08. August 2023
Mit ihrer Forderung nach Preiskontrollen sorgte die Ökonomin schon 2021 für Aufsehen. Jetzt hat sie Studien nachgelegt, die zeigen, dass Unternehmensprofite die Inflation antreiben – und Mainstream-Ökonomen drehen am Rad.
Sie wagt es, auszusprechen, was in den Chefetagen jeder weiß: Unternehmen nutzen die Inflation zu ihrem Vorteil.
Bildquelle: JACOBIN TalksSeit zwei Jahren diskutiert die ganze Welt über Inflation. Statt sich über das Revival ökonomischer Themen im Diskurs zu freuen, sind viele deutsche Ökonominnen und Ökonomen stinksauer. Nicht auf die Inflation, sondern auf die Professorin Isabella Weber.
Bereits im Winter 2021 wies Weber in einem Gastbeitrag für den Guardian darauf hin, dass viele Unternehmen die Kostensteigerungen der Pandemie eins zu eins, und manche sogar überproportional an ihre Kundschaft weitergeben würden – was die Gewinne explodieren ließ. Normalerweise versucht die Zentralbank die Inflation zu bekämpfen, indem sie die Zinsen erhöht und damit die Nachfrage dämpft. Konkret: indem sie Arbeitslosigkeit erzeugt. Stattdessen forderte Weber strategische Preiskontrollen durch den Staat. Für diesen Take wurde sie gegrillt, ein Nobelpreisträger nannte ihre Theorie »truly stupid«. Doch er entschuldigte sich später.
Nur anderthalb Jahre nach ihrem Gastbeitrag haben die wichtigsten ökonomischen Organisationen – wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Zentralbanken der USA (FED) und der Eurozone (EZB) – Studien veröffentlicht, die sich mit Webers Analyse auseinandersetzen (häufig ohne sie zu zitieren). Weber selbst legte zwei Forschungspapiere nach, die ihre Theorie empirisch untermauern: Profite treiben die Inflation. Für die Ökonomin Veronika Grimm, Beraterin der Bundesregierung, bleibt all das »Hokuspokus«.
Während deutsche Ökonominnen und Ökonomen ihrer Wut auf Twitter freien Lauf lassen, tourt Isabella Weber durch die Welt und wird wöchentlich von großen Medien wie Bloomberg, dem New Yorker oder der Financial Times interviewt. Ein CNN-Moderator bemerkte anerkennend, dass sie nach all ihrem Erfolg kein arrogantes »I told you so« vor sich hertrage. Selten gab es eine derartige Uneinigkeit zwischen konventionellen Wirtschaftswissenschaften und wirtschaftsfreundlichen Medien. Kann das allein die Wut auf Isabella Weber erklären?
Der US-Dramatiker Edward Albee sagte, der Titel seines Stücks Wer hat Angst vor Virginia Woolf würde für ihn in etwa bedeuten: »Wer hat Angst, ohne Illusionen zu leben?« Wovor fürchten sich Leute wie Veronika Grimm, die gegen Weber schießen?
Anfang dieses Jahres
veröffentlichte Isabella Weber mit ihrem Doktoranden Evan Wasner
eine dynamische
Theorie,
um die aktuellen Preissteigerungen zu erklären. Die sogenannte Verkäuferinflation
(sellers’
inflation) besteht
aus vier Phasen.
Phase eins: Stabilität. Es herrscht ganz normaler Alltag im Kapitalismus. Menschen gehen zur Arbeit, stellen Dinge her, Chefs behalten einen Teil als Profit und zahlen vom Rest einen Lohn.
Phase zwei: Impuls. Reale Knappheiten führen zu einem Preisschock bei zentralen Gütern, die in die Kosten für die Produktion vieler anderer Güter eingehen (Dürre, Importstopp von Gas, verstopfte Frachthäfen und so weiter).
