17. Juli 2020
Vor 80 Jahren wurde Werner Scholem, Führungsfigur des »ultralinken« Flügels der Kommunistischen Partei Deutschlands, im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Was bleibt von seinem Erbe?
Ein Porträt von Werner Scholem. Das Foto stammt von dem bekannten Literaturkritiker Franz Pfemfert.
Heute vor 80 Jahren wurde Werner Scholem erschossen. Der Kommunist und ehemalige Reichstagsabgeordnete, dessen Leben die Versprechungen und Tragödien der kommunistischen Bewegung widerspiegelte, starb am 17. Juli 1940 im Steinbruch des Konzentrationslager Buchenwald von der Hand des SS-Mannes Johannes Blank. Betrauert wurde er von seinem Bruder Gershom Scholem, aber auch dessen Freund Walter Benjamin.
Heute eine eher obskure Figur, zu dessen Lebzeiten galt Scholem als eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei (KPD). Bereits 1933 hatten die Nazis ihm seine Freiheit geraubt, 1937 stahlen sie ihm sogar das Gesicht: eine unter Zwang abgenommene Büste wurde in der antisemitischen Ausstellung »Der Ewige Jude« in München gezeigt. Ein Pressefoto der Ausstellung ist das letzte Bild, das uns von Scholem überliefert ist.
Nur wenige Familienmitglieder und Freunde hielten nach seiner Ermordung die Erinnerung an ihn wach. Als Kommunist wurde Scholem in der Bundesrepublik nicht erinnert, als »Ultralinker« war er in der DDR eine Unperson. Erst nach 1990 erinnerte sich die Nachwelt wieder an diesen unbequemen Zeitgenossen, der einer der ersten war, die in Deutschland vor dem Stalinismus warnten.
Der 1895 in eine jüdische Unternehmerfamilie hineingeborene Werner Scholem diente nach dem Abitur 1915 drei Jahre in der preußischen Infanterie – eine große Katastrophe für den entschiedenen Kriegsgegner, der sich 1912 aus Protest gegen den deutschen Nationalismus einer zionistischen Jugendgruppe anschloss und dann zur sozialistischen Arbeiterjugend wechselte.
Im Krieg sympathisierte Scholem mit den »Bremer Linksradikalen«, einer Strömung, die Erstarrung und Reformismus in der Sozialdemokratie kritisierte: »Von den einzelnen Organisationen scheint mir Bremen diejenige radikale Gesinnung zu haben, hinter der nur noch der Selbstmord kommt« – so lobte Scholem 1916 in einem Brief an seinen Bruder Gershom.
Dennoch schloß Werner sich 1917 der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) an, einer Sammelpartei der Kriegsgegner in der Radikale wie Rosa Luxemburg ebenso anzutreffen waren wie »Revisionisten« und Reformer. Scholem hoffte, die USPD würde sich als Ganzes nach Links wenden, erlebte jedoch stattdessen ihre Spaltung.
Stein des Anstoßes waren die »21 Bedingungen«, welche die Bolschewiki zum Beitritt in die Kommunistische Internationale (»Komintern«) stellten. Die Linken stimmten im Oktober 1920 dafür und vereinigten sich mit der im Jahr zuvor gegründeten KPD, wo auch die Bremer Linksradikalen mitwirkten. Der Kommunismus war nun mit ca. 300.000 Parteimitgliedern erstmals zur Massenbewegung geworden – aber die Mehrheit der Arbeiterschaft folgte weiterhin der SPD.
Die KPD steckte im Dilemma: reichte es aus, eine Sammelbewegung für die in Krieg und Revolution radikalisierten Teile der Arbeiterschaft zu sein? Würde man als Minderheit und Avantgarde die nächste Welle der Revolution anführen – oder würde sich der Kapitalismus stabilisieren, was eine längere Transformationsphase und die Zuspitzung gewerkschaftlicher Reformkämpfe erfordern würde?
Scholem gehörte neben dem späteren Parteiführer Ernst Thälmann zu jenen, die ab 1921 stets vor einer allzu engen Zusammenarbeit mit Sozialdemokratie und Gewerkschaften warnten. In Berlin und Hamburg formten sich diese Skeptiker langsam zu einer »Linken Opposition«. Links war hier eindeutig als Abgrenzung gegenüber jeder Reformpolitik gemeint. Man wollte, so Scholem, »das kommunistische Gesicht« der KPD bewahren. Dies bedeutete die Ablehnung von Teilforderungen und ein instrumentelles Verhältnis zu den Parlamenten, die nur als Bühne der Agitation genutzt werden sollten.
