04. Mai 2023
Sozialisten aus Deutschland kämpften und starben in den USA für die Befreiung der Sklaven. Ihre Geschichte ist heute nahezu komplett vergessen.
General Franz Sigel, etwa 1860-1865.
Mathew Benjamin Brady/Wikimedia CommonsDie soziale Lage in den deutschen Staaten im Vorfeld der Revolutionen von 1848 brachte eine Generation radikaler Sozialistinnen und Kommunisten hervor, die die Weltgeschichte veränderten.
Diese Generation kämpfte auf den Barrikaden Mitteleuropas gegen die Monarchie. Viele von ihnen überquerten nach der Niederschlagung der Aufstände den Atlantik in die Vereinigten Staaten – gerade rechtzeitig, um dort die Union im Bürgerkrieg zu unterstützen. Radikalisierte deutsche Einwandererinnen und Einwanderer verhinderten im Kampf den Beitritt von Missouri zur südstaatlichen Konföderation, gründeten während des Eisenbahnstreiks 1877 die erste US-amerikanische Kommune und schufen eines der bedeutendsten öffentlichen Schulsysteme in den jungen Vereinigten Staaten.
In den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und im darauf folgenden McCarthyismus wurden viele wichtige Beiträge dieser radikalen Deutsch-Amerikaner zur sozialistischen Bewegung heruntergespielt, ignoriert und vertuscht. Im Zuge des Red Scare wurden ihre Errungenschaften totgeschwiegen. Abgesehen von einigen wenigen Statuen und dem berühmten Abwassersystem von Milwaukee ist der enorme Einfluss dieser deutschen Linken in der amerikanischen Geschichte kaum noch sichtbar und heute weitgehend vergessen.
Baden, 1848
Schon lange vor der Revolution 1848 hatten diverse Wellen sozialer Konflikte die deutschen Staaten erfasst. Die napoleonischen Truppen mögen 1815 bei Waterloo gestoppt worden sein, aber die napoleonisch-liberalen Ideen verbreiteten sich überall.
In Deutschland startete schon im späten fünfzehnten Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks ein Angriff auf die herrschende Macht. Die protestantische Reformation trieb die Alphabetisierung der Deutschen voran und forderte die Allmacht der katholischen Kirche heraus: Man solle einzig und allein durch die Heilige Schrift Trost und Hoffnung finden können, nicht durch Priester und die hierarchische Bürokratie der Kirche, forderte Martin Luther.
Da das Volk nun die Bibel lesen konnte, konnte es sich bald auch durch andere Texte, beispielsweise in Zeitungen, weiterbilden. Rund dreihundert Jahre nach Luther begannen die Deutschen, die Werke der jungen Hegelianer Karl Marx und Friedrich Engels zu studieren. Diese veröffentlichten 1848 das Kommunistische Manifest, passend zum revolutionären Aufbruch in den deutschen Gebieten.
Feudale Monarchen, die alte Aristokratie und die Kirche waren nach mehreren hundert Jahren gesellschaftlicher Kontrolle im Niedergang begriffen. Die einzige Streitfrage im Jahr 1848 lautete: Wer wird in Zukunft die Macht an sich reißen? Die Bourgeoisie? Oder die revolutionären Kräfte?
Überall auf dem Kontinent wurden Barrikaden errichtet. Im Manifest wurden Änderungen in Bezug auf das Erbrecht (beziehungsweise dessen Abschaffung) und bei der Verteilung des Eigentums (Abschaffung des Privateigentums) gefordert. Außerdem wurde auf die Einführung eines kostenlosen öffentlichen Bildungssystems für alle Kinder gedrängt: »Und ist nicht auch Eure Erziehung durch die Gesellschaft bestimmt? Durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer Ihr erzieht, durch die direktere oder indirektere Einmischung der Gesellschaft vermittelst der Schule und so weiter?« Die Kommunistinnen und Kommunisten machten es sich zum Ziel, die Alphabetisierung der Bevölkerung massiv voranzutreiben und »die Erziehung dem Einfluss einer herrschenden Klasse« zu entreißen.