Phase drei: Weitergabe. Firmen sichern ihre Gewinne gegen die gestiegenen Kosten, indem sie ihre Preise erhöhen. Beispielsweise sind die allermeisten Firmen direkt oder indirekt von hohen Gaspreisen betroffen: Sie nutzen Strom aus Gaskraftwerken, heizen mit Gas oder nutzen Gas zur Erzeugung von Dünger und anderen Chemikalien. Nun sind Firmen keine Wohltätigkeitsvereine, und deshalb versuchen sie, die höheren Kosten an ihre Kundschaft weiterzugeben. Wie eine heiße Kartoffel wird die Preissteigerung an die nächste Firma weitergereicht und landet schlussendlich mit einem höheren Preisschild im Supermarkt. Wie werden die Arbeitenden die heiße Kartoffel los? Sie versuchen höhere Löhne durchzusetzen, um ihre reale Kaufkraft stabil zu halten.
»Legendär ist der Chef des US-Konzerns Iron Mountain, der erzählte, er würde jeden Tag für Inflation beten, weil diese ihm erlaube, höhere Profitraten durchzusetzen.«
Und damit sind wir bei Phase vier: Konflikt. Beschäftigte kämpfen für höhere Löhne, um Kaufkraftverluste auszugleichen, was wiederum eine Kostensteigerung für die Unternehmen bedeutet, wodurch diese wieder die Preise erhöhen. Es ist jedoch keinesfalls ein Konflikt auf Augenhöhe, da Beschäftigte lediglich versuchen, vorangegangene Reallohnverluste auszugleichen. Zudem müssen sie sich in jeder Tarifrunde von der SPD ins Gewissen reden lassen, dass sie nun für die Inflationsbekämpfung zuständig seien und bitteschön geringere Lohnforderungen erheben sollten. Während die Preissteigerungen in den Phasen zwei und drei begrenzt sind, bringt die Konflikt-Phase – wenn die Arbeiterschaft gut organisiert ist – eine wirkliche Inflation, also eine sich verstärkende Preissteigerung. Da dies nicht der Fall ist, haben Löhne in Deutschland die Inflation nicht eingeholt. Reallöhne, also was man sich wirklich vom Lohn kaufen kann, sind im vergangenen Jahr durchschnittlich um 4 Prozent gesunken.
Viele Medien verpassten – angetan von Webers frischem Blick auf die Dinge – ihrer Analyse das Label »Gierflation«. Die Zusammenfassung ihrer Theorie zeigt jedoch, dass es ihr nicht um Gier geht. Das betont Weber auch in jedem Interview. Gier ist keine relevante Kategorie, da Firmen im Kapitalismus eben einfach ihre Gewinne maximieren. Das ist eine Folge aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und hat mit individuell gierigem Verhalten des Managements nichts zu tun.
Ein weiterer Einwand lautet: Wenn Firmen einfach so ihre Preise erhöhen können, warum haben sie es dann nicht früher schon gemacht? In ihrem Forschungspapier erklären Weber und Wasner, dass bei realen Knappheiten an sich konkurrierende Firmen zunächst nur die eigene Kundschaft bedienten. Somit könnten Firmen die Preise erhöhen, ohne zu fürchten, dass die Konkurrenz versucht, mit niedrigeren Preisen die eigene Kundschaft abzuwerben. Solche Prozesse funktionierten einfacher, wenn ein großer Player den Markt dominiert. Weber und Wasner zitierten den CEO des größten US-amerikanischen Fleischproduzenten Tyson, der vor einer Aktionärsversammlung erklärte, dass alle Wettbewerber die Preissteigerungen seines Unternehmens nachgeahmt hätten. Eine ähnliche Begründung wie bei Weber und Wasner findet sich mittlerweile auch in aktuellen Berichten des IWF und der Bundesbank: Produktionsengpässe hätten zu Preissetzungsmacht bei Firmen geführt.
Darüber hinaus können Unternehmen Preissteigerungen gegen ihre Kundschaft einfacher durchsetzen, wenn diese jeden Tag in den Medien von Kostenschocks und Inflation hören. »Excuseflation« nannten das einige US-Medien. Legendär ist der Chef des US-Konzerns Iron Mountain, der 2018 bei einem Earnings Call erzählte, er würde jeden Tag für Inflation beten, weil diese ihm erlaube, höhere Profitraten durchzusetzen. Sein Gebet für Inflation sei für ihn wie ein »Regentanz«.