Wenn es um die Rolle der Partei ging, waren die neuen Linken jedoch Zentralisten. Sie vertraten Lenins 21 Bedingungen und ihre Forderung nach einem Ausschluss aller reformistischen Elemente aus den Parteien der Kommunistischen Internationale. Deutlich distanzierte sich diese »neue Linke« damit von einer anderen Generation syndikalistischer Linker, die basisgewerkschaftliche und föderalistische Organisationsmodelle vertraten und schon 1919 aus der KPD ausgeschlossen wurden. Stattdessen versuchte man, organisatorischen Zentralismus mit dem Antireformismus der Novemberrevolution zu verbinden – sowas wie ein »leninistischer Linksradikalismus«.
Ihre Chance erhielten Scholem und die Linksoppositionellen, als die KPD 1923 mit einem gescheiterten Revolutionsversuch katastrophal scheiterte. Der als »deutscher Oktober« geplante Aufstand wurde mangels Masse im Vorfeld abgesagt – in Hamburg, wo es dennoch Kämpfe gab, blieben 300 kommunistische Aufständische völlig isoliert.
Obwohl eine revolutionäre Avantgardepolitik damit gescheitert war, konnten die radikalen Linken profitieren. Sie erklärten kurzerhand den Parteivorsitzenden Heinrich Brandler zum Sündenbock: er habe die Revolution in letzter Minute abgesagt und damit verraten. Faktisch hatte Brandler angesichts einer absehbaren Niederlage die Reißleine gezogen. Die Katastrophe hingegen verursachte Ernst Thälmann, der den Aufstand in Hamburg dennoch durchführen ließ. Dies kostete Menschenleben und brachte der KPD ein bis März 1924 dauerndes Parteiverbot.
Das Fiasko nützte dennoch den Radikalen, denn vor allem moderate und gewerkschaftsnahe Mitglieder traten aus Protest über den in ihren Augen unverantwortlichen Aufstandsversuch aus. An die Spitze der Partei rückten nun Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Werner Scholem von der Berliner Opposition sowie Thälmann aus Hamburg.
Da Maslow schon kurz darauf verhaftet wurde, führten ab April 1924 Werner Scholem und Ruth Fischer die Partei. Als Chef des Parteiapparats leitete Scholem eine »Bolschewisierung« der Partei ein, die die KPD disziplinieren und zu einer agilen revolutionären Einheit schmieden sollte nach dem Vorbild des großen russischen Bruders.
Geschickt nutzte er Personalabbau, um Vertreter eines an Einheitsfront und Rückhalt in den Gewerkschaften orientierten Kurses loszuwerden. Zudem wurden die Bezirke der KPD mit Kadern besetzt, die der Zentrale treu ergeben waren. Scholem, der aus der Bezirksleitung Berlin heraus jahrelang Opposition betrieben hatte, wollte verhindern, dass ihm neue Gegner heranwuchsen.
Doch trotz Bolschewisierung hatte die neue Führung kein gutes Verhältnis nach Moskau. Der Leiter der Komintern, Grigorij Sinowjew, befürchtete eine Schwächung der KPD durch die Linksradikalen. Dies wiederum hätte Sinowjew geschadet für einen ganz anderen Kampf: den um die Nachfolge Lenins, der 1924 einem Schlaganfall erlag. Nun versuchte Sinowjew die Internationale gegen Stalin zu mobilisieren, der den russischen Parteiapparat beherrschte und die deutsche Linke unterstützte.
Zunächst konsolidierte sich die KPD allerdings: Scholem schaffte es, die nach der Illegalität darniederliegenden Strukturen neu aufzubauen und die Parteifinanzen zu sanieren. Bald jedoch fiel die Opposition ihren eigenen Dogmen zum Opfer. Die Wirtschaft hatte sich stabilisiert, die Stimmung kippte zwischen Sozialdemokratie und Konservatismus. In dieses Patt fielen die Reichspräsidentenwahlen 1925, als die KPD in zwei Wahlgängen hintereinander Ernst Thälmann als »roten Präsidenten« ins Rennen schickte. Er unterlag beide male mit Ergebnissen um die 7 Prozent, und mit Paul von Hindenburg wurde ein Monarchist Präsident der Republik.