Marx und Engels zielten auf ein breites Publikum ab, aber es waren vor allem Handwerker sowie Bäuerinnen und Bauern, deren Lebensunterhalt in den deutschen Staaten am unmittelbarsten durch den Industriekapitalismus bedroht war.
Direkt auf der ersten Seite des Manifests werden die Gesellen erwähnt. »Handwerksmeister konnten noch einen recht anständigen Lohn verdienen«, schreibt Mark Kruger in The St. Louis Commune of 1877, »aber ihre Gesellen lebten wortwörtlich am Abgrund, an der Schwelle zum Verhungern. Handwerker und Meister versuchten, ihre Privilegien zu behalten, ihre Produktion, ihr Einkommen und ihr Arbeitsumfeld zu kontrollieren, während die Gesellen versuchten, selbst Meister zu werden – und die Zünfte lagen schon im Sterben.«
Während die Fabriken für die Arbeiterschaft in der Stadt für Kinderarbeit, lähmende Langeweile, von Maschinen verstümmelte Gliedmaßen und niedrige Löhne standen, verarmten die Deutschen auf dem Land durch die ungleiche Aufteilung des Bodens. Das Jagen oder Sammeln von Holz auf adeligem Land konnte einen Bauern schnell in eine vermoderte Gefängniszelle bringen. Die Spannungen nahmen Jahr für Jahr zu; immer mehr Bäuerinnen und Bauern widersetzten sich den bestehenden Gesetzen oder befreiten Gefangene.
Schlechte Ernten in den 1840er Jahren verstärkten den Druck. In Teilen Mitteleuropas sahen sich über zwei Drittel der Bevölkerung gezwungen, zu betteln. Ein weiterer Effekt: Zwischen 1816 und 1850 wanderten 5 Millionen Menschen aus Europa aus, rund die Hälfte von ihnen über den Atlantik nach Amerika.
Da sie in dieser zusammenbrechenden Wirtschaftsordnung keine Zukunft sahen, setzten viele auch auf Gewalt – und ihre Prinzen und Adeligen unsanft ab. 1843 machte der junge Revolutionär Franz Sigel seinen Abschluss an der Karlsruher Militärakademie und trat in die Armee des Großherzogtums Baden ein. Sigel wurde Leutnant, wechselte fünf Jahre später aber die Seiten und führte den »Sigel-Zug« – eine Miliz von rund 4.000 Freiwilligen – gegen die Truppen des Großherzogtums ins Feld. Sigels Einheit war zahlenmäßig unterlegen, machte sich in den Kämpfen dennoch einen Namen.
»Die Insurrektion«, schrieb Marx 1848 über Kämpfe in Paris, »entwickelt sich zur größten Revolution, die je stattgefunden, zur Revolution des Proletariats gegen die Bourgeoisie«. Er berichtete weiter: »Die Kanonen antworteten und bis 9 Uhr zersplitterten Fenster und Ziegel von dem Donner der Geschütze; es ist ein entsetzliches Feuer. Das Blut fließt in Strömen, während sich zu gleicher Zeit ein fürchterliches Gewitter entladet. Soweit man sehen kann, ist das Straßenpflaster von Blut gerötet […] Die Zahl der Toten ist immens, die Zahl der Verwundeten noch viel größer.«
Die manchmal als »Völkerfrühling« bezeichneten Revolutionen von 1848 brachen neben Deutschland in Frankreich, Italien, dem Habsburger Reich und der Schweiz aus. Der Historiker Eric Hobsbawm sieht als Hauptursache die sich überschneidenden Interessen dreier Gruppen:
Die Ereignisse von 1848 hatten erheblichen Einfluss auf Marx und Engels, die sich für einen internationalistischen Ansatz der Revolution einsetzten. Engels war persönlich in der Spätphase der badischen Revolution aktiv – in einer Art letzten Gefechts – und kämpfte an der Seite von Sigel gegen konterrevolutionäre preußische Truppen. Sigel führte seine 4.000 Freiwilligen bei der Belagerung der Stadt Freiburg an. Er und Engels trafen sich nach dieser Schlacht erstmals offiziell.
