12. Januar 2024
Bei Wirtschaftssanktionen denkt man als Erstes an Russland. Doch der Westen sanktioniert Dutzende weitere Länder auf der ganzen Welt – und verursacht damit Hunger, Krankheit, Flucht und Tod.
Den Menschenrechten dieser afghanischen Kinder ist nicht damit geholfen, dass der Westen ihr Land mit Wirtschaftssanktionen belegt.
Es ist schwierig geworden, all die Details der »Sanktionspakete« zu durchschauen, die die Europäische Union gegen Russland verhängt hat. In elf Paketen hat die EU seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs bereits mehr als 1.400 Sanktionen eingeführt, ähnlich machen es die USA, Großbritannien und andere westliche Länder wie die Schweiz. Offiziell sollen die Sanktionen gegen juristische Personen und Institutionen die russische Wirtschaft schwächen, das Regime von Wladimir Putin erschüttern und den Krieg beenden.
Doch obwohl Russland durch die Maßnahmen zweifellos geschwächt wurde, ist es ihm als großes und einflussreiches Land gelungen, sich an die Restriktionen anzupassen und seinen Handel neu auszurichten. Bereits vor dem Krieg führte Russland ein eigenes Banküberweisungssystem ein. »Die Sanktionen sind eindeutig gescheitert, zumindest was die Erwartungen der westlichen Politiker angeht. Diese Politiker haben Russlands Anpassungsfähigkeit und jahrelange Vorbereitung unterschätzt«, schreibt Simon Gerards Iglesias vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Ganz anders sieht es bei den schwächeren, ärmeren und kleineren Ländern aus, gegen die die USA, die EU oder die UN Sanktionen verhängt haben. Im Jahr 2023 geht die Zahl der Länder, gegen die mehr oder weniger umfangreiche Wirtschafts-, Finanz-, Reise- und Rüstungssanktionen greifen, in die Dutzende: Neben Russland sind dies etwa der Iran, Syrien, Nordkorea, Weißrussland, Venezuela, Myanmar, Afghanistan, Jemen sowie zahlreiche afrikanische Länder wie die Demokratische Republik Kongo, Niger oder Libyen.
Das Argument für Sanktionen ist fast immer dasselbe: Bei den Zielstaaten handle es sich um brutale diktatorische Regime, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Bei den meisten sanktionierten Ländern handelt es sich zugleich um Entwicklungs- oder Schwellenländer, die in den letzten Jahren von internen Konflikten und Kriegen (auch Stellvertreterkriegen, wie im Jemen) oder Naturkatastrophen erschüttert wurden. Oder allem zugleich. Bei näherer Betrachtung zeigt sich außerdem, dass viele von ihnen auch zu den Ländern gehören, aus denen die meisten Menschen flüchten.
Die Menschen fliehen auch wegen der Auswirkungen der Sanktionen, die vor allem die einfachen Bürgerinnen und Bürger treffen – nicht diejenigen, denen sie eigentlich schaden sollen. »Weder die Taliban in Afghanistan noch das Regime von Bashar al-Assad in Syrien haben durch die Sanktionen ihr Verhalten geändert. Wenn man bei der Anwendung von Sanktionen kein Augenmaß hat, trifft man die Falschen«, sagt Conrad Schetter, Konfliktforscher vom Internationalen Zentrum für Konfliktforschung (BICC) in Bonn, im Gespräch. »Und Menschen, die für lange Zeit in einer humanitären Notlage ohne Hoffnung und Perspektive verharren, marschieren irgendwann in Richtung Europa.« Zudem komme es bei jenen, die trotz ihrer miserablen Situation im Land blieben, »oft eher zu einem Solidarisierungseffekt mit den Eliten, weil sie sich gemeinsam in die Ecke der Ausgestoßenen gestellt sehen«, sagt Schetter.
So wächst in den Bevölkerungen sanktionierter Länder der Unmut gegenüber dem Westen, der mit der Peitsche in der Hand die Verteidigung der Menschenrechte predigt. Die Staats- und Regierungschefs der sanktionierten Länder indes richten in der Regel ihre Wirtschaftsbeziehungen neu aus – vor allem in Richtung Osten.