Nun wird vor Investorinnen und Investoren gerne geprotzt. Doch zahlreiche Studien haben sich mit der Frage beschäftigt, ob Firmen während der Inflation ihre Profitmargen erhöht haben. Das ist noch nicht abschließend geklärt: Es gibt verschiedene Studien basierend auf verschiedenen Daten mit verschiedenen Schlussfolgerungen. In ihrem Artikel zeigen Weber und Wasner einen starken Zusammenhang zwischen Profitraten und Preisen in bestimmten Sektoren, die sie der Impuls-Gruppe zurechnen, zum Beispiel Unternehmen, die Rohstoffe und Energie produzieren. Das Roosevelt Institut und die Kansas City FED finden steigende durchschnittliche Profitmargen für die USA und die Bundesbank findet steigende Gewinnmargen in Deutschland für 2021 und 2022 von 2,1 und 2,4 Prozent. Auch das konservative ifo-Institut schreibt in einer Studie, dass »Unternehmen den Kostenschub auch als Vorwand dafür [...] nehmen, durch eine noch stärkere Erhöhung ihrer Absatzpreise auch ihre Gewinnsituation zu verbessern […]. Insbesondere in der Land- und Forstwirtschaft einschließlich Fischerei sowie im Baugewerbe und im Bereich Handel, Gastgewerbe und Verkehr haben die Unternehmen ihre Preise deutlich stärker erhöht, als es aufgrund der gestiegenen Vorleistungspreise allein zu erwarten gewesen wäre«. Der Anteil der Stückgewinne am Preiswachstum ist deutlich über dem historischen Durchschnitt für die Eurozone.
Webers Theorie basiert jedoch nicht darauf, ob sich Profitmargen im Durchschnitt erhöht haben, sondern sagt aus, dass die kurzfristige Preissetzungsmacht Unternehmen erlaubt, sich vor Kostenschocks zu schützen, und Profite damit stärker als Löhne zu Preissteigerungen beitragen. Wie der IWF jüngst vorrechnete, können die Gewinne pro produzierter Einheit auch mit konstanten Profitmargen zunehmen und damit die Aufteilung des Einkommens zwischen Profiten und Löhnen zugunsten der Profite verschieben. Profitmargen sind Raten, während Löhne feste Größen sind. Dieselbe Rate, zum Beispiel 10 Prozent, multipliziert mit höheren Kosten, sagen wir von 100 auf 150, führt zu höheren Gewinnen: 15 anstelle von 10, während konstante Löhne konstante Löhne bleiben.
Daher argumentiere ich mit meinem Kollegen Michalis Nikiforos, dass auch konstante Profitraten eine profitgetriebene Inflation verursachen. Wer das Gegenteil behauptet, sagt, Firmen hätten einen natürlichen Anspruch auf einen festen Teil des gesellschaftlichen Einkommens und die Lohnabhängigen sollen natürlicherweise den Verlust ausbaden. Ökonominnen wie Veronika Grimm betonen stets, dass der Anstieg von Preisen und Stückgewinnen bei konstanten Löhnen reines Accounting sei. Dabei erklärt Grimm nicht, warum Löhne nicht nachziehen, und naturalisiert damit eine gesellschaftliche Aushandlung der Einkommensverhältnisse zum Vorteil von Kapitalerträgen.
Die Verteilung des Einkommens zwischen Löhnen und Profiten ist ein gesellschaftlicher Prozess und kennt daher keine natürlichen Regeln. Dass Unternehmen Kostenschocks einfach so weiterreichen können, während Beschäftige diese mit Reallohnverlusten ausbaden, verweist vielmehr auf die Schwäche der Gewerkschaften und die Stärke des Kapitals. Während Mainstream-Ökonomen immer davor warnen, die Höhe von Löhnen oder Sozialleistungen automatisch an die Inflation anzupassen – was ein Großteil der Deutschen unterstützen würde – sind solche Indexierungen für Kapitaleinkommen de facto der Fall: Wenn Firmen Kostensteigerungen eins zu eins weitergeben können, oder sie wie bei den 70 Prozent Indexmieten in Berlin sogar im Vertrag stehen.