Während einige Sozialreformen nach der Revolution in Gesetze gegossen wurden, organisierte sich die Gegenreaktion. Zwischen 1849 und 1851 wurden viele der neuen Regierungen gestürzt und durch Reaktionäre ersetzt. Die führenden Köpfe der Revolution flohen ins Exil, darunter Marx, der das Hauptquartier des Bunds der Kommunisten nach Paris verlegte. Sigel ging nach England, bevor er zusammen mit vielen anderen deutschen »Achtundvierzigern« (in den USA später als »Forty-Eighters« bekannt) ein Schiff nach Amerika bestieg.
1861 spekulierte Ulysses S. Grant: »Wenn St. Louis von den [konföderierten] Rebellen eingenommen worden wäre, hätte das einen riesigen Unterschied gemacht ... Es wäre eine unheimlich schwierige Aufgabe gewesen, St. Louis zurückzuerobern, eine der schwierigsten, die man einem Militär stellen könnte. Statt eines Feldzugs vor Vicksburg hätte es einen Feldzug vor St. Louis geben müssen.«
Missouri und seine Hauptstadt St. Louis blieben jedoch Teil der Union – dank Hauptmann Nathaniel Lyon und einer Miliz bestehend aus deutschen Einwanderern unter der Führung von Offizieren, die bereits 1848 an den Revolutionen in der alten Heimat aktiv waren, unter ihnen ein gewisser Franz Sigel.
Zur Wahl von Präsident Abraham Lincoln mahnte die Westliche Post aus St. Louis ihre deutschsprachige Leserschaft: »Bleibt so wachsam wie die Wide Awakes.« Deutsche republikanische Vereine hielten sich bewaffnet bereit und organisierten »Heimatschutz«-Milizen, die insbesondere pro-südstaatlich eingestellte Menschen in St. Louis im Auge behielten.
St. Louis wimmelte nur so von waffenfähigen Forty-Eighters. Zwischen 1834 und 1837 wanderten 30.000 überwiegend gut gebildete Deutsche in die Vereinigten Staaten ein; 7.000 von ihnen ließen sich in St. Louis nieder. In dieser Zeit wurde die Sklaverei zum wichtigsten politischen und ethischen Thema.
Warum gerade St. Louis? Die Antwort liegt in geschickter Berichterstattung – um nicht zu sagen Propaganda.
In seinem Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerikas beschrieb Gottfried Duden die Täler von Missouri als »Paradies im Westen« und als »ein besseres Rheinland«, das für deutsche Migrantinnen und Migranten besonders geeignet sei. A. B. Faust beschrieb Dudens schwärmerischen Schreibstil wie folgt: »Seine geschickte Feder vermischte Fakten und Fiktion, verwob Erlebnisse und Fantasie, stellte die Freiheit des amerikanischen Waldes und der demokratischen Institutionen in Kontrast zu den sozialen Zwängen und politischen Missständen in Europa. Viele Tausende Deutsche dachten über dieses Buch nach und waren begeistert von dem verlockenden Schein Amerikas. Unzählige Beschlüsse wurden gefasst, den Ozean zu überqueren und für die jetzige und nachfolgende Generationen eine glückliche Heimat am berühmten Missouri River aufzubauen.«
Gerade erst in den Staaten angekommen, waren die deutschen Auswanderer ohnehin nicht Teil der Klasse der Plantagenbesitzer in den Südstaaten. Außergewöhnlich wenige Deutsche in St. Louis hatten Sklaven – meist aus bewusster, ethischer Überzeugung. Missouri galt für sie tatsächlich als die Chance, ein neues Rheinland auf freiem Boden, mit einer freien Arbeiterschaft und insgesamt freien Menschen aufzubauen. »Der einzige Weg, wie wir Neubürger diese politische Krise [den Bürgerkrieg] überstehen können«, schrieb die Westliche, »ist es, alle gesetzlichen Pflichten loyal zu erfüllen, der Union und der Verfassung die Treue zu halten und mit unseren amerikanischen Mitbürgern zusammenzuarbeiten, um Frieden, Ordnung und Recht zu bewahren [...] Der Blick der gesamten Union ist auf die deutschen Bürger von Missouri gerichtet, also müssen wir uns der Erwartungen, die in uns gesetzt werden, würdig erweisen.«
