30. August 2021
Das Burning Man wurde zum Lieblingsfestival reicher Libertärer, weil radikale Kritik dort nie im Mittelpunkt stand.
Besucher des Burning Man 2013
Im Prinzip klingt das jährliche »Burning Man«-Festival nach sozialistischer Utopie: Tausende Menschen versammeln sich mitten in der Wüste, um eine alternative Gesellschaft aufzubauen. Geld und Werbung sind verboten, die Wirtschaft basiert auf gegenseitigem Schenken. Jede bringt in die neue Welt mit, was sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten beisteuern kann.
»Radikale Inklusion«, »radikale Selbstentfaltung« und »Dekommodifizierung« sind die Grundprinzipien dieser alternativen Gesellschaft, die als Freiraum angelegt ist: Sexuelle und Gender-Identitäten sind fluide und sollen überwunden werden.
Diese Ideen – die Essenz des Burning Man– sind sicherlich verlockend.
Dennoch lieben Kapitalisten das Burning Man völlig ironiefrei, und allen, die die Entwicklung des Festivals in letzter Zeit verfolgt haben, muss die Behauptung, es sei antikapitalistisch absurd vorkommen. Ein Risikoinvestor veranstaltete eine Party, die 16.500 Dollar pro Kopf kostete; sein Camp wurde zu einer äußerst exklusiven Veranstaltung, von den Kontroll-Armbändchen bis zu den Models, die extra eingeflogen wurden, um die Gäste zu unterhalten.
Das Burning Man erfreut sich im Silicon Valley zunehmender Beliebtheit als »Networking Event«, und Tech-Magazine schicken nun ihre Reporterinnen zur Berichterstattung dorthin. Technologiechefs wie Mark Zuckerberg von Facebook oder Larry Page von Alphabet sind begeistert, genauso wie der konservative Steuersenkungs-Guru Grover Norquist und viele Redakteurinnen der von den ultrarechten Koch-Brüdern finanzierten Zeitschrift Reason. Tesla-Chef Elon Musk ist sogar der Ansicht: »Burning Man, das ist das Silicon Valley«.
Das einwöchige Burning Man-Festival findet jedes Jahr Anfang September in einer abgelegenen Salztonebene im Nordwesten von Nevada statt. Die unwirtliche Black Rock-Wüste, zwei Autostunden nördlich von Reno gelegen, mag zunächst nicht als idealer Ort für eine provisorische Stadt mit sechzig tausend Einwohnerinnen erscheinen, doch gerade um diese Abgelegenheit geht es den Erbauerinnen. Auf dem Hochplateau entsteht und verschwindet eine fremdartige Welt innerhalb eines einzigen Monats. Dem Titel entsprechend geht zum Höhepunkt des Festivals eine riesige, dreißig Meter hohe symbolische Menschenfigur aus Holz, »the Man«, in Flammen auf.
Das Burning Man hatte eher bescheidene Ursprünge: Eine Gruppe von Künstlern und Hippies verbrannte den ursprünglichen »Man« am Baker Beach in San Francisco und machte sich 1990 daran, dasselbe an einem Ort zu wiederholen, wo die Polizei sie mit ihrer ungenehmigten Pyrotechnik in Ruhe lassen würde. Ihre Wahl fiel auf die Black Rock-Wüste.
Das Festival steht definitiv in der Tradition der Gegenkultur des alten San Francisco, aufgeschlossen und freizügig, nicht selten bis hin zur buchstäblichen Nacktheit. Einige der ursprünglichen Organisatorinnen waren Bewundererinnen der Situationistinnen, linker französischer Aktivistinnen deren Manifeste und Graffiti wie »Arbeit? Niemals!« die Aufstände vom Mai 1968 in Frankreich prägten.
Trotz ihrer ideologischen Undurchsichtigkeit war eine der Hauptüberzeugungen der Situationistinnen, dass Städte zu oppressiven Monolithen der Konsumgesellschaft und Arbeitswelt geworden waren, die als Orte der Auflehnung und des Spiels einer Neuentdeckung bedurften. Als Teil ihrer Kunst zerschnitten sie deshalb Stadtpläne und klebten sie neu zusammen und erkundeten Paris im Rausch.
Spuren der Situationistinnen lassen sich noch heute in Black Rock City, der Zeltstadt rund um das Burning Man finden. Black Rock City ist einerseits eine Stadt wie jede andere, mit einem Straßennetz, dass auf den Man zentriert ist, andererseits aber auch ein vollkommen surrealer Ort. Halbnackte Menschen in Pelzen und Glitter laufen umher, Fahrzeuge, die Schiffe imitieren sollen gleiten durch die Straßen und aus Drachen, die umhertuckern, dröhnt House Musik.
