13. Juli 2022
Der Kommunismus ist älter als Marx, Engels und Lenin. Für eine Gesellschaft ohne Privateigentum und das »alberne Recht der Erbfolge« agitierte ein Wiener schon im 18. Jahrhundert.
Porträt von Franz Hebenstreit, anonymer Stich, aus Besitz Dr. Ignaz Schwarz.
Mit einem Wort, der Antrieb des Menschen würde ihm raten, zu enteignen die Mächtigen, eher als ihre Peitschen zu küssen; und deshalb lähmt ihr den Antrieb, (ihr Reichen, die ihr gräßlicher als Krokodile seid, ihr Adligen, Höflinge und dräuenden Könige!) durch ein Dogma lähmt ihr den Antrieb, aber nicht euern eigenen, dem die Tür zum Verbrechen weit offensteht, sondern den Antrieb dessen, der euch ernährt, damit euch die gerechte Rache nicht trifft, damit eure Laster nicht offen daliegen. So ist es! Ihr Betrüger!«
— Hebenstreit, 1792
Wirft man einen Blick in Überblickswerke zur Ideengeschichte des Kommunismus, dann könnte man glauben, dieser hätte in Deutschland spontan mit Marx seinen Anfang genommen – höchstens Wilhelm Weitling wird noch als Vorläufer genannt. Anders sieht die Sache aus, wenn man sich Frankreich zuwendet. Denn hier finden sich nicht nur die Frühsozialisten des 19. Jahrhunderts, wie Henri de Saint-Simon, Charles Fourier und Pierre-Joseph Proudhon. Schon ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich eine zumindest sozial-egalitäre Genealogie konstruieren, die über Jean-Jacques Rousseau, Gabriel Bonnot de Mably und Étienne-Gabriel Morrely zu den Forderungen der Sansculotten und Enragés der Revolutionszeit führt und mit Gracchus Babeuf schließlich auch einen veritablen Frühkommunisten erkennen lässt.
Dagegen scheint die deutsche Aufklärung einmal mehr dem Klischee der reinen Gelehrtenaufklärung zu entsprechen, die kaum über die Aufforderung hinauskommt, die Fürsten mögen sich in ihrem Despotismus doch wenigstens als aufgeklärt erweisen: Forderungen nach rechtlicher Gleichheit? Ja, aber immer wohl abgemessen und im Einklang mit dem Bestehenden. Forderungen nach politischer Gleichheit? Mangelware. Forderungen nach wirtschaftlicher Gleichheit? Nahezu undenkbar.
Die theoretischen Grundlagen für die Forderung nach einer Gesellschaft der Freien und Gleichen lassen sich in der deutschsprachigen aufklärerischen Tradition also nur selten finden – und wenn, dann in intellektuellen Randzonen.
Ein Beispiel dafür ist das Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Hauptstadt des habsburgischen Imperiums galt den norddeutschen Literaten und Philosophen damals als katholisch-rückständig. Dennoch wurden dort in Auseinandersetzung mit der Aufklärung und später der Französischen Revolution dermaßen radikale Ideen ausgeheckt, dass Wien als Entstehungsort des Kommunismus bezeichnet werden kann.
Auch an der Donau fanden Männer und Frauen zusammen, die eine gesellschaftliche Umgestaltung nach Pariser Vorbild anstrebten. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter war der militärisch ausgebildete Mathematiker Andreas von Riedel, der einst der Lehrer von Kaiser Franz II. gewesen war und auch viele weitere Adelige aus eigener Anschauung kannte. Diese direkten Einblicke in die habsburgische Herrscherkaste dürften Grund genug für seine zutiefst antiaristokratische Einstellung gewesen sein.
Die Gruppe um Riedel beließ es nicht dabei, am Wirtshaustisch über den Aufstand zu fantasieren und Mini-Guillotinen aus Spielkarten zu fertigen. Im Jahr 1792 verbreitete sie einen Aufruf an alle Deutsche zu einem antiaristokratischen Gleichheitsbund und legte als Gebetszettel getarnte revolutionäre Schriften im Wiener Stephansdom aus – vielleicht weniger, um tatsächlich eine Revolution zu provozieren, sondern mehr, um mittels deren Androhung die habsburgische Staatsspitze dazu zu bewegen, den unpopulären Krieg gegen Frankreich zu beenden.