Die Deutschen brachten gemeinschaftlich-soziale Strukturen mit: Schulen, Zeitungen, Turnvereine, riesige Bierhallen (im Gegensatz zu den vorherrschenden kleinen und damit isolierenden Bars), Jagdvereine, die sich zu Bürgerwehren ausbilden ließen – alles hart erlernte gemeinschaftliche Standards aus dem Krisenherd Europa. »Der Kapitalismus ist eher ungewollt zu ihnen gekommen,« erklärt Matt Christman, Co-Host des Podcasts Chapo Trap House. »Im Gegensatz zum amerikanischen Projekt war ihnen klar, dass der einzige Weg zum Überleben eine gewisse bäuerliche Solidarität in den neuen urbanen Lebensräumen war.«
In den 1860er Jahren waren von den 160.000 Ansässigen in St. Louis 60.000 in den deutschen Staaten geboren worden. Weitere 40.000 stammten aus Irland. Diese Zugewanderten stellten sich tendenziell gegen die Sklaverei. Im Gegensatz dazu wurden die alteingesessenen, wohlhabenden Familien der Stadt zu den größten Unterstützern der südstaatlichen Konföderation.
Im Auftrag der sklavereibefürwortenden Regierung des Bundesstaates Missouri richtete General Daniel Frost das Camp Jackson ein und rief 700 Freiwillige zum Exerzieren an den westlichen Stadtrand von St. Louis. Frost erklärte sein Milizlager als eine Versammlung von »Bürgern, die ihr verfassungsmäßiges Recht ausüben, in den Vereinigten Staaten ihr Eigentum voll und ganz zu schützen«. Mit »Eigentum« waren vor allem Sklavinnen und Sklaven gemeint.
Im Mai 1861 stellte Hauptmann Nathaniel Lyon fest, dass Frosts Kommando »der Regierung der Vereinigten Staaten offensichtlich feindlich gesinnt« sei. Er hielt Frost für schuldig, »offen mit der sogenannten Südlichen Konföderation in Verbindung zu stehen«.
Captain Lyon rief die deutsch geprägten Heimatschutz-Milizen auf, das Lager anzugreifen. Die sogenannte Home Guard erhielt ihre Befehle auf Deutsch. Wie in Walter Johnsons Buch The Broken Heart of America beschrieben, war Franz Sigel inzwischen Direktor der öffentlichen Schulen in St. Louis und Autor eines [auf Deutsch herausgegebenen] Handbuchs mit dem Titel Geschichte der Süddeutschen Mai-Revolution. Dieses sollte nach eigener Beschreibung »ein praktisches Lehrbuch für angehende Revolutionäre« sein.
Das Handbuch »kombinierte die Lektüre des deutschen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz mit der politischen Ökonomie des Kommunistischen Manifests«, schreibt Johnson. »Clausewitz argumentierte, dass der ›allgemeine Aufstand‹ eine ›natürliche, unvermeidliche Folge‹ der modernen Kriegsführung sei und dass die Revolte der Menschen gegen ihre Führer eine entscheidende Bedeutung im Konflikt zwischen den Staaten habe.«
Sigel und seine Mitstreiter wie August Willich plädierten für eine Militarisierung des einfachen Volkes: kein stehendes Heer, sondern ausschließlich gut ausgebildete Milizen aus der Zivilgesellschaft. Auf diese Weise konnten die Soldaten nicht von den Eliten kontrolliert und gesteuert werden, so ihre Argumentation.
