12. Juni 2023
Die Beschäftigten von Vita Cola streiken – zum ersten Mal. Dabei geht es um mehr als 200 Euro Lohnangleichung.
Der Lohnunterschied zwischen Ost und West beträgt immer noch rund 16,9 Prozent.
IMAGO / photo2000Vita Cola wurde 1958 im Rahmen des zweiten Fünfjahresplans der DDR gegründet. In diesen Wochen wird bei Vita Cola gestreikt – zum ersten Mal für Westlöhne. Auch bei dem Ost-Pionier, der seine Identität in Werbekampagnen immer wieder betont, verdienen die Beschäftigten im Osten rund 200 Euro weniger im Monat als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen. Das Ergebnis der letzten Tarifverhandlung 2023 war eine Zumutung: Lohnangleichung um nur 50 Euro und die Gewährung einer Corona-Prämie, die 1.000 Euro niedriger ausfällt als etwa die der Kolleginnen und Kollegen im hessischen Tarifgebiet. Darum wird jetzt gestreikt.
Rund 70 der etwa 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Thüringer Waldquell in Schmalkalden haben sich an dem Streik beteiligt. Der Umsatz des zur hessischen Hassia-Gruppe gehörenden Unternehmens stieg 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 1,5 Prozent. Nach Angaben von Jens Löbel von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) kämpft die Belegschaft schon seit Jahren für eine Angleichung der Löhne.
Die Coca-Cola des Ostens, das Paradebeispiel für die Imitation westlicher Konsumgüter, ist heute die meistverkaufte deutsche Cola-Marke. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass auch hier endlich für gleiche Löhne gekämpft wird. Die Kolleginnen und Kollegen der Teigwaren Riesa hatten es zu Beginn dieses Jahres bereits vorgemacht.
34 Jahre nach der Wende verdienen die Beschäftigten also immer noch weniger als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Vita Cola ist kein Einzelfall, sondern der Normalfall im wirtschaftlich nur scheinbar vereinten Deutschland. Vergleicht man Beschäftigte gleichen Geschlechts mit vergleichbarer Berufserfahrung im gleichen Beruf, beträgt der Lohnunterschied zwischen Ost und West immer noch rund 16,9 Prozent. Aufgrund des Gefälles zwischen Ost- und Westdeutschland bleibt die Lohnlücke auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten gravierend. Besonders stark davon betroffen sind Arbeiterinnen und Arbeiter, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder weiterführende Qualifikationen verfügen; in akademisch geprägten Berufen ist der Abstand etwas geringer, aber immer noch signifikant.
Hinzu kommt, dass im Osten in allen Branchen bis heute pro Woche mehr gearbeitet wird als im Westen. Im Angleichungsprozess scheint der Osten vor allem die negativen Aspekte der westdeutschen Erwerbsarbeit übernommen zu haben – der bereinigte Gender Pay Gap nähert sich in den ostdeutschen Bundesländern langsam dem Westniveau an, wird also größer. Wenig beachtet wird in der öffentlichen Diskussion, dass der bereinigte Gender Pay Gap selbst die Lohnlücke zwischen Ost und West vergrößert, weil in Ostdeutschland mehr Frauen erwerbstätig sind. In der DDR war es selbstverständlich und erwünscht, dass Frauen arbeiten gehen. Das zeigt einmal mehr: Wir müssen den Blick nach vorn richten und nicht nach Westen.
Der Streik bei Vita Cola könnte eine Wende in der Arbeiterbewegung und dem Selbstbewusstsein der ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter einleiten. Jahrelang galt der Osten als selbstverständliche Dumpinglohnregion, was aus vermeintlicher Alternativlosigkeit hingenommen wurde. In Bezug auf das Lohnniveau ist Deutschland nach wie vor ein geteiltes Land. Die Ostdeutschen sind nicht mehr bereit, ihre wirtschaftliche Benachteiligung stillschweigend hinzunehmen und mit steigendem gewerkschaftlichen Organisationsgrad wächst das Konfliktpotenzial, das für bessere Arbeitsbedingungen notwendig ist. Viele Ostdeutsche haben historisch bedingt ein distanziertes Verhältnis zu den Gewerkschaften, aber sie sind die Vorfeldorganisation im Kampf um bessere Arbeit – und dieser Kampf geht alle an.
Die Tarifflucht führt dazu, dass weniger als die Hälfte der Beschäftigten in tarifgebunden Betrieben arbeiten, die Arbeitgeber erhoffen sich davon kurzfristige Kostenvorteile. Die Möglichkeit der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung muss abgeschafft und die Vergabe öffentlicher Aufträge muss in allen Bundesländern an einen Vergabemindestlohn von 15 Euro gebunden werden.
Vergleichbare Arbeitskräfte verdienen aufgrund von Skaleneffekten in größeren Betrieben mehr als in kleineren. Im Osten wurden nach 1990 viele Betriebe neu gegründet, viele Großbetriebe gingen pleite oder wurden zugunsten des Westens dicht gemacht – dieser Faktor bestimmt die Lohnungerechtigkeit zwischen Ost und West bis heute entscheidend mit. Damit große Arbeitgeber mit guten Arbeitsbedingungen im Osten bleiben oder sich dort ansiedeln, ist letztlich die Politik gefragt.
Der Osten ist in vielen Hinsichten ein Vorbild für den Westen, so auch bei der Frauenerwerbsquote, die in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland höher liegt. Der bereinigte Gender Pay Gap muss dringend geschlossen werden, nicht nur aus Gründen der Lohngerechtigkeit zwischen Ost und West.
Transparenz in der Lohnpolitik bleibt von zentraler Bedeutung. Unternehmen sollten verpflichtet werden, ihre Entgeltstrukturen offenzulegen und Entgeltunterschiede zu begründen. So können Diskriminierungen und Ungleichheiten aufgedeckt werden, was wiederum zu einer gerechteren Entlohnung führt.
Es geht nicht um die Nachahmung westdeutscher Verhältnisse, sondern um Gerechtigkeit für alle, besonders aber für die Menschen in Ostdeutschland.
Lilly Blaudszun ist in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, studiert in Frankfurt (Oder) und ist Mitglied bei der SPD.