14. Februar 2023
Die schlechte wirtschaftliche Entwicklung des Globalen Südens wird häufig auf Korruption und fehlende Ressourcen geschoben. Doch die wirkliche Ursache für die fehlende Entwicklung ist systemischer Natur.
Arbeiter an einem Damm einer Goldmine in Sikasso, Mali. 13. Dezember 2017.
IMAGO / Le PictoriumWir schreiben das Jahr 2022: Rapide steigende Energiepreise und höhere Zinsen sorgen für massive Verunsicherung in unserer Wirtschaft. Ein Terms–of–Trade–Schock – also eine Verschlechterung des Verhältnisses der Import- zu den Exportpreisen – hat zur Folge, dass Deutschland als Energieimporteur plötzlich viel mehr Geld für seine Energieimporte ausgeben muss, wodurch die Nachfrage in anderen Sektoren einbricht.
Wenn der Nachfrageausfall nicht durch das nun reichere Ausland kompensiert wird, hätte das eine sinkende Produktion und steigende Arbeitslosigkeit zur Folge. Doch die reichen Länder waren in der Lage, mit riesigen Entlastungspaketen dagegenzuhalten.
Nun stelle man sich vor, solch unsichere und schwankende wirtschaftliche Rahmenbedingungen wären nicht die Ausnahme, sondern die Regel und man wäre als Land darüber hinaus nicht in der Lage, mal eben mehrere hundert Milliarden aus dem Ärmel zu schütteln, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Genauso sieht der wirtschaftspolitische Alltag vieler Entwicklungs- und Schwellenländer seit dem Triumphzug des Neoliberalismus in den 1980ern aus.
Aufgrund der Turbulenzen an den Finanzmärkten artikulierten die Mitgliedstaaten der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) den Wunsch, Indikatoren zu erarbeiten, mit denen sich die Instabilität auf den Märkten wenigstens verfolgen ließe, um gegebenenfalls präventive Maßnahmen ergreifen zu können. Daraufhin entwickelte ein Forschungsteam der UNCTAD eine neue Generation sogenannter Financial Condition Indicators (FCIs), die sich aus einer Vielzahl verschiedener Variablen, wie etwa Zinssätzen, Wechselkursen, Inflation, Devisenbeständen und Volatilitätsniveaus zusammensetzen – und die uns ein Bild darüber geben, wie es um die Stabilität der Finanzmärkte bestellt ist. Ein Anliegen der Mitgliedstaaten war es, einen solchen Indikator vor allem für die ärmsten Länder der Welt, die sogenannten »Least Developed Countries« (LDCs), zu entwickeln, um eine Art Monitoring zu ermöglichen und Finanzkrisen über regulatorische Maßnahmen vorzubeugen.
Das Problem: Für LDCs gibt es oft nur sehr spärliche und lückenhafte Daten, sodass die Entwicklung solcher Indikatoren nicht leicht ist. Aus diesem Grund wurden die Entwicklungs- und Schwellenländer für die Analyse eingruppiert.
Diese Analyse kam zu folgendem Ergebnis: Die Finanzmarktbedingungen in den letzten Jahrzehnten gleichen überall im Globalen Süden einer Achterbahnfahrt. Will man allerdings eine Volkswirtschaft entwickeln, so sind Kreditaufnahmen und Investitionen die Grundvoraussetzung dafür, dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität und damit der materielle Lebensstandard steigen kann.
Auf instabilen Kapitalmärkten, wo private und öffentliche Investoren weder Kosten noch Renditen halbwegs zuverlässig abschätzen können, eine liquide Versorgung mit frischem Geld nicht gesichert oder schlicht zu teuer ist, wird nicht investiert werden. Mit Blick auf die Finanzmarktindikatoren lässt sich also festhalten, dass diese Grundvoraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung nicht gegeben sind.
Hoch- und Tiefphasen wechselten sich in den letzten knapp zwanzig Jahren regelmäßig ab, nur Stabilität gab es keine. Die Ausschläge lassen sich in den meisten Fällen gut zuordnen, denn es waren gewaltige Schocks wie die globale Finanzkrise, der Einbruch der Rohstoffpreise, die Aufwertungsphasen des US-Dollars, der Corona-Schock oder der Krieg in der Ukraine, die die Finanzmärkte im Globalen Süden ins Chaos stürzten.
Die Euphorie, die auf diese Panik zumeist folgte, war ebenfalls alles andere als förderlich für die wirtschaftliche Entwicklung. So waren zum Beispiel die Phasen vor und nach der Finanzkrise sowie die Zeit nach dem Einbruch der Rohstoffpreise Mitte der 2010er Jahre in erheblichem Maß von Währungsspekulationen gekennzeichnet, die kurzfristig zwar etwas Druck vom Kessel nahmen, aber auf längere Sicht mit einer Aufwertung der Währung einhergingen, die die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Länder erodierte und zumeist in hohen Leistungsbilanzdefiziten resultierte.