Mit seinem Handbuch waren Sigels Männer gut gerüstet für den Sezessionskrieg. Lyon gab den Befehl, auf Camp Jackson zu marschieren, und als die Freiwilligen die Turner Hall passierten, jubelten ihnen die Reservisten drinnen zu. Der Redakteur der Westlichen Post Theodor Olshausen verglich die Szene mit den Pariser Aufständen oder der badischen Revolution von 1848 und schwärmte: »Es war einer jener großartigen Momente, in denen die tief im Herzen der Massen glühenden Gefühle plötzlich in wilden Feuern ausbrechen.«
In Berichten über die Einnahme von Camp Jackson heißt es, Sigels Männer hätten etwas unbeholfen marschiert und verschreckt gewirkt. Sie richteten sogar ihre Waffen auf unbewaffnete Zwischenrufer und Provokateure. Ihnen feindlich gesinnte Zivilpersonen säumten die Straßen und beschimpften die »damned Dutchmen«. Sigels Soldaten trugen keine Uniformen, waren aber bewaffnet und bestens darin geschult, Befehle zu befolgen – auf Deutsch.
Camp Jackson kapitulierte sofort vor Lyons Truppen, aber es fielen dennoch Schüsse, nachdem Zivilisten die deutschen Soldaten bedrängten, die laut Bericht »darüber so aufgebracht waren, dass sie ihre Waffen abfeuerten, wenn auch zunächst bewusst über die Köpfe der Zuschauer hinweg«.
Anderen Berichten zufolge kamen die Schüsse aus Gebäuden, von Bäumen und von jenseits der Mauern von Camp Jackson. Rückblickend lässt sich nicht mehr einordnen, was genau passierte und warum es zu den Schüssen kam. Fakt ist: am Ende waren mehrere Zivilisten und Soldaten tot.
Die deutschen Freiwilligentruppen verhinderten in den folgenden Tagen, dass die Konföderierten das Arsenal von St. Louis, das größte Waffenlager westlich des Mississippi, einnehmen konnten, und lieferten sich Scharmützel mit den Konföderierten nahestehenden Randalierern.
Steven Rowan schreibt in seinem Buch Germans for a Free Missouri, für die Forty-Eighters sei der emanzipatorische Kampf in Amerika »wie eine weitere Episode der europäischen revolutionären Tradition, die sich auf eine gemeinsame Sprache und Symbole stützt, die mindestens bis in die Zeit der Französischen Revolution und der Befreiungskriege gegen Napoleon I. von 1812-1814 zurückreichen«.
»Der Sozialist und der Kommunist müssen die Revolution selbst in ihrer mildesten Form wollen, ebenso wie der Arbeiter gezwungen ist, die schlimmste Arbeit zu wollen. Doch sie müssen vor allem durch große Anstrengung und überragendes Talent die Herrschaft über ihre Herren erlangen. Der Sklave muss sich selbst zum Herrn machen,« schrieb Sigel in seinem Tagebuch.
Wie Matt Christman feststellt, hatten die deutschen Revolutionäre ein großes utopisches Projekt im Sinn – und somit viel zu verlieren. Im Gespräch mit JACOBIN erklärt Christman: »Es gab die Vorstellung, dass eine kulturelle Neuausrichtung der Vereinigten Staaten nach deutschem Vorbild und eine Universalisierung der Werte der Forty-Eighters unweigerlich zu einer Revolution und einer gerechteren Gesellschaftsordnung führen würde. Bei der amerikanischen Ideologie geht es aber vielmehr darum, sich möglichst weit von anderen fernzuhalten und sein eigenes Ding zu machen. Die Deutschen verstanden das im Laufe der Zeit: Wenn das amerikanische Projekt Erfolg haben sollte, brauchte es zumindest eine deutsche Gesellschaftsordnung, die sich gegen die reine Unterwerfung durch den Markt wehrt.«
Schon kurz nach Ausbruch des Krieges war Sigel ein Held der Deutsch-Amerikaner, die sich unter dem Motto »Fight Mit Sigel!« für Lincolns Armee meldeten. 200.000 deutschstämmige Soldaten wurden rekrutiert. 25 Prozent der Unionsarmee waren Ausländer, im Gegensatz zu lediglich 5 Prozent bei den Konföderierten.