Scholem und Thälmann hatten sich strikt geweigert, im zweiten Wahlgang die Sozialdemokratie zu unterstützen – man wollte das kommunistische Gesicht der KPD nicht aus taktischen Gründen verbergen.
Die Wahlniederlage 1925 brachte die Komintern endgültig gegen die deutsche Partei auf, und bald zeigten sich interne Risse in der Führung: Maslow und Ruth Fischer unterstützten nun eine »Einheitsfront« mit der Sozialdemokratie gegen Hindenburg. Werner Scholem war isoliert. Profiteur des ganzen war paradoxerweise Thälmann, der Rote Präsident der gescheiterten Wahlkampagne.
Thälmann wechselte ebenfalls die Seiten und mit Unterstützung der russischen Stalin-Fraktion gelang es ihm, seine alten Genossen aus dem Rennen zu drängen. Hilfreich für ihn war, dass Scholem und Ruth Fischer sich in gegenseitigen Polemiken angriffen. Während die KPD mit der Kampagne zur Fürstenenteignung einen in seiner Mobilisierungskraft unübertroffenen Volksentscheid durchführte und die radikale Wirkung von Reformforderungen demonstrierte, blieb die Linke isoliert. Sie wusste nicht, wo sie ihre Kritik ansetzen sollte: Thälmanns autoritäre Führungsmethoden hatte Scholem einst selbst eingeführt, Thälmanns opportunistische Positionswechsel hatte Ruth Fischer ebenfalls hinter sich.
Vor allem aber hatte die linke Opposition keine inhaltliche Antwort auf die Volksentscheid-Mobilisierung. Ihre Konzepte erschienen avantgardistisch und sektiererisch, die sich gegenseitig bekämpfenden linksradikalen Gruppen und Grüppchen in der KPD konnten nun als »Ultralinke« eine nach der anderen isoliert und ausgegrenzt werden.
Scholem wurde 1925 aus der Zentrale entfernt und im November 1926 aus der Partei ausgeschlossen. Vergeblich hatte er sich zuvor auf einem Plenum der Internationale in Moskau gegen die Abschaffung der Parteidemokratie gewehrt. Sein ehemaliger Bündnispartner Stalin kommentierte nun hämisch: »Früher war Scholem gegen die innerparteiliche Demokratie. Jetzt verfällt er ins andere Extrem, indem er sich für eine grenzenlose, durch nichts beschränkte Demokratie ausspricht. Gott behüte uns vor einer solchen Demokratie. Nicht ohne Grund lautet ein russisches Sprichwort: ›Laß einen Dummkopf beten, und er zerschlägt sich die Stirn‹«.
»Tragisch am Schicksal Scholems und der KPD-Ultralinken ist, dass sie mit ihrem Dogmatismus jenen an die Macht verhalf, deren Inhalte auswechselbar waren.«
Scholem, der die KPD »bolschewisiert« hatte, musste nun zusehen, wie andere sein Werk fortsetzten und eine nächste Phase einleiten – eine, wofür der Historiker Hermann Weber den Begriff »Stalinisierung« prägte. Als im Laufe des Jahres 1927 sowohl in der Sowjetunion als auch in Deutschland Säuberungswellen alle Kritiker in den kommunistischen Reihen mundtot machten, waren es allein Scholem und seine Genossen, die mit ihrer Zeitung Fahne des Kommunismus den Stalinismus geißelten. Das Blatt wurde zum Sammelbecken der ehemaligen Ultralinken, die sich in einer neuen Partei namens »Leninbund« organisierten.
Gemeinsam mit Amadeo Bordiga, Gründer der Kommunistischen Partei Italiens, bildeten die deutschen Linksradikalen die erste Generation marxistischer Stalinismuskritiker. Sie kritisierten die Entmachtung und Verhaftung der alten Revolutionäre zehn Jahre vor dem »Großen Terror« von 1937 und prägten den Begriff »Stalinismus«. Jedoch sahen sie die Sowjetunion stets durch die Brille ihrer Reformismuskritik: Scholem beschimpfte Stalin als verhinderten Sozialdemokraten, der in Rußland einen bäuerlichen Staatskapitalismus errichten würde.