Das wiederum führte zu immer wiederkehrenden Zahlungsbilanzkrisen – wenn also die in Fremdwährung zu bedienenden Schulden nicht beglichen werden können. Solche Zahlungsbilanzkrisen rufen den Internationalen Währungsfonds auf den Plan, der dann seinerseits mit Sparprogrammen wie in Griechenland der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen will. Wie gut das funktioniert, haben wir in Europa anhand der verheerenden Folgen der Austerität gesehen.
Obwohl die Bedingungen auf den Kapitalmärkten im gesamten Globalen Süden höchst volatil sind, so sind die Entwicklungs- und Schwellenländer nicht alle gleichermaßen betroffen. Um die unterschiedlichen Anfälligkeiten zu analysieren, hat das Forschungsteam der UNCTAD die verschiedenen Länder je nach strukturellen Ähnlichkeiten und Verwundbarkeiten gruppiert und die FCIs für die jeweiligen Ländergruppen berechnet. Die Zuteilung erfolgte auf Basis der Datenlage. Das Ergebnis zeigt, dass die Gruppierungen nicht auf Regionen beschränkt sind, sondern dass vielmehr eine geographische Heterogenität zu beobachten ist.
Die Besonderheiten einzelner Gruppen beruhen auf Faktoren, die die Länder unterschiedlich stark beeinflussen. Bei den »Klassikern«, in die etwa 40 Prozent der untersuchten Länder fallen (unter anderem Brasilien, Mexiko, Ghana, China, Zambia) und die in gewisser Weise den »Lehrbuchfall« der Probleme des Globalen Südens abbilden, wurde eine hohe Abhängigkeit der Kapitalmarktstabilität von Rohstoffpreisen und den Finanzierungsbedingungen auf den globalen Kapitalmärkten (Wechselkurse, Spreads zum US-Dollar et cetera) beobachtet.
Die zweite Gruppe, die »Terms-of-Trade-Anfälligen«, in der etwa 30 Prozent der Länder wiederzufinden sind, umfasst die ärmsten Länder der Welt (etwa Mali, Niger, Lesotho, Burkina Faso). Die Subsistenzwirtschaft spielt hier eine ebenso große Rolle wie die Abhängigkeit vom Export einzelner Rohstoffe. Eine Aufwertung des US-Dollars und ein Verfall der Rohstoffpreise – was bis 2021/2022 eine oft zu beobachtende Korrelation darstellte – verbesserte in dieser Gruppe die Terms of Trade, da der positive Effekt günstigerer Importe die negativen Effekte der Aufwertung überwog. Grundsätzlich jedoch entkamen diese Länder kaum der bitteren Armut, da ihnen durch den IWF und die Weltbank industriepolitisch die Hände gebunden und die Zinsniveaus tendenziell viel zu hoch sind, als dass investiert werden würde.
Die anderen drei Gruppen sind Varianten der beiden Hauptgruppen. Die dritte Gruppe (etwa Libanon, Zimbabwe, Haiti und Tunesien) zeichnet sich durch eine höhere öffentliche Verschuldung aus, die vierte Gruppe (zum Beispiel Kenia und Uganda) durch eine höhere Abhängigkeit vom Preis von Edelmetallen, insbesondere Gold, und die fünfte Gruppe (unter anderem Argentinien und die Türkei) durch eine exzessive Privatverschuldung in Fremdwährungen mit geringen Devisenbeständen. Die FCIs dieser fünf Gruppen verlaufen in gewisser Weise synchron zu den aggregierten Werten, doch die Höhe der Ausschläge zeigen die jeweiligen Besonderheiten.
Die unterschiedlichen Ausprägungen der strukturellen Verwundbarkeiten erfordern zum Teil spezifische wirtschaftspolitische Lösungen. Die »Klassiker« müssten beispielsweise in gewisser Form (wo politisch durchsetzbar) auf Kapitalverkehrskontrollen setzen, einen besseren und günstigen Zugang zu internationalen Devisenreserven erhalten, und über einen Aufbau von Rohstoffvorräten einen Puffer gegen rapide Preisabfälle einrichten. Bei der Gruppe der Terms -of-Trade-Anfälligen als auch der ihr verwandten Gruppe müsste hingegen der Schwerpunkt auf einer Erhöhung des industrie- und finanzpolitischen Spielraums liegen, um eine Investitionsdynamik in Gang zu setzen und die Wirtschaft zu diversifizieren. Die Gruppen, bei denen die Verschuldung in Fremdwährung der ausschlaggebende Faktor ist, brauchen in erster Linie einen sicheren Zugang zu Devisen, um privaten oder öffentlichen Verschuldungskrisen angemessen entgegentreten zu können und sich gegen Spekulanten zur Wehr zu setzen. Doch all diese Maßnahmen müssen in einen grundsätzlich neuen Ansatz internationaler Entwicklungspolitik eingebettet werden.
Eine nüchterne Analyse der Probleme des Globalen Südens zeigt, dass in den meisten Ländern nicht die grundsätzlichen Bedingungen vorherrschen, die Entwicklung möglich machen würden. Abseits der spezifischen wirtschaftspolitischen Lösungsansätze für die unterschiedlichen Arten der strukturellen Anfälligkeiten werden wir nicht umhinkommen, die wirtschaftliche Ordnung grundsätzlich zu überdenken, wenn wir es mit einem »Diskurs auf Augenhöhe« mit dem Globalen Süden ernst meinen.
