08. Juni 2021
Wirtschaftsfragen haben Konjunktur. Linke stellen dabei leider oft ihre Unwissenheit zur Schau.
»Einfach abschaffen«: Es reicht nicht, die immer gleichen Standardforderungen runterzubeten. Für einen Systemwechsel braucht es Wirtschaftskompetenz.
Seit der Corona-Krise wird in Deutschland so viel über Wirtschaft und Finanzen gesprochen wie seit langem nicht. Pünktlich zum Beginn des Wahlkampfs im Superwahljahr zeigt sich jedoch, wie schwach die Linke in ökonomischen Fragen ist – und das lagerübergreifend, in der Zivilgesellschaft wie in den Parteien. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck spricht davon, dass die BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen) Handwerkerrechnungen in mittelständischen Unternehmen überprüfe; der stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD Kevin Kühnert denkt sogar, dass Reisekosten Abschreibungen sind; die Parteivorsitzende der LINKEN Susanne Hennig-Wellsow wirft das eigene Steuerkonzept komplett durcheinander.
Wer einmal konkrete Zahlen aus dem eigenen Wahlprogramm vergessen hat, dem sei verziehen. Wenn aber grundsätzliche Zusammenhänge nicht verstanden beziehungsweise falsch wiedergegeben werden und man von jemandem mit minimaler ökonomischer oder kaufmännischer Kompetenz aus dem Konzept gebracht werden kann, ist das für die Außenwirkung fatal.
Um weitere Eigentore zu vermeiden, muss sich die Linke zuerst von jenen Dogmen trennen, die sie jahrzehntelang – Stichwort Neoliberalismus – herunter gebetet hat: Staatsschulden sind weder schlecht, noch belasten sie künftige Generationen. Um die Mehrheit finanziell besser zu stellen, braucht es nicht nur altbekannte Rezepte wie Steuern für Milliardäre und Multimillionärinnen. Der Staat ist – auch wenn seine Ausweitung in vielen Bereichen notwendig bleibt – zudem nicht in allen Fällen der Privatwirtschaft überlegen. Genauso ist eine flächendeckende Vergesellschaftung kein Allheilmittel, wenn sie als Verstaatlichung und nicht als Mitarbeiterbeteiligung umgesetzt wird.
Je linker die Ausrichtung einer Partei, einer Publikation oder NGO ist, desto grundlegender möchte sie die Wirtschaft umgestalten. Marktmechanismen und Eigentumsrechte sollen eingeschränkt und dort abgeschafft werden, wo sie nicht hingehören. Darüber hinaus soll die Ausgabenpolitik des Staates derart erfolgen, dass die Mehrheit der Bevölkerung von ihr profitiert. Um diesen Zielen näher zu kommen, ist es notwendig, dass Linke nicht nur Wirtschaftsnachrichten lesen, sondern auch die Logiken der Wirtschaftswissenschaft und ihrer neoliberalen Ausprägung verstehen und widerlegen können.
Es ist verständlich, dass sich viele Linke nach dem Zweiten Weltkrieg auf Fragen der Ideologie fokussierten und in ihrer Forschung der Frage nachgingen, wie sich der Faschismus durchsetzen konnte. Die Erforschung der Ökonomie geriet so im Laufe der Jahrzehnte in den Hintergrund, während in der gleichen Zeit neoliberale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Forschungsbetrieb an Einfluss gewannen. Die Etablierung linker Forschung in den wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen wurde zunehmend schwerer.
Während in Deutschland die Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik in der Politikwissenschaft, Soziologie oder Philosophie noch lange Zeit stark blieben, ging es mit der kritischen Volkswirtschaftslehre schnell bergab, abgesehen von einigen wenigen rühmlichen Lehrstühlen: »Heterodoxe Ansätze«, die vom wissenschaftlichen Mainstream abweichen, wurden bei jeder Emeritierung und Neubesetzung von Lehrstühlen verdrängt, wann immer sich die Chance ergab. Selbst der »Bastard-Keynesianismus« (Joan Robinson), der theoretische Grundlagen über Bord warf und nur noch einen kleinen Teil der wirtschaftspolitischen Empfehlungen beibehielt, wurde ab Mitte der 1970er Jahre bekämpft. Die keynesianische Makroökonomie wurde nach und nach durch mikroökonomische Theorien ausmanövriert, wodurch die staatliche Finanzpolitik zunehmend aus dem Blick geriet.
Nachdem das neoliberale Dogma in der Politik angekommen war, wurden infolgedessen öffentliche Ausgaben an Universitäten gesenkt und umgeschichtet. Kritischen Lehrstühlen fehlte nun das Geld. Die Mathematisierung der Volkswirtschaftslehre ging damit einher und begünstigte eine Denkweise, die für soziale, politische und ökonomische Machtverhältnisse blind ist. Heutzutage sind die politikwissenschaftlichen Seminare zur politischen Ökonomie häufig aufschlussreicher als die volkswirtschaftlichen Module am Wirtschaftsinstitut, in denen es in der Regel vor allem darauf ankommt, möglichst schnell und fehlerfrei rechnen zu können. Das führt dazu, dass Studierende der Wirtschaftswissenschaften nach Abschluss ihres Studiums deutlich wirschaftsliberalere Einstellungen haben als vor dem Studium.