Das Burning Man hat Restaurants, Clubs und Theater wie eine ganz gewöhnliche Stadt, alles wurde von den Besucherinnen bestellt und bezahlt, denn jede muss »etwas mitbringen«:
»Die Menschen, die beim Burning Man mitmachen, sind keine rein passiven ›Teilnehmerinnen‹: Sie erschaffen die Stadt, den gegenseitigen Austausch, die Kunst, die Darstellungen, eigentlich die ganze Festival-Erfahrung. Mitmachen ist die Essenz des Burning Man.«
»Alle machen mit« klingt zwar sehr egalitär, führt allerdings zu interessanten Widersprüchen. Die größten Camps und Spektakel sind meist die der Reichen, die viel Zeit und Geld in sie investieren. Wohlhabende Besucherinnen lassen ihre Camps von anderen planen und errichten. Das Online-Portal Craigslist ist im August voll von Teilzeitstellen in San Francisco, deren Arbeitsinhalt es ist, das Leben von reichen Burning Man-Teilnehmerinnen so angenehm wie möglich zu machen.
Auch heuern die Reichen gerne persönliche Sherpas, die sie durch das Festival führen und bedienen. Besucherinnen mokieren sich oft über die »schlüsselfertigen« Camps der Elite.
Das Silicon Valley bewundert das Burning Man-Festival schon seit langem, und so auch seine Tech-Arbeiterinnen. Doch das Festival war nicht immer eine Sache für Milliardäre – zu Anfang war es vor allem eine Zeltstadt der abseitigen Kunst und Pyrotechnik. Über die Jahre wichen einfache Zelte teuren Spezialanfertigungen und der Eintrittspreis stieg von 35 Dollar im Jahr 1994 auf 390 Dollar im Jahr 2015, ungefähr sechsmal schneller als die Inflationsrate.
Seit dem Jahr 2000 hat Black Rock City seinen eigenen offiziell lizenzierten Flughafen, und der Flugverkehr nimmt ständig zu. Heute ist es möglich, von San Carlos im Silicon Valley für 1500 Dollar zum Festival zu fliegen. 2012 kam Mark Zuckerberg im Privathubschrauber und blieb nur einen einzigen Tag, unter anderem, um essen zu gehen und seine eigenen überbackenen Käsesandwiches zu vertreiben. So berichtet die New York Times:
»Früher hatten wir hier Wohnmobile und Fertiggerichte«, meint ein Burning Man-Besucher, der mit einer Gruppe von Unternehmerinnen aus dem Silicon Valley angereist ist (er möchte nicht beim Namen genannt werden, um seine Geschäftskontake nicht zu gefährden). »Jetzt haben wir die tollsten Köche der Welt und Leute, die Jurten mit Betten und Klimaanlage bauen.« In erstauntem Tonfall fügt er hinzu: »Eine Klimaanlage, mitten in der Wüste!«
Die zunehmende Präsenz der Elite beim Burning Man wird nicht nur von Außenstehenden bemerkt. Langjährige Besucherinnen beschweren sich, dass Festival werde »gentrifiziert«. In Reaktion auf den Artikel in der New York Times machen viele Gäste ihrem Frust über Besucherinnen, die selbst keine Arbeit beisteuern, Luft: »Leute herzubringen, um sich verhätscheln zu lassen und hinterher für sich aufräumen zu lassen. Diese Leute haben nicht verstanden, worum es hier geht«.
Viele Gäste waren empört, nachdem eine Arbeiterin im 17.000 Dollar pro Kopf teuren Camp des Investors Jim Tananbaum über Ausbeutung berichtete. Tananbaum verletzte die Prinzipien des Festivals unter anderem dadurch, dass er für sich selbst einen »VIP-Status« reklamierte, in dem er Events und Kunstwerke als privat deklarierte, und eine von ihm bezahle Künstlerin beschimpfte.
Tananbaums Arbeiterinnen erhielten pauschale 180 Dollar pro Tag, Überstunden wurden nicht bezahlt. Laut der anonymen Whistleblowerin dauerten die Schichten während des Festivals fünfzehn bis zwanzig Stunden.
Die sich abzeichnende Klassengesellschaft des Festivals spiegelt sich in Daten wieder. Die »Volkszählung« des Festivals (ja, es gibt tatsächlich eine, wie in einem richtigen Nationalstaat) ergab, dass von 2010 bis 2014 die Zahl der Besucherinnen mit einem Jahreseinkommen von über 300.000 Dollar von 1.4% auf 2.7% zunahm. Diese Zahlen sind besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Präsenz des reichsten Prozents beim Burning Man signifikant.