In gewisser Weise war diese Rekrutierung auch Sigels wichtigster Beitrag. Er erwies sich im Feld als eher mittelmäßiger Stratege und verbrachte viel Zeit auf dem Rückzug. In der Schlacht von Carthage wurden Sigels zahlenmäßig unterlegene Truppen von der Missouri State Guard zurückgetrieben. Einen Erfolg konnte er bei Pea Ridge verbuchen, wo Sigel persönlich die Artillerie der Union befehligte, die die Konföderierten zurückschlug. In der Schlacht am Wilson Creek in der Nähe von Springfield wiederum führten Sigels und Captain Lyon einen weiteren erfolglosen Vorstoß ihrer Truppen an, der Lyon das Leben kostete. Sigel veranlasste den Rückzug.
Die deutschen Freiwilligen vor Ort wollten dennoch unbedingt mit Sigel kämpfen. Dabei war nicht immer eindeutig, ob man sich wirklich mit allen Zielen der Nordstaaten identifizieren wollte. »Ein vernünftiger Deutscher befindet sich in einer schwierigen Lage,« schrieb ein Soldat im Buch Germans in the Civil War: The Letters They Wrote Home. »Auf der einen Seite die Sklaverei, die jeglicher Moral entgegensteht, und die schamlose Anmaßung der Prediger… Auf der anderen Seite die drohende und wahrscheinliche Verletzung der Rechte von Einwanderern.« Mit letzterer Aussage bezog er sich auf die sogenannten Know-Nothings in den Nordstaaten, die sich gegen weitere Immigration aus nicht-protestantischen Ländern aussprachen.
In der Reconstruction-Ära nach dem Bürgerkrieg übte das St Louis Movement tiefgreifenden Einfluss auf das Bildungswesen der USA aus. Beim Movement handelte es sich um eine philosophische Gesellschaft und breitere Bewegung, die aus der inzwischen heimisch gewordenen deutschen Bevölkerung der Stadt hervorging.
Unter der Leitung von William Torrey Harris und Henry Conrad Brokmeyer brachte die St Louis Philosophical Society ab 1866 das Journal of Speculative Philosophy heraus. Dieses zog unter anderem die Aufmerksamkeit der Schriftsteller Ralph Waldo Emerson und Louisa Alcott auf sich.
Brokmeyer war ein junger Deutscher, der an der Brown University studiert hatte, bevor er in die Wälder von Missouri zog, um es Henry David Thoreau gleichzutun, in einer Hütte zu leben und Kant und Hegel zu studieren. William Harris wurde von 1868 bis 1880 Leiter der Schulen von St. Louis. Laut dem Buch The Public and the Schools von Selwyn Troen »genoss kein Pädagoge in den Vereinigten Staaten ein höheres Ansehen in der Öffentlichkeit und im Berufsleben als er«. Harris und Brokmeyer vertraten eine Theorie des pragmatischen Handelns für das demokratische Gemeinwohl sowie eine »höchst fragwürdige Anwendung der Hegelschen Dialektik, die sie als historische Kraft ansahen, die St. Louis in eine Position der kulturellen Vorherrschaft in der gesamten amerikanischen Gesellschaft katapultieren würde«.