Solange Wirtschaftsfakultäten nicht flächendeckend mit heterodoxen Lehrstühlen ausgestattet und ausfinanziert werden, wird sich das nicht ändern. Dies alles trägt zur ökonomischen Verdrossenheit und mangelnden Expertise der gesellschaftlichen Linken bei. Es sollte aber nicht davon ablenken, dass die politische Linke auch selbst Verantwortung daran trägt. Das zeigt insbesondere die wirtschaftspolitische Entwicklung der Linkspartei.
Liberale verfolgen in Debatten oft dieselbe simple Taktik: Offene Fragen stellen und so viel Antwortspielraum geben, dass sich Linke selbst entlarven, worauf wiederum kritische Nachfragen folgen. Leider geht diese Taktik wieder und wieder auf: Die Parteivorsitzende, die vom eigenen Steuerkonzept überfordert ist und es nicht nur auf den Kopf stellt, sondern auch noch an dessen Grundpfeilern sägt; die ehemalige Fraktionsvorsitzende, die erzkonservative Ängste vor der Inflation schürt und in der Analyse nicht zwischen angebotsseitigen und nachfrageseitigen Ursachen unterscheidet; Abgeordnete, Kandidierende und Parteivorstandsmitglieder, die weder das Rentensystem noch den Finanzmarkt verstanden haben und Kapitalismus mit Marktwirtschaft in einen Topf werfen.
Auch bei ökonomischen Grundlagen wie dem Unterschied zwischen Fluss- und Bestandsgrößen, der Bedeutung eines Monopols und dem Zweck einer Steuer fallen insbesondere Linkspartei-Funktionäre regelmäßig wegen ihrer mangelnden Expertise auf – im täglichen Social-Media-Battle, aber auch in Formulierungen in Wahlprogrammen.
Innerhalb der LINKEN gilt die Wirtschafts- und Finanzpolitik für viele Abgeordnete seit langem als weniger attraktiv als andere Fachbereiche. Diese Entwicklung hat mittlerweile dazu geführt, dass – angesichts der Listenaufstellung zur nächsten Bundestagswahl – der Linkspartei der Nachwuchs fehlen wird. Schon jetzt ist absehbar, dass DIE LINKE im Bundestag künftig finanz- und wirtschaftspolitisch personell und inhaltlich noch dünner aufgestellt sein wird. Ähnliches zeichnet sich auch im Vorstand der Partei ab.
Momentan ist ökonomisches Wissen in der Parteistruktur pyramidenförmig verteilt. An der Basis liegt sicherlich die meiste ökonomische und kaufmännische Expertise. Je weiter man der formalen Hierarchie nach oben folgt, desto stärker nimmt die durchschnittliche Kompetenz ab. Diese Pyramide ist zugegebenermaßen sehr steil, wenn nicht sogar eher ein Pyramidenstumpf – ohne echte ökonomische Expertise an der Spitze. Dies ist nicht einzelnen Personen an der Spitze anzulasten, die sich unabhängig von ihrer Ausbildung wirtschaftliche Kompetenzen aneignen können und dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch tun. Woran es aber fehlt, sind ausgebildete Ökonominnen und Ökonomen, die die eigene Expertise als Hebel für einen Systemwechsel begreifen.
Die feurigen Bewerbungsreden auf Parteitagen stehen in starkem Kontrast dazu: Kandidatinnen und Kandidaten werfen mit marxistischem Vokabular um sich. Top-Seller jedes Parteitags ist die Forderung, den »Gebrauchswert der Partei« zu steigern, dicht gefolgt von einer Kombination der Buzzwörter »Markt«, »Eigentum« und »abschaffen«.
Marxistische Wirtschaftstheorie ist wichtig, reicht aber nicht. Zum Verständnis des Kapitalismus hat sie erheblich beigetragen, ihre Anwendbarkeit in nicht-revolutionären Zuständen ist allerdings sehr begrenzt. So kann uns die Keynes-Lektüre in der realpolitischen Debatte um Steuer-, Sozial- und Rentenpolitik weiter helfen als die Marx-Lektüre. Dieses Werkzeug brauchen Linke, um die ökonomischen Konsequenzen ihrer Forderungen verstehen und erklären zu können – ganz gleich, ob es um die Mindestlohnerhöhung, die Rentenerhöhung, die Kindergelderhöhung, die Einkommensteuerreform oder die Erhöhung der Steuern für Vermögende geht.
Insbesondere in der politischen Debatte reicht es nicht aus, darauf zu verweisen, wer von wem wie ausgebeutet wird. Um überzeugen zu können, braucht die Linke Forderungen, die pragmatisch sind und die Taschen der Mehrheit füllen. Anstatt sich ständig in Widersprüche zu verwickeln, muss die Linke ihre Agenda gut und klar begründen können. Notwendig dafür wäre ein breit angelegtes, ökonomisches Bildungsprogramm – denn die Universitäten allein werden es nicht richten.
Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast Wirtschaftsfragen.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.