In einer gerechten, demokratischen Gesellschaft haben alle eine Stimme. Beim Burning Man darf jeder mitmachen, doch die Reichsten entscheiden, welche Art von Gesellschaft das Festival sein soll – es sind sie, die die Künstlerinnen anheuern und die Stadt nach ihrem eigenen Geschmack einrichten. Und sie bestimmen, je nachdem, wie großzügig sie gerade sind, wer am Ende wie viel Geld bekommt.
Vielleicht erscheint es als etwas lächerlich, sich über das »Demokratiedefizit« in Black Rock City zu beschweren. Was kümmert es uns, ob Jeff Bezos ein riesiges Einhorn aus Metall oder doch ein Piratenschiff bestellt hat, oder ob Tananbaum zwei Millionen Dollar für ein Camp mit Klimaanlage ausgeben will? Doch die Prinzipien der Tech-Bosse – dass Gesellschaft durch ihre milden Gaben entsteht und dass die wahren »Erschaffer der Welt« die Reichen und Privilegierten sind – treffen nicht nur in der Phantasiewelt vom Burning Man zu, sondern greifen in den Alltag über, oft mit nicht gerade positiven Resultaten.
»Die Technokraten des Silicon Valleys machen, was sie wollen, entfalten sich selbst und scheißen auf alle anderen«
Man erinnere sich nur daran, wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg sich entschloss, die Schulen in Newark »in Ordnung zu bringen«. 2010 spendete Zuckerberg – vielleicht, um nach dem Erscheinen des für ihn nicht gerade schmeichelhaften Films The Social Network sein Image aufzupolieren – 100 Millionen Dollar, um das Schulsystem von Newark zu überholen.
Das Geld war Teil eines Plans des damaligen Bürgermeisters von Newark, Cory Booker, Newark zur »Privatschulmetropole der Nation« zu machen, und über ein Gutscheinsystem die Schulen, in Kooperation mit privaten Wohltäterinnen, der Kontrolle der öffentlichen Hand zu entziehen.
Traditionell war das staatliche Schulsystem eng mit demokratischen Prozessen verwoben: In einem bestimmten Schulbezirk wird der Schulrat alle paar Jahre neu gewählt. Die Schulrätinnen beraten und entscheiden öffentlich. Zuckerbergs Spenden und das damit verbundene Privatisierungsprojekt untergruben diese demokratischen Prozesse: Örtliche Gewerkschaften wurden zerschlagen, Lehrerinnen entmachtet und die Kontrolle über das Schulwesen Technokraten und profitgierigen Investoren überlassen.
Man mag sich vielleicht fragen, was das alles mit dem Burning Man zu tun haben soll. In der Welt des Burning Man geht es schließlich um Spaß und persönliche Entfaltung. Doch der Schein trügt. Die Technokraten des Silicon Valleys bestimmen von oben herab, wo es lang gehen soll; sie machen, was sie wollen, entfalten sich selbst und scheißen auf alle anderen – und genau diese Mentalität gefällt ihnen am Burning Man so.
Das Burning Man bestätigt junge Tech-Arbeiter – die meisten von ihnen sind ja weiß und männlich – die jährlich zum Festival pilgern in der Ansicht, dass sie die Welt nach ihrem Gutdünken umgestalten können. Eine rabiat-libertäre Phantasie. Ihre Egos werden gehätschelt, und es wird ihnen das Gefühl vermittelt, dass es ihnen zusteht, Entscheidungen für uns alle zu treffen und die Gesellschaft rein nach ihrem Geschmack zu gestalten.
Dies ist die dunkle Seele des Burning Man, der Grund dafür, dass mächtige Kapitalistinnen – und besonders libertäre Kapitalistinnen – das Festival so sehr lieben. Es ist eine Vision ihrer idealen Welt: Eine Welt, in der vages Geschwafel über »Partizipation« echte Demokratie ersetzt, wo die einzige Form der Besteuerung aus freiwilligen Wohltaten besteht. So veröffentlichte nach der Verabschiedung von Obamas Gesundheitsreform John Mackey, Chef der Bio-Supermarktkette Whole Foods einen Meinungsbeitrag im Wall Street Journal, in dem er ein Gesundheitssystem auf Basis freiwilliger, steuerlich absetzbarer Spenden vorschlug.
Dies ist der Traum der Libertären und des reichsten Prozents, und beim Burning Man nimmt er eine konkrete Gestalt an. Die niedere Kaste der normalen Festivalbesucher muss sich nach den Marotten und Fantasien der reichen Erbauerinnen von Black Rock City richten.