»Für Afghanistan wurden die Mittel für den Kampf gegen den Hunger im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 um 80 Prozent gekürzt.«
Agathe Demarais ist Direktorin für globale Prognosen bei der Economist Intelligence Unit (EIU) des britischen Wirtschaftsmagazins The Economist. Zuvor war sie als Beraterin des französischen Finanzministeriums in Russland und im Libanon tätig und beschäftigte sich mit Sanktionen. Im Jahr 2022 veröffentlichte sie ihr Buch Backfire. How Sanctions Reshape the World Against U.S. Interests. Demarais schreibt: »Die Verbreitung von Sanktionen fördert die Bemühungen, sie zu umgehen, da Länder und Unternehmen nach Wegen suchen, die US-Strafen zu umgehen. Sanktionen bringen Regierungen, die mit den USA im Streit liegen, einander näher – oder zunehmend auch näher zu Russland und China. Sanktionen verändern so die Geopolitik und die Weltwirtschaft und verringern den Einfluss der USA.«
In Afghanistan etwa ist dieser Einfluss fast zwanzig Jahre lang immens gewesen – schließlich sind die USA 2001 in das Land einmarschiert und hielten es zusammen mit verbündeten Streitkräften bis zum Sommer 2021 besetzt. Doch den Menschen im Land, mit einer Fläche fast doppelt so groß wie Deutschland einer Bevölkerung von rund 40 Millionen Menschen, brachte dies keine nachhaltige Besserung, von den zivilen Opfern ganz zu schweigen. Auch deshalb übernahmen die Taliban 2021 so mühelos die Macht. Sofort verhängten die USA Strafmaßnahmen gegen die neuen alten Machthaber – mit beklagenswerten Folgen.
Die Sanktionen, die vor allem das Banksystem treffen, machen die afghanische Wirtschaft funktionsunfähig, behindern Geldüberweisungen und verteuern die Lebensmittelimporte drastisch. Gleichzeitig vergisst die Welt das Land. Im Oktober 2023 schlugen Vertreter des Welternährungsprogramms (WFP), der UN-Agentur zur Bekämpfung des Hungers in der Welt, Alarm: für Afghanistan wurden die Mittel für den Kampf gegen den Hunger im Jahr 2023 im Vergleich zu 2022 um 80 Prozent gekürzt – von 1,6 Milliarden US-Dollar auf rund 340 Millionen US-Dollar. »15 Millionen Afghanen hungern derzeit. Infolge der fehlenden Finanzierung waren wir gezwungen, die Hilfe für 10 Millionen Menschen im Land zu kürzen«, sagte John Aylieff, Regionaldirektor des WFP. Er rief die Länder der internationalen Gemeinschaft auf, die Mittel für das Land aufzustocken. »Auch wenn die Taliban problematische Entscheidungen treffen: die Humanität muss an erster Stelle stehen.« Zumal sich die extreme Situation 2022/23 durch Erdbeben, die Tausende von Toten und Hunderttausende von Obdachlosen gefordert haben, noch verschärft hat.