Die Kritik von Scholem und Bordiga konnte keine breiteren Kreise ziehen, war als rein negativer »Antireformismus« formuliert und wollte die alte Avantgarde-Konzeption des Leninismus wiederherstellen. Man kritisierte die Inhalte von Stalins Politik – aber nur am Rande die Abschaffung der Parteidemokratie. Als Stalin 1928 eine »Linkswende« einleitete und die Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärte, schwiegen die Kritiker: Werner Scholem und Ruth Fischer traten aus dem Leninbund aus und riefen zur Wahl der KPD auf. Erst eine zweite Generation im Leninbund ließ um 1930 unter dem Einfluss Leo Trotzkis alte Dogmen fallen und mahnte angesichts des Aufstiegs der Nazis zur Einheitsfront zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus.
Die kommunistische Partei, der Werner Scholem sein Leben widmete, ist längst Geschichte. Die Sozialdemokratie von heute ist fast unerkennbar im Vergleich zu ihrer damaligen Größe und Einfluss. Der Begriff »ultralinks« hat heute eine andere Bedeutung als zu Scholems Lebzeiten. Doch was lässt sich über sein strategisches Verständnis und Parteikarriere festhalten?
Die Kritik der Ultralinken am SPD-Reformismus war einerseits berechtigt: die Weimarer Republik krankte daran, dass eine dünne Schicht parlamentarischer Demokratie die monarchistisch-autoritären Kräfte in Verwaltung, Militär, Justiz und Schulwesen nie wirklich verdrängen konnte. Die Lebenslüge der Sozialdemokratie bestand darin, sich über diesen Fakt hinwegzutäuschen – selbst als sie 1932 durch einen Rechtsputsch in Preußen von den wichtigsten Schaltstellen der Macht vertrieben wurde, änderte sie ihren Kurs nicht.
Der Autoritarismus hinter diesem »Preußenschlag« entstand nicht im luftleeren Raum. Adelige Großgrundbesitzer und Schwerindustrie verteidigten ihre ökonomischen Privilegien nicht nur gegen den Kommunismus, sondern auch gegen die Demokratie. Gerade in der Endphase der Republik ab 1930 gelang es nicht, die Eliten in irgendeiner Weise durch Umverteilung an der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise zu beteiligen. Im Gegenteil: eine Spar- und Austeritätspolitik bürdete Angestellten, Arbeiterschaft, Kleinselbständigen und dem Heer der Arbeitslosen die Kosten der Krise auf.
Der 1925 gescheiterte Volksentscheid zur Fürstenenteignung hatte eine Gegenrichtung aufgezeigt: die Umverteilung von Besitz sollte nicht autoritär, sondern demokratisch aus der Gesellschaft heraus organisiert werden. Genau diese Verbindung konnte die »Ultralinke« jedoch nicht herstellen. Sie hielt an einem militärischen Revolutionsbild fest, dessen Pate der Bolschewismus und die Russische Revolution von 1917 waren.
Damit unterschied die Ultralinke in ihrer Gesellschaftsanalyse nicht zwischen Zarenreich und Weimarer Demokratie. Im voluntaristischen Bestreben, möglichst radikal zu sein, verstellte sie sich den Blick auf die Realität. Ihr Antireformismus war daher keine konkrete Kritik zu kurz gegriffener oder ausbleibender Reformen, sondern eine Ablehnung aller Reform- oder Tagesforderungen. Politik war damit nur als verurteilende Geste möglich, als prinzipielles Dagegen-Sein – eine Sackgasse, in die die deutsche Linke auch später immer wieder einbog.
Tragisch am Schicksal Scholems und der KPD-Ultralinken ist, dass sie mit ihrem Dogmatismus jenen an die Macht verhalf, deren Inhalte auswechselbar waren: 1928 übernahm Stalin in einer 180-Grad-Wende alle Phrasen der Ultralinken. Das Manöver hatte rein machtpolitische Gründe: es diente als Vorwand, auch die Vertreter der Einheitsfront aus der Komintern hinauszusäubern. Dennoch wurden die alten Ultralinken nicht wieder aufgenommen – es ging ja gerade darum, alle selbständig denkenden Kommunisten loszuwerden.
Werner Scholem hatte seit 1925 mehrfach die Gelegenheit, seine Thesen zu widerrufen und sich an Stalins Seite zu stellen. Sein Kollege Thälmann ergriff diese Gelegenheit – er wechselte den Kurs von Links zur Einheitsfront und zurück nach Ultralinks. Thälmann wurde zum Säulenheiligen. Scholem entschied anders – er blieb bei seinen Ansichten und wurde dafür erst verfemt und dann vergessen.
Ralf Hoffrogge ist Historiker, von ihm erschien 2014 »Werner Scholem – eine Politische Biographie (1895-1949)« im UVK-Verlag.