21. Januar 2022
Zum Todestag Lenins am 21. Januar wurden in der Sowjetunion Reden geschwungen und Denkmäler aufgestellt. Was die Bewohner eines usbekischen Dorfes stattdessen taten, brachte Bertolt Brecht dazu, sie in einem Gedicht zu verewigen.
Lenin ehren - aber welchen eigentlich?
Eine kleine Bahnstation, von der eine einzige Straße abgeht. An der Straße reihen sich Häuser und Jurten. Hinter dem Ort liegt ein alter Kamelfriedhof. Und hinter dem Kamelfriedhof erstreckt sich ein Sumpf. Die gesamte Szene ist von »Mückengesang« erfüllt. Da durchbricht der heisere Schrei einer Lokomotive das Summen und auf dem Bahnsteig versammelt sich das ganze Dorf: Der Bahnhofsvorsteher und seine Frau, der Schuster, einige Rotarmisten und die einheimischen Teppichweber von Kujan-Bulak.
Dies sind die Kulisse und die Besetzung eines Real-Life-Lehrstücks, das sich im Januar 1929 irgendwo im Ferghanatal in Usbekistan abspielte, an einer Zwischenhaltestelle der Zentralasiatischen Eisenbahn. Was sich hier zutrug, war einem nicht namentlich bekannten Autor eine Reportage wert. Und auch im weit entfernten Deutschland traf die Geschichte auf Interesse: Die Feuilletonredaktion der Frankfurter Zeitung, der Vorgängerin der FAZ, ließ den Artikel von der Übersetzerin Mascha Schillskaja ins Deutsche übertragen und veröffentlichte ihn unter dem Titel »Ein Denkmal für Lenin« – neben den Aktienkursen der Frankfurter Börse und einer riesigen Anzeige für Motoröl der Marke Shell.
Dieses Blatt bekam auch Bertolt Brecht in die Finger. Er schnitt den für ihn relevanten Teil aus und schrieb auf dieser Grundlage das Gedicht »Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin«.
Die Story in der Frankfurter Zeitung berichtet aus Kujan-Bulak, einem kleinen Posten, der viele Passagier- und Güterzüge an sich vorbeirauschen sieht, bevor einmal alle zwei Wochen eine Lokomotive hält, um zwei Zisternen Wasser dazulassen. Eine Handvoll Rotarmisten ist hier stationiert, um den Ort und wahrscheinlich auch den Streckenabschnitt vor Überfällen zu schützen. Gegen die Invasion der Stechmücken, die vom nahegelegenen Sumpf ausgeht und den Menschen von Kujan-Bulak die Malaria bringt, sind sie jedoch nicht gewappnet.
Der fünfte Todestag des Revolutionsführers und ersten sowjetischen Regierungschefs Wladimir Iljitsch Lenin steht bevor – ein Gedenktag, an dem überall in der Sowjetunion Reden gehalten und vielerorts Denkmäler eingeweiht werden. Der Rotarmist Stepa Gamaleev fasst den Entschluss, »daß auch das kleine, vergessene Kujan-Bulak sich einen Lenin aus Gips anschaffen müsse«, und der Schuster Wasili Solnze trommelt das gesamte Dorf zusammen. Gamaleev überzeugt die Versammelten und geht dann »zur kaufmännischen Prosa« über, »daß man Geld brauche, um sich einen solchen Lenin anzuschaffen«. Also nehmen die Teppichweber bei der nächsten Gelegenheit den Zug in die Stadt und bemühen sich, gute Preise für ihre Teppiche auszuhandeln, damit sie etwas für Lenin zur Seite legen können.