1838 gab es in St. Louis vermehrt öffentliche Schulen für Weiße. Bildung für die Schwarze Bevölkerung war nicht ausdrücklich illegal, allerdings steckten »nicht identifizierte Personen« Institutionen wie die Ebenezer Church, wo junge, gerade befreite oder geflüchtete Sklavinnen und Sklaven unterrichtet wurden, in Brand. In den 1840ern eröffnete John Berry Meachum seine Freedom School auf einem Dampfschiff, das mitten auf dem Mississippi lag. Er unterrichte dort dutzende Schwarze Schüler, die täglich per Floß zur Schule gebracht wurden. Die Gefahr blieb dennoch: »Späher warnten vor dubiosen oder feindlich gesinnten Weißen,« schreibt Neal Primm in The Lion of the Valley. »Wenn solche Warnungen kamen, verschwanden die Bücher und die Federhalter schnell in Verstecken.«
Während die Forty-Eighters nun einige Positionen in der Lokalregierung von St. Louis einnahmen, legte die radikale Nachkriegsverfassung von 1865 die Förderung der Bildung für Schwarze fest. Im folgenden Jahr wurden drei schwarze Bezirksschulen mit über vierhundert Schülern gegründet, deren Schulgebühren teilweise vom Freedmen’s Bureau übernommen wurden. Ab 1905 gab es in Missouri eine Schulpflicht, und »schwarze Kinder wurden in St. Louis sogar in größerer Zahl eingeschult als Weiße mit ähnlichem wirtschaftlichem Status«.
Das St Louis Movement bildete in den folgenden Jahren Lehrkräfte in Milwaukee, Chicago und Massachusetts aus. Pädagogen betreuten die Eröffnung von Kindergärten in Baltimore, Boston, Chicago und einem Dutzend weiterer Städte. Das Journal of Speculative Philosophy wurde in Europa ebenso gelesen wie in Amerika und beeinflusste später den Philosophen William James und den Pädagogen John Dewey. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1900 waren in der Region St. Louis 200.000 Kinder in öffentlichen Bildungseinrichtungen angemeldet. Damit wurde die Stadt zum Vorzeige-Modell für das ganze Land.
Mit dieser pädagogischen Revolution wurden die öffentlichen Allgemeinbildungsstrukturen zu einer grundlegenden Facette des städtischen Lebens in den Vereinigten Staaten. Das Bildungswesen wurde nahezu direkt von der deutschen Bildungsbewegung geerbt, die in Sachsen bereits im frühen 16. Jahrhundert eingesetzt hatte.
Umstritten war hingegen der Deutschunterricht an den Schulen von St. Louis seit den 1850er Jahren. Im Jahr 1887 wurde er »aus politischen Gründen, die allerdings als wirtschaftliche getarnt waren«, eingestellt. Dies geschah nach dem großen Eisenbahnerstreik, der derart stark von den deutschen Einwanderern geprägt war, dass Flugblätter und Streikaufrufe sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch gedruckt wurden. Der Streik wurde niedergeschlagen und die Kommune von St. Louis aufgelöst. Als die Jahrhundertwende näher rückte, nahm der Einfluss der Forty-Eighters somit allmählich ab.
In The Future Great City of the World (beziehungsweise Saint Louis, die Welt-Stadt der Zukunft), das 1870 auf Englisch und Deutsch erschien, zeichnete Logan U. Reavis ein beliebtes Narrativ nach. Reavis schrieb, die idealen Orte für die menschliche Entwicklung existierten in einem gewissen »Zirkel«: Nachdem die Zivilisation vom Tigris-Euphrat-Tal dem vierzigsten Breitengrad westwärts durch Europa bis nach Nordamerika gefolgt war, würde sie ihre volle Blüte im Mississippi-Tal entfalten. Dort, wo »zwei Wellen der Zivilisation, die eine aus dem Himmlischen Reich [China] und die andere aus dem Land Alfreds und Karls des Großen [Europa], aufeinandertreffen und sich zu einer großen Woge der Menschheit und Menschlichkeit vermischen werden, hier im Land des Hiawatha.«
Reavis‘ Buch zirkulierte auch in Deutschland und weckte während der 1870er und 1880er einmal mehr ein gesteigertes Interesse an der Auswanderung in die USA. Die Forty-Eighters und ihre Nachfolger aus der alten Heimat siedelten vor allem im Mittleren Westen, im Dreieck zwischen St. Louis, Cincinnati und Milwaukee. Rein politisch waren in dieser Bevölkerungsgruppe die Sewer Socialists in Wisconsin erfolgreich.