Die aus Afghanistan stammende und in den USA lebende Rechtsanwältin Wazhma Sadat beschreibt auf den Seiten des US-Magazins Foreign Policy die Berichte ihrer Verwandten wie folgt. »Meine Verwandten, die noch in Afghanistan leben, erzählen mir, dass sie in den letzten zwei Jahren stets nach unten geblickt haben, wenn sie nach draußen gingen, um den Kontakt mit Freunden und Verwandten zu vermeiden, denen es zu peinlich sein könnte, sie beim Betteln um Essen zu sehen.« Viele dieser Menschen, schreibt Sadat, hatten bis vor kurzem noch Arbeit oder führten kleine Unternehmen. »Zweifellos haben die Sanktionen zum Leiden der Afghanen beigetragen. Anstatt größeren Schaden zu verhindern, ermutigen Sanktionen oft repressive Regierungen und geben ihnen die Erlaubnis, noch mehr Regeln zu brechen, mit anderen antidemokratischen Regimen zusammenzuarbeiten und Terrorakte zu unterstützen.«
Der Konfliktforscher Conrad Schetter argumentiert, dass die Sanktionen gegen Afghanistan reflexartig verhängt wurden, »ohne darüber nachzudenken, was man eigentlich tut und welche Folgen das hat«. Befürworter der Sanktionen argumentierten, dass die Taliban den Terror unterstützen und die Menschen-, insbesondere die Frauenrechte verletzen. Die westliche Öffentlichkeit, so Schetter, führe die schlimme Lage der afghanischen Bevölkerung auf die Rückkehr der Taliban zurück. »Das ist aber nicht wahr. Es sind vor allem die Sanktionen, die zu dieser Situation geführt haben, denn es können faktisch keine Wirtschaftsgüter mehr eingeführt werden, das Land ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, und nur diese ist erlaubt.« Seiner Meinung nach ist es für die Taliban wichtig, von der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden. »Das ist etwas, worauf sie seit zwanzig Jahren warten, es ist ein Schlüsselelement. Das Instrument, um sie zu beeinflussen, sind die Verhandlungen über die Aufhebung der Sanktionen.«
Michael Kunz, Mitarbeiter des Schweizer Vereins Afghanistanhilfe, der seit über dreißig Jahren professionelle Hilfe und Projekte in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Armutsbekämpfung organisiert, weist auf die negativen Folgen dieser fehlenden Kompromissbereitschaft seitens westlicher Staaten hin. Kunz berichtet aus Erfahrung, dass Absprachen mit den Taliban möglich seien. »Obwohl etwa ein Arbeitsverbot für Frauen eingeführt wurde, konnten wir uns mit den gemäßigten Taliban auf eine Ausnahme im Gesundheitswesen einigen. Es ist wichtig, mit diesen moderaten Kräften in Kontakt zu bleiben, um sie gegen die radikalen Fraktionen der Taliban zu stärken.« Letztere gewännen derzeit an Einfluss – laut Kunz auch als Folge der Sanktionen. Denn die Taliban gehörten zu jenen Gruppen in der Welt, die mit Zwangsmitteln nicht zu Zugeständnissen zu bewegen seien. »Wir müssen bestimmte Werte verteidigen, aber: wer in Afghanistan etwas tun will, muss zu Kompromissen bereit sein.«
Doch die USA unter Präsident Joe Biden denken bisher nicht nur an keinerlei Zugeständnisse. Mehr noch: Washington hat afghanische Zentralbankgelder, die in den USA deponiert wurden, blockiert. Dabei geht es um insgesamt rund 7 Milliarden US-Dollar. Erst nach harscher Kritik unter anderem von NGOs erklärte sich die US-Führung im Herbst 2022 bereit, die Hälfte dieser Mittel in einen Fonds in der Schweiz zu transferieren, der die Verwendung koordinieren sollte – ohne Zugriff durch die Taliban. Inzwischen rückt die US-Regierung jedoch auch davon ab und argumentiert, die afghanische Zentralbank müsse erst nachweisen, dass sie »frei von politischer Einflussnahme« sei, so ein Beamter des US-Finanzministeriums.
Die 7 Milliarden bilden dabei mehr als ein Drittel des im Jahr 2020 auf 20 Milliarden US-Dollar geschätzten BIP Afghanistans. Die andere Hälfte der afghanischen Devisen, 3,5 Milliarden US-Dollar, will die US-Regierung zur Entschädigung an Geschädigte der Anschläge vom 11. September 2001 überweisen. Dieses kuriose, de facto illegale Vorhaben wurde von internationalen Experten kritisiert, auch ein US-Gericht hat seine Rechtmäßigkeit in Frage gestellt.