Bei einer Hausdurchsuchung in Wien konfiszierte Guillotinen aus Spielkarten aus dem Besitz eines als »Jakobiner« Verdächtigten. Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, Haus- Hof- und Staatsarchiv, Vertrauliche Akten, Kt.32, f.660, Foto: Anton Tantner
Darüber hinaus wurden zwei Abgesandte nach Paris geschickt, um der dortigen Armeeführung ihre Pläne einer Kriegsmaschine – eine Art Streitwagen – vorzulegen. Entworfen hatte sie ein Platzoberleutnant namens Franz von Hebenstreit, der neben seinen militärischen Fähigkeiten auch politische Weitsicht und Imaginationskraft besaß; in der für Paris bestimmten Sendung befand sich nämlich auch intellektuelles Rüstzeug: ein von Hebenstreit auf Latein verfasstes Gedicht mit dem Titel Homo hominibus – Mensch unter Menschen, das er vermutlich 1792 verfasst hatte. Darin begründete der Militärschriftsteller die Notwendigkeit einer Welt, deren »unermeßliche Schätze« in »gemeinsamen Speichern« zu sammeln seien und in der alle »das Gleiche erhalten« sollten. Er schrieb von einer Gesellschaft ohne Privateigentum und ohne das » alberne Recht der Erbfolge«.
Die Bestrebungen der Wiener Demokraten scheiterten, ein eingeschleuster Polizeispitzel hatte sie verraten. Im Juni 1794 wurden die »Jakobiner« verhaftet und wochenlang verhört. Gemäß dem Verhörprotokoll, das mitsamt allen weiteren Schriften bis zum Ende der Monarchie unter Verschluss bleiben sollte, zeigte sich Andreas Riedel von Hebenstreits egalitären Ansichten besonders beeindruckt: Riedel bezeichnete dessen Gedankenwelt als »Hebenstreitismus oder Kommunismus«.
Es handelte sich dabei um eine weltgeschichtliche Premiere, die uns dank des peniblen habsburgischen Repressionsapparats erhalten blieb: Erstmals wurde das Wort »Kommunismus« niedergeschrieben, erst drei Jahre später sollte der Literat Restif de la Bretonne den »Communisme« als die beste von acht verschiedenen Regierungsformen bezeichnen. Davor waren allenfalls französische und italienische Verteidiger der gemeinschaftlich genutzten Weideflächen als »communistes« oder »comunisti« bezeichnet worden; im 16. und 17. Jahrhundert galten die in Mähren, Polen und in der heutigen Slowakei ansässigen »Hutterischen Brüder« – eine täuferische Bewegung – ob ihrer praktizierten Gütergemeinschaft als »communistae« oder »Gemainschaftler«.
Der »Kommunismus« ist streng genommen also eine österreichische Erfindung. Ihr Urheber, Franz von Hebenstreit, wurde am 8. Jänner 1795 hingerichtet; als Vordenker einer egalitären Demokratie wurde er erst im 20. Jahrhundert gewürdigt und 2010 in einer vom Wiener Historiker Christian Ehalt angeregten Neuauflage des Prozesses symbolisch rehabilitiert.
Zur Feier des heutigen Jahrestags des Sturms auf die Bastille und zur Vorbereitung eines künftigen Kommunismus sei die Lektüre von Hebenstreits »Homo hominibus« auf jeden Fall wärmstens empfohlen.
Sibylle Röth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Konstanz. Ihre Dissertation über Konzepte von Gleichheit und Ungleichheit in der deutschen Spätaufklärung ist Anfang 2022 erschienen. Derzeit forscht sie zur europäischen Frühen Neuzeit als Experimentierfeld des Umgangs mit konfessioneller Pluralität und ist in der Mittelbau-Initative Konstanz aktiv.
Anton Tantner ist habilitierter Historiker und seit 2019 entfristeter Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Wenn er nicht bei der IG LektorInnen oder links-wien.at aktiv ist, beschäftigt er sich mit der Geschichte der Hausnummerierung sowie der Wanderdünen und schreibt für die Wiener Straßenzeitung Augustin.
Anton Tantner ist habilitierter Historiker und seit einem Jahr entfristeter Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Wenn er nicht bei der IG LektorInnen oder links-wien.at aktiv ist, beschäftigt er sich mit der Geschichte der Hausnummerierung sowie der Wanderdünen und schreibt für die Wiener Straßenzeitung »Augustin«.