»Wenn Weber recht hat, dann leben wir in einer Marktstruktur, in der sozialdemokratische Lenkungswirkung ganz anderer Instrumente bedarf als den von Scholz, Heil, Klingbeil und Co. propagierten.«
Indem Isabella Weber auf die Rolle von Profiten hinwies, hat sie den Diskurs über steigende Preise aus dem Korsett einer klassischen Inflationsanalyse befreit. Aus der simplen Tatsache »Preise steigen, weil Firmen sie erhöhen« hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten ein theoretischer Überbau gebildet, der die Preissetzung der Firmen und die damit verbundene Einkommensverteilung ausklammert. Stattdessen wurden staatskritische Framings verwendet, die Inflation auf plumpes Gelddrucken oder Verschulden des Staates reduzieren. Infolge von Webers Analyse liegt der Fokus nun auf Instrumenten wie Preiskontrollen und Übergewinnsteuern und damit auf dem Kapital und nicht auf Anpassungen des Einkommens der Arbeiterklasse durch mittels Geldpolitik herbeigeführte Arbeitslosigkeit.
Sogar EZB-Chefin Lagarde sagte vor dem EU-Parlament, dass die Geldpolitik gegen solche Preissteigerungen nicht viel ausrichten könne und das Wettbewerbsrecht dies kompensieren solle. Und die IWF-Chefin sagt, dass Gewinnmargen sinken müssen, um die Inflation zu bekämpfen.
Doch Webers Forschung hat Konsequenzen, die über den Umgang mit Preisschocks hinausweisen. Was haben Mindestlöhne, Unternehmenssteuern, der CO2-Preis und Zinserhöhungen gemeinsam? All diese Maßnahmen sind politische Ziele, die Kostensteigerungen für Unternehmen bedeuten. Wenn Weber recht hat, und weitere Forschung ihre These stützt, dann leben wir in einer Marktstruktur, in der sozialdemokratische Lenkungswirkung ganz anderer Instrumente bedarf als den von Scholz, Heil, Klingbeil und Co. propagierten.
Wenn viele Unternehmen die unmittelbaren Kosten, die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik verursacht (Mindestlöhne, Unternehmenssteuern, CO2-Preis, Zinsen) einfach weitergeben können, dann haben diese mal gar keine, mal völlig konträre reale Auswirkungen. Was bringt eine Erhöhung des Mindestlohns, wenn die Preise im gleichen Maße steigen? Inflationsbekämpfung durch die Zentralbank und damit die Technokratisierung von Verteilungskämpfen ist wirkungslos, wenn Firmen höhere Zinskosten einfach weitergeben können.
Die »Verhandlung um den Lohn« stellt sich somit als Illusion heraus, da die Preissetzung von Unternehmen schlussendlich die Kaufkraft der Arbeiterinnen und Arbeiter bestimmt. Der Ökonom Michali Kalecki argumentierte, dass Beschäftigte lediglich über ihre nominalen Löhne verhandeln, ihre Reallöhne jedoch durch die Preissetzungsmacht der Unternehmen strukturell bestimmt sind – also durch die relative Macht der Unternehmen, Gewerkschaften und staatlicher Institutionen. Man könnte auch sagen: Die Reallöhne sind abhängig vom Stand des Klassenkampfes.
Progressive Wirtschaftspolitik kommt dann nicht ohne Forderungen nach einer Veränderung der Marktstruktur aus, die die Macht produziert, Kostensteigerungen weiterzugeben. Das heißt: Zerschlagung von Monopolen, Stärkung von Gewerkschaften, Abschöpfen von Übergewinnen und strategische Reserven kritischer Güter. Die jüngste Reform des Kartellrechts ist davon der Anfang. Der Chef des Bundeskartellamts kündigte im Interview mit der FAZ Verfahren in Branchen an, in denen »Preise ganz auffallend gleichförmig nach oben gehen«. Und das ist die größte Angst der Profession: die Politisierung und die Demokratisierung ökonomischer Verhältnisse.
Simon Grothe promoviert an der Universität Genf über die makroökonomischen Folgen von Einkommens- und Vermögensungleichheit.