»In Syrian leben derzeit 90 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze und haben nur begrenzten Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Strom, Medikamenten, Koch- und Heizmaterial.«
Es braucht nicht viel Spekulation, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Westen mit einer solchen Politik keine Sympathie in der afghanischen Bevölkerung erzeugen wird. Wazhma Sadat schreibt: »Als Kind unter der Herrschaft der Taliban aufgewachsen, habe ich die kolossal negativen Auswirkungen der Sanktionen erlebt. Als Fünfjährige fragte ich mich, ob meine Eltern die schmerzhafte Entscheidung treffen müssten, eines von uns Kindern zu verkaufen, damit der Rest von uns überleben kann.« Das faktische Resultat der Sanktionen gegen das extrem arme Land sind also – gestern wie heute – eine hungernde Nation sowie Afghaninnen und Afghanen, die massenhaft in andere Länder fliehen: ins benachbarte Pakistan, das diese Geflüchteten seit dem 1. November 2023 massenhaft ausweist, aber auch nach Europa.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass bis Ende 2022 rund 5,7 Millionen Menschen aus Afghanistan weltweit Zuflucht gesucht haben. Damit sind Afghaninnen und Afghanen die derzeit drittgrößte Geflüchtetengruppe der Welt – nach Menschen aus Syrien und der Ukraine. Etwa 90 Prozent der afghanischen Geflüchteten halten sich in den beiden Nachbarländern Iran (etwa 3,4 Millionen) und Pakistan (etwa 1,7 Millionen) auf, an dritter Stelle steht Deutschland (mehr als 200.000 Menschen). Diese Menschen haben überlebt – im Gegensatz zu mehreren Hundert ihrer Landsleute sowie Pakistanis, die am 14. Juni dieses Jahres im Mittelmeer nahe der griechischen Halbinsel Peloponnes ums Leben kamen, als das Fischerboot, mit dem sie nach Italien wollten, unterging.
Im Mittelmeer sterben seit Jahren auch Menschen aus Syrien, die unter anderem vor den harten Auswirkungen der Sanktionen fliehen. Gegen das Regime von Baschar al-Assad hatten die USA und die EU bereits zu Beginn des Bürgerkriegs 2011 Strafmaßnahmen eingeführt. Unter Präsident Donald Trump weiten die USA diese 2020 im Rahmen des Caesar Act nochmals deutlich aus. Vertreterinnen und Vertreter der UN haben seitdem wiederholt ihre Abschaffung gefordert.
Alena Douhan, eine unabhängige UN-Menschenrechtsexpertin, veröffentlichte nach einem Besuch in Syrien im November 2022 einen Bericht. Sie schreibt: »Die Blockierung von Bankzahlungen und die Verweigerung von Lieferungen durch ausländische Produzenten, gepaart mit begrenzten Devisenreserven aufgrund der Sanktionen, haben zu schweren Engpässen bei Medikamenten und spezialistischer medizinischer Ausrüstung geführt, insbesondere bei der Behandlung chronischer und seltener Krankheiten.« Dies ist auch ein Grund, warum 90 Prozent der Menschen in Syrien derzeit unterhalb der Armutsgrenze leben und nur begrenzten Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Strom, Medikamenten, Koch- und Heizmaterial haben. Einige Produkte sind mit einem Embargo belegt, weil sie einen sogenannten »doppelten Verwendungszweck« (double use) haben. Zum Beispiel kann Chlor sowohl für die Abwasserreinigung und Wasseraufbereitung als auch für Waffen verwendet werden.
Ibrahim Mohamad stammt ursprünglich aus Syrien. Er lebt seit 1998 in Berlin und ist promovierter Ökonom. Ein Teil seiner Familie, seine Mutter und seine Geschwister, leben noch in Syrien, wo Mohamad sie regelmäßig besucht – und ihnen hilft. »Die Sanktionen des Westens, vor allem die im Zusammenhang mit dem Caesar-Gesetz, haben sich katastrophal auf die Bevölkerung des Landes ausgewirkt, Industrie und Landwirtschaft sind zerstört, die Wirtschaft des Landes ist im Vergleich zu 2011 um 70 Prozent geschrumpft«, sagt er im Gespräch.