Das Burning Man zeichnet so ein Gesellschaftsmodell der Zukunft vor, das den Reichen besonders gefällt: Eine libertäre Oligarchie, in der Menschen aller Klassen und Identitäten zusammenleben, aber in der die Sozialsysteme und öffentliches Eigentum nur in der Form von Wohltätigkeit der Reichen überleben.
Natürlich können sich die Reichen mehr leisten, sowohl was ihre Unterbringung als auch was sie »mitbringen« anbelangt. Deshalb stehen beim Burning Man diejenigen, die sich mehr Arbeitskraft und Spenden leisten können, im Vordergrund.
In den 358 Tagen des Jahres, an denen das Burning Man-Festival nichtstattfindet, bewegen wir uns ebenfalls auf diese Gesellschaftsform zu. In zerfallenden Sozialstaaten existieren viele öffentliche Dienstleistungen nur noch als Resultat von Großspenden der Ultrareichen. Doch wenn das Gemeineigentum in die Hände der Elite fällt und nicht durch alle Mitglieder einer Gesellschaft garantiert wird, verschwindet die demokratische Komponente der Zivilgesellschaft zunehmend und wird durch den Einfluss einer kleinen Oberschicht ersetzt, die ihren Reichtum durch Steuererleichterungen und Sozialabbau erlangt hat.
In meinem ehemaligen Wohnort Pittsburgh ist ein Netzwerk von Bibliotheken nach Andrew Carnegie benannt, der einen Teil der Baukosten spendierte. Doch Carnegie hatte sich dieses Geld nie verdient, es sickerte aus den Taschen seiner Arbeiterinnen in seine. Viele von ihnen litten an Überarbeitung und Krankheiten, die durch die Umweltverschmutzung seiner Stahlwerke verursacht wurde. Die wirklichen sozialen Kosten dieser »Wohltätigkeit« stecken in der vergessenen Arbeit, die ihr zur Grunde liegt und ihren zerstörerischen Auswirkungen.
Zum Burning Man-Festival kommen die reichsten ein Prozent – die ihr Geld auf die gleiche Weise erwirtschaftet haben wie Carnegie – mit einer Armee von Servicearbeiterinnen, und stellen deren Arbeit als ihr »Geschenk« dar.
Das Motto und Grundprinzip vom Burning Manist radikale Selbstentfaltung:
»Radikale Selbstentfaltung ergibt sich aus den einzigartigen Begabungen des Individuums. Niemand anderes als das Individuum oder die kollaborative Gruppe selbst kann ihren Inhalt bestimmen. Es wird anderen als Geschenk dargeboten. In diesem Geist soll die Geberin die Rechte und Freiheiten der Nehmerin respektieren.«
Vielleicht liegt der Verfall des Burning Man in diesem Konzept selbst begründet. Die Idee der radikalen Selbstentfaltung ist, zumindest unter den Zwängen des Kapitalismus, ein Ideal der politischen Rechten im Sinne von Ayan Rand, und könnte leicht zum zentralen Motto von Social-Media Firmen im Silicon Valley erklärt werden, welche von der unbezahlten Arbeit ihrer Nutzerinnen leben, die sich selbst darstellen.
Es ist ganz in ihrem Interesse, dass wir uns möglichst egoistisch verhalten, denn je mehr wir uns obsessiv mit unserer digitalen Identität beschäftigen, desto mehr persönliche Informationen können sie gewinnen und verkaufen. Es ist also kein Wunder, dass die Gründerinnen dieser Firmen in der Hochebene von Nevada eine zweite Heimat gefunden haben.
Das Burning Man scheint nicht zu retten zu sein; man wird es den Reichen und Mächtigen, die es so bewundern, die sich nun dort tummeln und auch in seinem Direktorium sitzen nicht entziehen können. Es ist zu einem Festival geworden, dass von reichen Libertären geliebt wird, da es nie auf einer radikalen Kritik basierte. Ohne jegliche demokratische Elemente in seiner Verwaltung haben die Reichen leichtes Spiel, das Geschehen dort vollständig zu kontrollieren.
Das Burning Man wird uns eher als Verwirklichung des Traums einer libertären Gesellschaft, wie er etwa vom Google-Gründer Larry Page geträumt wird denn als revolutionärer, situationistischer Raum, der es hätte sein können, in Erinnerung bleiben.
Als solches dient es als warnendes Beispiel für alle Radikalen und Utopistinnen: Wenn »Freiheit« und »Inklusion« von der Demokratie entkoppelt werden, führt dies oft zur Dominanz einer Elite und zur Stärkung des Status Quo.
Keith A. Spencer ist freier Journalist und Doktorand und wohnt in der Bay Area.
Keith A. Spencer ist freier Journalist und Doktorand und wohnt in der Bay Area.