Milwaukees sozialistischer Bürgermeister Emil Seidel, ebenfalls Sohn deutscher Eltern, gründete das erste Bauamt der Stadt, organisierte die ersten Feuerwehr- und Polizeiausschüsse und schuf das städtische Parksystem. »Wir wollen, dass jeder Mensch die Chance hat, stark zu sein und ein glückliches Leben zu führen,« betonte Seidel. Sicherheitsinspekteure kamen in die Fabriken, der Mindestlohn wurde angehoben. Zwischen 1910 und 1912 verbesserte sich das Leben und die Zukunftsaussichten für die Menschen in Milwaukee und ihre Kinder spürbar.
Dass diese Errungenschaften heute weitgehend vergessen sind, liegt an zwei späteren Entwicklungen. Aufgrund der antideutschen Stimmung während des Ersten und vor allem während des Zweiten Weltkriegs wurden die deutschen Einwandererinnen und Einwanderer trotz ihrer relativ großen Bevölkerungszahl in der amerikanischen Gesellschaft immer weniger sichtbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten dann der McCarthyismus und der Red Scare dafür, dass das Erbe des Sozialismus als eine gemeinschaftsorientierte Ideologie, die amerikanische Städte, Schulen und Sozialsysteme aufgebaut hatte, bewusst ignoriert und heruntergespielt wurde.
Die historische Wahrheit ist an einigen wenigen Orten und in Geschichten aber immer noch sichtbar. Das Denkmal Naked Truth im Compton Hill Reservoir Park in St. Louis würdigt drei deutsch-amerikanische Journalisten, von denen zwei Forty-Eighters waren. Es gibt die Urban Legend, dass alle deutschen Brauer in St. Louis nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs hunderte Statuen und Büsten des Kaisers zerschlugen und in ihre Lagerkeller warfen. Dort würden sie bis zum heutigen Tag liegen: ein großer Haufen Marmor und Bronze. Die Berlin Avenue von St. Louis wurde nach General John J. Pershing umbenannt. In der Innenstadt gibt es immerhin noch ein Denkmal für Friedrich Schiller.
Und am Ende des Union Boulevard, beim Eingang zum Forest Park, findet sich tatsächlich die Statue eines Reiters, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Leonardo DiCaprio hat. Franz Sigel steht dort und soll »künftige Generationen an das Heldentum der deutsch-amerikanischen Patrioten in St. Louis und Umgebung im Bürgerkrieg von 1861-1865 erinnern«. Eine ähnliche Statue findet sich im Riverside Park in New York, wo Sigel nach dem Krieg in der Politik und im Verlagswesen tätig war. Heute gehen viele Menschen tagtäglich an Sigels Denkmal vorbei, ohne zu wissen, dass der Mann auf dem Sockel ein »eiskalter Kommunist« war, wie Walter Johnson es ausdrückte.
Die Vereinigten Staaten haben die Erinnerung an die radikalen deutschen Sozialistinnen und Sozialisten, die für ein Ende der Sklaverei und andere emanzipatorische Ziele ihr Blut und ihr Leben gegeben haben, weitgehend ausgelöscht. Dieses Gedenken sollte wiederbelebt werden. Bildung, Gesundheit, Infrastruktur – diese hart erkämpften Gemeingüter werden seit Jahren vom neoliberalen Kapitalismus zerstört, so wie die Monarchie und die Kirche das Leben der Arbeiterklasse in den deutschen Staaten im 18. Jahrhundert zerstörten. Die Frage ist erneut: Wer wird in Zukunft die Macht an sich reißen?
Devin Thomas O’Shea ist Autor und lebt in St. Louis. Seine Texte erschienen unter anderem in »The Nation«, »Protean«, »Current Affairs« und »Boulevard«.