Ein mit Mohamad befreundeter Geschäftsmann etwa kann keine Vorprodukte mehr aus Deutschland für die Produktion von Hygieneartikeln importieren, weil er schlicht kein Geld ins Ausland überweisen kann. Syrische Unternehmen haben fast keinen Handlungsspielraum mehr, nicht nur mit westlichen Ländern, sondern laut Mohamad auch mit Firmen aus China, Brasilien oder arabischen Ländern zu kooperieren. »Unternehmen aus diesen Ländern, die gleichzeitig Geschäfte mit westlichen Staaten machen, fürchten Sanktionen, wenn sie den Handel mit Syrien aufrechterhalten – sie sorgen sich, dass die USA ihre Konten sperren.«
Dies ist auch der Grund, warum die syrische Lira seit 2020 dramatisch an Wert verliert und nur der Schmuggel und der Schwarzmarkt florieren. Bei seiner Reise in das Land kann Mohamad sehen, dass die meisten seiner Landsleute leiden. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum die EU die Sanktionen aufrechterhält. Sie sind eine kollektive Bestrafung, die nicht das Regime trifft, sondern die einfachen Menschen. Jetzt fliehen die verbliebenen Menschen, die früher zur Mittelschicht gehörten. Sie verkaufen alles, was sie haben, um die Schmuggler zu bezahlen.«
Kritik an der westlichen Syrien-Politik kommt auch aus konservativen und liberalen US-Thinktank-Kreisen. Bereits im August 2020 schrieben Joshua Landis und Steven Simon in Foreign Affairs über die »sinnlose Grausamkeit der neuen Sanktionen«, weil es dem Assad-Regime »egal ist, ob noch mehr seiner Leute verhungern«. Die Autoren räumen ein, dass der Wiederaufbau des Landes eine Zusammenarbeit mit der Regierung in Damaskus erfordern würde, die zugegebenermaßen »notorisch korrupt« sei. Aber, so schreiben sie, »Saudi-Arabien ist auch korrupt«. Die Schlussfolgerung der beiden: »Je eher die USA ihre Strafpolitik gegenüber Syrien revidieren, desto eher werden sie einen positiven Beitrag in der Region leisten können. Assad wird wahrscheinlich erhebliche Zugeständnisse machen, um den Sanktionen zu entgehen, aber ein Rücktritt von der Macht gehört nicht dazu.« Denn wenn selbst »neun Jahre brutaler Gewalt [...] ihn und seine Truppen nicht besiegt haben, wird ihn auch ein Wirtschaftsembargo nicht aufhalten.«
»Bei den Sanktionen geht es meist nicht um die Verteidigung von Demokratie oder Menschenrechten, sondern um die Bestrafung von Regierungen, die nicht mit dem Westen verbündet sind oder sein wollen.«
Das war im Jahr 2020. Doch dass die Regierung von Joe Biden dem Leiden der Menschen in Syrien mit mehr Empathie begegnen würde, war ein Trugschluss. Bis zu dem katastrophalen Erdbeben in Syrien und der Türkei im Februar 2023 wurden die Sanktionen aufrechterhalten, und die Aufhebung diente seither lediglich dazu, den Fluss der humanitären Hilfe zu erleichtern. Daher schlug Paulo Pinheiro, Vorsitzender der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission der UN für die Arabische Republik Syrien, in der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Oktober Alarm: »In den letzten zehn Jahren gibt es keinen Beweis dafür, dass sektorale einseitige Zwangsmaßnahmen zu positiven Veränderungen im Verhalten der Regierung geführt haben. Es sind die einfachen Menschen, die die Hauptlast der Auswirkungen zu tragen haben. Syrien ist nach wie vor Schauplatz der größten Flüchtlingskrise der Welt, mit mehr als sieben Millionen Syrern, die aus dem Land geflohen sind, und mehr als sechs Millionen Binnenvertriebenen.«
Unterdessen richtet al-Assad das im Chaos versinkende Land weiter auf Russland aus – und auf China. Am 22. September reiste er zum ersten Mal seit 2004 nach Peking und traf sich mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Die beiden Staatsoberhäupter kündigten den Aufbau einer »strategischen Partnerschaft« an.