Doch bevor Gamaleev und Solnze wie verabredet aufbrechen, um einen gipsernen Lenin zu erwerben, berufen sie erneut eine Versammlung ein. Denn der Rotarmist hat eine bessere Idee: Kujan-Bulak sei »ein einziges Fieber«. Um die Mückenplage zu besiegen, müsse man – nicht besonders ökologisch, aber eine gängige Methode in dieser Zeit – den Sumpf mit Petroleum übergießen. »Es wäre besser, für das gemeinsame Geld Petroleum zu kaufen an Stelle der Gipsfigur; denn dann würden die Sarden und die Russen nachts nicht mehr vom Fieber geschüttelt werden. Und es wäre auch ein weit besseres Denkmal für Lenin; denn er hat sich immer um die Sarden und Turkmenen und andere Volksstämme gekümmert.«
Am Todestag Lenins brachte die Eisenbahn nicht wie gewöhnlich zwei, sondern drei Zisternen nach Kujan-Bulak, und während überall in der Sowjetunion »begeisterte Reden gehalten« wurden, »flossen schwarze Petroleumströme« auf den Sumpf hinter dem Kamelfriedhof. Der Artikel endet mit einem Sightseeing-Tipp für Reisende der Zentralasiatischen Eisenbahn, falls sie die Bahnstation Kujan-Bulak einmal passieren sollten: »Der Zug hält da nur fünf Minuten, und Sie werden, wenn Sie Zeit haben, am Bahnhofsgebäude einen roten Fetzen erblicken mit der Inschrift: An dieser Stelle sollte das Denkmal Lenins stehen, aber statt des Denkmals kaufte man Petroleum und goß es über den Sumpf. So hat Kujan-Bulak zum Andenken und im Namen Lenins die Malaria erstickt.«
Für Brecht ist in dieser Geschichte Musik drin. Also bringt er sie in die Verse, die ihr fehlen. Er verdichtet das sich über Wochen hinziehende Geschehen in kompakte Szenen, spitzt die Pointe an und bedient sich seiner künstlerischen Freiheit, um die Teppichweber gegenüber dem Rotarmisten zu ermächtigen.
In seiner Version hat nicht Gamaleev sämtliche Einfälle, während die Teppichweber bloß dessen Vorschläge abnicken. Es ist die Eisenbahn, das Symbol des Fortschritts und der Revolution, die eines Tages die Nachricht bringt, dass »der Tag der Ehrung des Genossen Lenin bevorsteht«. Und die Teppichweber beschließen selbst, ihm ein gipsernes Denkmal zu setzen.
Zwar ist es auch bei Brecht der Rotarmist, der umdenkt, als er sieht, wie die Menschen von Kujan-Bulak »geschüttelt vom Fieber« ihre »mühsam erworbenen Kopeken« zusammenwerfen. Doch anders als die Reportage, die bloß feststellt, dass am Bahnhofsgebäude ein Schriftzug hängt, fordert bei Brecht nach getaner Arbeit einer der Teppichweber, sie sollten eine Tafel anbringen, die an den Vorgang erinnert. »Und sie machten auch das noch / Und setzten die Tafel.«
Brechts Pointe lässt allen Paternalismus fallen und betont stattdessen, wie der Sozialismus die Menschen dazu befähigt, ihre Lebensverhältnisse in die eigenen Hände zu nehmen: »So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten und / Ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn / Also verstanden.«
Zu der Frage, in welcher Weise man Lenin am besten verewigt, hat sich Brecht 1938 im Rahmen der sogenannten Expressionismusdebatte noch einmal geäußert:
»Die Fehler und Irrtümer einiger Futuristen sind offenkundig. Sie setzten auf einen Riesenkubus eine Riesengurke, strichen das Ganze rot an und nannten es: Bildnis Lenins. … Das Bild sollte an nichts erinnern, was man aus den alten, verfluchten Zeiten kannte. Leider erinnerte es auch nicht an Lenin. Das sind schreckliche Vorkommnisse. Aber dadurch bekommen diejenigen Künstler noch nicht recht, deren Bilder zwar jetzt an Lenin erinnern, deren Malweise aber keineswegs an Lenins Kampfweise erinnert.«
In anderen Worten: Naturalistische Darstellungen sind nicht angemessen, denn sie sind künstlerisch gesehen frei von jedem revolutionären Geist. Doch avantgardistische Darstellungen sind ebenso unzulänglich, denn sie lassen schlimmstenfalls überhaupt nichts mehr erkennen. Was die Teppichweber von Kujan-Bulak taten, erfüllt hingegen beide Kriterien: Lenin ist erkennbar – dafür sorgt die angebrachte Tafel. Und wie Brechts Pointe klarstellt, ist das Werk ganz in Lenins Sinne ausgeführt.
