05. September 2022
Vor allem Linksliberale hegen eine gewisse Angstlust vor rechtsradikalen Protesten im Herbst. Doch diese Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Demonstration gegen Sparpolitik 2010 in Berlin.
IMAGO / EventpressEs gibt Katastrophen mit Ansage. Und es gibt Ansagen, die selbst Katastrophen sind. Die Befürchtung, Nazis könnten sich in den kommenden Monaten an die Spitze einer Massenbewegung gegen steigende Lebenshaltungskosten setzen, die aktuell vor allem in den Medien immer wieder geäußert wird, gehört zur zweiten Kategorie – nicht weil diese Sorge völlig abwegig wäre, sondern weil es sich dabei um eine selbsterfüllende Prophezeiung handelt, die einen gehörigen Teil dazu beiträgt, dieses Szenario wahrscheinlicher zu machen.
Aber der Reihe nach: Ja, es stimmt – Nazis lassen die Öffentlichkeit schon seit geraumer Zeit lautstark wissen, dass sie den zu erwartenden Unmut über die steigenden Energiepreise nutzen wollen, um ihrem Traum von einem Aufstand gegen die demokratischen Parteien näherzukommen. Durch die rassistischen Massendemonstrationen gegen Migrantinnen und Migranten sowie die maßgeblich von Rechten geprägten »Querdenken«-Proteste gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie haben sich Strukturen gebildet, die sich auch jetzt wieder aktivieren lassen könnten. Haben die Journalistinnen, die vor den Plänen der Nazis warnen, genau wie die Politiker, die prophylaktisch schon einmal erklären, einer solchen Bewegung natürlich nicht nachgeben zu wollen, also nicht recht? Mitnichten, denn aus mehreren Gründen ist das Zerrbild der unausweichlichen rechten Unterwanderung sozialer Proteste nicht nur viel zu unterkomplex, sondern sogar gefährlich.
Zunächst sollten wir festhalten, dass sich die Frustration über steigende Energiepreise gar nicht so einfach in eine rechtsextreme Massenmobilisierung kanalisieren lassen wird, wie sich das manche vielleicht vorstellen. Sowohl bei Pegida als auch bei den Demonstrationen der Querdenker war das Thema der Proteste sehr viel einfacher von rechts zu besetzen: Rassismus und Sozialdarwinismus waren zwar vielleicht nicht die einzigen Themen, die zur Mobilisierung genutzt wurden, aber eben doch der bestimmende Rahmen, in dem die Bewegungen ihre Opposition artikulierten. Doch unter den Anhängerinnen der AfD ist die Zustimmung für einen möglichen Energiepreisdeckel laut aktuellen Umfragen so gering wie bei keiner anderen Partei. Das soll nicht heißen, dass es Nazis nicht gelingen könnte, auch hier Ressentiments zu entfachen – das Thema wird für die Rechte aber kein Selbstläufer. Wir wissen nur, dass damit gezündelt wird. Ob und wie heftig es zündet, kann derzeit niemand seriös beurteilen.
Die steigenden Lebenshaltungskosten bedeuten, dass der Großteil der Bevölkerung gerade verarmt oder zumindest spürbar weniger in der Tasche hat. Davon auszugehen, dass dagegen alle praktikablen politischen Maßnahmen ergriffen werden, bloß, weil die Regierung dies behauptet, wäre naiv und fahrlässig. Darauf zu verzichten, politischen Druck auf das Establishment aufzubauen, weil man aus einem ins negative gewendeten Paternalismus davon ausgeht, dass diejenigen, die von Verarmung bedroht sind, dann ohnehin den Nazis zulaufen, ist nachgerade zynisch. Das gilt übrigens auch für alle wohlmeinenden linksliberalen Kommentatoren, denen zur Umwälzung der Krisenkosten auf die arbeitende Bevölkerung nichts anderes einfällt, als vor einem rechten Aufstand zu warnen, und die gerade deshalb Entlastungen einfordern. Ganz so, als ob Armut kein Skandal an sich wäre, der Empörung und Widerstand rechtfertigt.
»Darum ist es wichtig, sich klar zu machen, dass die Angstlust, mit der gerade auch linksliberale Kommentatoren dem Herbst entgegenblicken, der denkbar schlechteste Ratgeber ist.«
Auch ist es politisch außerordentlich gefährlich, den Nazis die Rolle der Opposition derart auf dem Silbertablett zu servieren. Kriegszeiten sind Komplexitätsvernichter. Wer so tut, als wäre die Verarmung breiter Teile der Bevölkerung ein unvermeidliches, natürliches Begleitprodukt eines militärischen Konflikts, sodass jeder, der dagegen auf die Straße geht, sich mindestens zum nützlichen Idioten der Gegenseite macht – wenn er nicht ohnehin schon mit dem Feind sympathisiert –, untergräbt damit die Basis jeder legitimen politischen Opposition und damit das demokratische Korrektiv. Man muss gar nicht unterstellen, dass solche Aussagen mit dieser Absicht getroffen werden, um zu konstatieren, dass die Reduktion von politischer Opposition auf Nazis – oder auf diejenigen, die sich vor ihren Karren spannen lassen – eigentlich ein Geschenk an die Regierung ist: Wenn alle Gegner der eigenen Politik Rechtsradikale sind, dann lässt sich eine Mehrheit dafür unter aufrechten Demokraten relativ sicher organisieren – jedenfalls solange, bis diese Legitimationsstrategie dann doch irgendwann versagt, aber das steht auf einem anderen Blatt und stellt zumindest keine unmittelbare Bedrohung dar. Wenn die gesellschaftliche Linke dieses Spiel mitspielt, wird sie zwischen diesen Polen aufgerieben werden.
Es geht also nicht darum, in einen Wettbewerb darüber einzutreten, wer die Wut auf der Straße besser kanalisieren kann – Nazis oder Linke. Wir müssen angesichts dieser vorgeschobenen Argumente darauf bestehen, dass es notwendig ist, gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen lautstark zu protestieren: Nicht nur, um die drohende Verelendung abzuwenden, sondern auch, um den demokratischen Regress aufzuhalten. Darum ist es wichtig, sich klar zu machen, dass die Angstlust, mit der gerade auch linksliberale Kommentatoren dem Herbst entgegenblicken, der denkbar schlechteste Ratgeber ist. Sich dieser Angst nicht hinzugeben, wird taktische Entscheidungen erfordern, die sich natürlich immer auch als falsch erweisen können. Die linken Proteste werden, auch das steht außer Frage, von einer entschlossenen und gut organisierten antifaschistischen Praxis begleitet werden müssen. Und ja, sie können auch scheitern. Aber das ist kein Grund, es nicht zu versuchen.