Doch nicht nur die direkten Sanktionen gegen kleinere Länder haben katastrophale Auswirkungen auf deren Bevölkerungen. Der Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland wirkt sich indirekt ebenfalls auf sie aus. Dies gilt etwa für die Lieferung von Düngemitteln an arme Länder, zu deren Hauptexporteuren Russland gehört. Zwar betont die EU, dass sich die Sanktionen nicht auf den Handel mit Düngemitteln in den Globalen Süden erstrecken. Infolge der Beschränkungen, die der russischen Transport- und Finanzindustrie sowie den Oligarchen, die diesen Handel kontrollieren, auferlegt wurden, gingen die Düngemittelausfuhren aus Russland im Jahr 2022 trotzdem um 15 Prozent auf 31,6 Millionen Tonnen zurück. Die Afrikanische Union hat vor Ernteausfällen und -risiken gewarnt – es sollte nicht überraschen, dass viele afrikanische Länder die Sanktionen gegen Russland ablehnen.
Das gilt umso mehr, als sie auch den Energiemarkt – Gas und Öl – durcheinander gebracht haben. Um sich von russischen Importen abzuschneiden, haben die EU-Länder diese Rohstoffe in großem Umfang in anderen Ländern kontraktiert und damit die Preise in die Höhe getrieben, sodass viele Länder des Globalen Südens sie nicht mehr zahlen konnten und können.
Dies führte dazu, dass Exportländer von Flüssigerdgas (LNG) sogar ihre zuvor abgeschlossenen langfristigen Verträge mit ärmeren Ländern brachen. Zwar mussten sie dafür Vertragsstrafen zahlen, diese waren aber oft geringer als der zusätzliche Gewinn, der durch die astronomischen Preise erzielt werden konnte. So war Pakistan beispielsweise gezwungen, seine LNG-Importe 2022 um fast 20 Prozent zu reduzieren – der Strom wurde rationiert und der wirtschaftliche Schaden war enorm. Gleichzeitig steigt die Zahl der Geflüchteten aus Pakistan.
Wir verkennen die zerstörerischen Auswirkungen von Sanktionen gegen Regime, die den USA und dem Westen nicht passen, auf die Zivilbevölkerung. Und wir verkennen, dass es dabei meist nicht um die Verteidigung von Demokratie oder Menschenrechten geht, sondern um die Bestrafung von Regierungen, die nicht mit dem Westen verbündet sind oder sein wollen. Abdulkader Sinno, Professor für Politikwissenschaft und Nahoststudien an der Indiana University in Bloomington, USA, fasst die möglichen Folgen einer derart fehlgeleiteten Sanktionspolitik auf der akademischen Plattform East Asia Forum am Beispiel Afghanistans wie folgt zusammen.
»Es ist wahrscheinlich, dass sich die Kurzsichtigkeit des Westens und die Starrheit der Taliban durchsetzen werden und die afghanische Zivilbevölkerung dafür mit ihrem Leben bezahlen wird. Die westlichen Länder können die Auswirkungen ihrer Politik weiterhin durch Ad-hoc-Nahrungsmittelhilfe verschleiern, und die Taliban können sich weiterhin an der westlichen Feindseligkeit rächen, indem sie gegen Frauen und Anhänger einst mit den USA verbündeter Gruppen vorgehen. In diesem Prozess können die Taliban ihrem seltenen Verbündeten al-Qaida größere Autonomie gewähren und die Drogenproduktion wieder aufnehmen, um sich eine zuverlässige Einnahmequelle zu verschaffen.« Das letzte Mal, schreibt Sinno, wurden 1999 ähnliche Sanktionen gegen die Taliban verhängt, die zu einer engeren Zusammenarbeit mit al-Qaida, den Anschlägen vom 11. September 2001 und »einem globalen, von den USA geführten ›Krieg gegen den Terror‹, der noch immer nicht zu Ende ist«, führten.
Jan Opielka ist freier Journalist und arbeitet vorwiegend für deutschsprachige Print- und Radiomedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Freitag, Frankfurter Rundschau, WOZ, Deutschlandfunk, ORF Ö 1).