedroht sei. So behauptete Burke zum Beispiel, die Französische Revolution habe einen gemäßigten Monarchen gegen Gewalt und Chaos eingetauscht. Doch diese These ist aus zwei Gründen weniger überzeugend, als die Rechte gemeinhin annimmt. Wie Hirschman bemerkt, ist erstens nicht klar, warum die menschliche Kreativität und Weisheit in der Vergangenheit eine bestimmte soziale Errungenschaft durch Reformen oder die Schaffung von Institutionen hat erzielen können, dies heute aber nicht mehr möglich sein solle. Zweitens – und diesen Punkt hätte Hirschman durchaus näher ausführen können – wiegt das Risiko, eine bestehende Errungenschaft zu gefährden, nur insofern schwer, als wir auch wirklich mit ihr zufrieden sind.

In den USA beschweren sich heute viele klassische Liberale darüber, die Linke würde das heroische Erbe der Gründerväter und ihrer sakrosankten Verfassung in den Dreck ziehen. Sie machen sich Sorgen, dass der Durst nach Veränderung die lange bestehende politische Ordnung destabilisieren könnte. Doch die US-amerikanische Verfassung war von Anfang ein zutiefst mangelhaftes Dokument. Sie ist voller antidemokratischer Vorrichtungen, die einst die Aufhebung der Sklaverei verzögerten und auch heute noch faule Früchte tragen. Wenn die Infragestellung einer aristokratischen Verfassung bedeutet, ihren gottgleichen Status zu gefährden, so ist dies nur zu begrüßen.

Die Rechten haben Unrecht

Wie jedes Schema und jede Typologie ist Hirschmans »Rhetorik der Reaktion« notwendigerweise vereinfachend. Die eindrucksvolleren und kreativeren Denkerinnen und Denker der Rechten bedienen sich komplexerer Abwandlungen und Mischformen dieser Thesen.

Und doch zieht die Rechte, wenn sie in ihren rhetorischen Köcher greift, am häufigsten die Pfeile der Verkehrung, der Vergeblichkeit oder der Gefährdung hervor, um gesellschaftlichen Verhältnissen, die viele Menschen ansonsten ablehnen würden, einen Anschein tiefgründiger Weisheit und ästhetischer Anziehungskraft zu geben. Viele dieser Umstände sind mittlerweile so unhaltbar geworden, dass Konservative nun überall erzählen, sie hätten von Anfang an zu ihren Kritikerinnen und Kritikern gehört. Darunter zählt auch der jüngste Versuch, es so darzustellen, also würde der Konservatismus die Freiheitsrechte gegen eine Tyrannei der Political Correctness und die Demokratie gegen trickreiche Betrüger verteidigen.

Dass sie dazu gezwungen sind, sollte das Selbstvertrauen der Linken stärken. Denn selbst wenn sich der Bogen der Geschichte nicht unausweichlich in unsere Richtung biegt, so werden unsere Ideen über längere Zeiträume doch mehr Menschen überzeugen. Und das liegt daran, dass dies die richtigen Ideen sind.


Matt McManus ist Gastdozent für Politikwissenschaft am Whitman College. Er ist der Autor von »The Rise of Post-Modern Conservatism and Myth« und Co-Autor von »Mayhem: A Leftist Critique of Jordan Peterson«.

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