Wirtschaftliche Entwicklung braucht Investitionen. Damit ein Land aus sich selbst heraus einen Kapitalstock aufbauen kann und nicht als Bittsteller für Gelder aus etwa dem Norden warten muss, sind stabile Kapitalmärkte die Grundvoraussetzung. Weder die öffentliche noch die private Hand wird allerdings investieren, wenn die Kapitalmärkte extrem volatil sind. Es ist also kaum verwunderlich, dass nur Länder, die den Exzessen der Kapitalmärkte durch staatliche Eingriffe Einhalt gebieten und den Innen- als auch den Außenwert der Währung halten konnten (allen voran China), wirtschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt haben.
Eine nüchterne Betrachtung offenbart auch, woran der Diskurs um Entwicklungspolitik im Globalen Norden krankt. Neben den üblichen Argumenten um »Korruption« und »mehr Geld« ist derzeit die Ansicht populär, dass sich durch den Bedarf an erneuerbaren Energien im Globalen Norden »neue Chancen« für den Globalen Süden ergeben würden. Für einige Länder mag das auch durchaus zutreffen. Allerdings erliegt ein solcher Diskurs oft der Wunschvorstellung, man werde mit westlichen Unternehmen und westlicher Technologie vor Ort die Erneuerbaren produzieren und von Deutschland aus weiter Hightech-Produkte in die Welt exportieren. Strukturell soll sich folglich nichts ändern: Diversifizierung und wirtschaftliche Souveränität im Globalen Süden? Fehlanzeige!
Aus der Abhängigkeit von fossilen wird eine Abhängigkeit von grünen Energieträgern, während wir weiterhin unser Exportmodell befeuern. Wirtschaftliche Macht und Kontrolle bleiben dadurch im Globalen Norden, denn dass Entwicklungs- und Schwellenländer eines Tages auf eigenen Beinen stehen und international ihre Interessen mit Gewicht vertreten könnten, damit kann sich der Globale Norden nicht anfreunden.
In die spekulativen, kasinoartigen Zuständen auf den globalen Devisenmärkten würde ebenfalls nicht eingegriffen werden – diese Spekulanten finanzieren schließlich die Parteien in Ländern wie den USA und Großbritannien. Die dortige Politik hat also kaum einen Anreiz, ihrer Klientel das Geschäft kaputt zu machen. Kurz: Der gegenwärtige Diskurs lässt sich als Neokolonialismus mit grünem Anstrich beschreiben, bei dem sich die reale Lebens- und Wirtschaftslage der Länder des Globalen Südens nicht wirklich ändern würde.
Damit der Globale Süden langfristig auf eigenen Beinen steht, müssen wir weg von der Denke, dass wir über Hilfszahlungen oder die Schaffung neuer Abhängigkeiten im Globalen Süden zu einer nachhaltigen Entwicklung gelangen werden. Das wird auf kurze Sicht zwar nicht ohne einen signifikanten Schuldenschnitt und einen stabileren Zugang zu Devisen für den Globalen Süden möglich sein. Doch mittel- bis langfristig muss es vor allem darum gehen, dass wir sämtliche politische Hebel nutzen, um ein globales Währungs- und Finanzsystem zu schaffen, das für stabile Zinsen und (reale) Wechselkurse sorgt, damit die Länder des Globalen Südens aus eigener Kraft heraus einen Kapitalstock aufbauen und sich entwickeln können.
Nur, wenn die systemischen Voraussetzungen zu wirtschaftlicher Entwicklung gegeben sind, kann man von Eigenständigkeit und damit auch Eigenverantwortung der Länder des Globalen Südens sprechen. Solange das nicht der Fall ist, braucht es politischen Druck, um auf die Schaffung solcher Bedingungen hinzuarbeiten. Alles andere ist bestenfalls eine kurzfristige Korrektur eines kaputten Modells, das dieselben Probleme und sozio-ökonomischen Verwerfungen mit sich bringen wird, die wir in den letzten zwanzig Jahren beobachten konnten.
Anzeichen, dass es in die richtige Richtung gehen könnte, gibt es gegenwärtig allerdings keine. Auch die neue Afrikastrategie des Entwicklungsministeriums ist enttäuschend, da sie zwar manche ehrenwerte Absichtserklärungen enthält, aber das Hauptproblem der wirtschaftlichen Misere in Afrika – prohibitiv hohe Zinsen und nicht vorhandener industriepolitischer Spielraum – nicht einmal erwähnt. Solange das grundlegendste aller Probleme weiterhin ein blinder Fleck bleibt, wird man auch in Afrika keinen Schritt voran kommen – trotz all der schönen Pläne, die man nach außen hin präsentiert.
Patrick Kaczmarczyk ist Ökonom an der Universität Mannheim, wirtschaftspolitischer Berater bei der UNCTAD und Autor des Buches Raus aus dem Ego-Kapitalismus (Westend, 2023).