Der Fall von Kujan-Bulak bildet eine Ausnahme. In den Jahren nach Lenins Tod florierte kurzzeitig eine Art »wilder« Denkmalkultur. Doch zum Ende der 1920er Jahre beauftragte die Partei- und Staatsführung eine Reihe angesehener Bildhauer, beispielhafte Vorlagen im Stil des sozialistischen Realismus zu entwerfen, die zur allgemeinen Nachahmung empfohlen wurden. Über die Jahrzehnte wurden in der Sowjetunion Zehntausende Lenin-Denkmäler aufgestellt, von denen die meisten den zweiten von Brecht beschriebenen Fehler begehen: Die typischen Stein- oder Bronzeskulpturen erinnern an Lenins Aussehen, aber nicht an seine Art, Politik zu machen. Entsprechend wurde er in der Sowjetunion weitestgehend als »großer Mann« und Landesvater verehrt.
Ein politisches Pendant zum roten Riesenkubus-Riesengurken-Lenin, der sich nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten überhaupt erschließt, bildet das Beharren auf einem Umsturz vom Typ der Oktoberrevolution als dem einzigen Weg zu bedeutungsvoller sozialer Veränderung, auch wenn die Bedingungen dafür überhaupt nicht gegeben sind. Lenin habe eine Revolution zu seinen Lebzeiten auch nicht für möglich gehalten, er habe Marx und Engels gelesen und dann sei die Revolution doch gekommen – warum sollte es uns nicht ebenso ergehen?
Ganz im Gegensatz dazu war Lenins politischer Kompass stets auf den jeweiligen »Angelpunkt« eines historischen Moments ausgerichtet, also auf jenes Problem, nach dessen Lösung die Menschen am dringendsten verlangten. Daran, ob die Partei dieses Problem zu bewältigen verstünde oder nicht, würde sich nämlich die Unterstützung der Bevölkerung für den Sozialismus entscheiden. Im Jahr 1917 war das der Austritt aus dem Krieg. Und 1921, als Lenin seine Neue Ökonomische Politik beschloss, war die Beendigung der Hungersnot die oberste Priorität. Damals mahnte Lenin seine Partei an, von revolutionären Parolen zur kaufmännischen Prosa überzugehen: Noch der beste Kommunist müsse nun »von einem simplen Handlungsgehilfen lernen, der zehn Jahre in einer Mehlhandlung herumgelaufen ist, der das Geschäft versteht«.
Die Partei müsse zeigen, »daß die Kommunisten dem verarmten, verelendeten, qualvoll hungernden Kleinbauern, der sich jetzt in einer schweren Lage befindet, sofort praktisch helfen. Entweder werden wir das beweisen, oder er wird uns zum Teufel jagen«. Der Sozialismus könne nur dann fortschreiten, wenn die Menschen sehen, dass er ihnen einen »real spürbaren Nutzen bringt«.
Es ist dieser Lenin, den der Rotarmist Stepa Gamaleev und die Teppichweber von Kujan-Bulak in Brechts Augen verstanden hatten. Den Leitsatz, dass nicht schöne Worte, sondern spürbare Verbesserungen ausschlaggebend sind, sollten alle Sozialistinnen und Sozialisten in Ehren halten, wie ihre Ansichten zur Person Lenin auch immer sein mögen.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.