24. Dezember 2022
Schon vor der Entstehung des Kapitalismus ersehnten Menschen eine Welt frei von Unterdrückung und Ausbeutung. Warum ihnen das Christentum dazu als Inspiration galt, erklärt uns Karl Kautsky.
Lucas Cranach, »Gesetz und Gnade«.
Heute Karl Kautsky zu lesen, ist ein merkwürdiges Unterfangen. Zunächst einmal stellt sich die brennende Frage: »Wer liest eigentlich Kautsky?«
Von den Bolschewiki und ihren Nachfolgern wurde er verunglimpft. Den Marxismus, zu dessen Popularisierung seine Schriften so sehr beigetragen hatten, hatte er in ihren Augen verraten. Doch um sich in die nach rechts gerückten Sozialdemokratie der Weimarer Republik einzugliedern, war er dennoch zu marxistisch. Infolge wurde der »Papst des Marxismus« (zusammen mit Georgi Plechanow, Bruno Bauer und anderen) auf den Stapel der Autoren verbannt, über die man etwas gelesen haben sollte, die man aber nicht zwangsläufig auch tatsächlich lesen musste.
Wer es dennoch tut, wird feststellen: Vieles, was Kautsky geschrieben hat, ist ziemlich gut. Sicher, sein Werk ist durchsetzt mit überspitzten Vereinfachungen und teleologischen Projektionen, die ein Jahrhundert später kaum noch Gültigkeit haben. Aber seinen Marxismus allein auf diese Mängel zu reduzieren, würde bedeuten, einen der wichtigsten Sozialisten des zwanzigsten Jahrhunderts zu ignorieren.
Kautskys wichtigster Beitrag – nämlich die Systematisierung der klassischen marxistischen Theorie in einer Reihe leicht verständlicher, verdaulicher und massentauglicher Werke – brachte sozialistische Theorie und Politik in die Herzen und Köpfe von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern. Er galt nicht etwa aufgrund unanfechtbarer Autorität oder Hinterzimmer-Intrigen in den oberen Rängen der Sozialdemokratie als »Papst«, sondern weil er in einer Zeit, in der der Geist der Revolution die deutschen Arbeiterklassen wie nie zuvor (und nie danach) erfasste, zur wichtigsten Referenz marxistischer Theorie wurde.
Er stand an der Spitze einer erstarkenden Arbeiterbewegung, der das Versprechen einer unausweichlichen sozialistischen Transformation plausibel und greifbar schien. Er schrieb für ein Publikum von Millionen enthusiastischen und aufmerksamen Kämpferinnen und Kämpfern und fühlte sich zweifellos dafür verantwortlich, seine Autorität zu nutzen, um den Geist des Klassenbewusstseins unter seiner Leserschaft zu verbreiten.
Dieser Geist zieht sich durch den 1895 erschienenen Text Die Vorläufer des neuen Sozialismus, in dem Kautsky den revolutionären egalitären Impulsen der subalternen Klassen nachspürt. Das Buch ist Kautskys Versuch, die menschliche Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen zu rekonstruieren, um seinen Leserinnen und Lesern ein Gefühl für historische Tradition, revolutionäre Kontinuität und moralische Verpflichtung gegenüber der sozialistischen Zukunft zu vermitteln.
Für Kautsky entwickelt sich der Kommunismus historisch betrachtet in zwei Sphären: Einerseits der Kommunismus als intellektuelle, ideologische Aufgabe, eine Gesellschaft frei von Armut und Ausbeutung zu entwerfen, und andererseits der Kommunismus als realen Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten für ein besseres Leben. Obwohl eine Zusammenführung dieser Sphären nur unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus möglich ist – für Kautsky verwirklicht in der Form des Industrieproletariats mit sozialdemokratischer Führung –, bedeutet das nicht, dass die Menschen nicht auch schon vorher für eine bessere Welt gekämpft hätten.
Der dritte Abschnitt des Buches Der Kommunismus im Mittelalter und im Zeitalter der Reformation beschreibt, wie die Welt der Ideen die kommunistischen Diskurse selbst unter prekären und rückständigen materiellen Bedingungen vorantrieb. Kautsky zeigt, wie die Unterdrückten des Mittelalters aus den christlichen Lehren, insbesondere den Evangelien, eine moralische Kritik an der Ungleichheit und Ungerechtigkeit entwickelten, die ihnen widerfuhr.
Er beschreibt eine von der Kirche beherrschte und von katholischen Dogmen durchdrungene Welt, in der jedoch die für die Verbreitung dieser Dogmen verantwortlichen Personen (die Kirche und die herrschenden Klassen) längst aufgehört hatten, selbst an sie zu glauben. Die religiöse Doktrin wurde den Massen eingetrichtert, um zu verhindern, dass andere, potenziell gefährliche Ideen diesen Raum füllen. Das Christentum diente als ideologische Vernebelung, um die Funktionsweise der feudalen Enteignung zu mystifizieren, es war aber keine materielle Kraft als solche.
Entgegen des katholischen Dogmas leitete sie eine relative Demokratisierung der Bibelauslegung und der theologischen Diskussion ein. Diese Demokratisierung ermöglichte zunächst die Bildung breiter Bündnisse gegen die päpstliche Autorität, indem sie Teile des Bürgertums mit der entrechteten bäuerlichen Bevölkerung vereinte.
Kautsky zufolge waren diese Interpretationen jedoch auch offen für viel radikalere Schlussfolgerungen – etwa einen »demokratischen Kommunismus«. Das machte sie nicht nur für die Kirche, sondern auch für die herrschende Klasse insgesamt gefährlich und veranlasste wiederum die bürgerlichen Anführer der Reformation dazu, die Dinge so schnell wie möglich wieder unter Kontrolle zu bringen.
Kautsky zeigt auf, dass Menschen, wo und wann immer sie unterdrückt werden, eine Sprache finden, um ihre Gefühle der Unterdrückung zu artikulieren. Diese Sprachen sind oft nicht ohne Makel und von den historischen Umständen, unter denen sie entstehen, geprägt. Aber sie dienen immer diesem einen Zweck.
Im Laufe der Geschichte sind Unterdrückung und Ausbeutung nie unwidersprochen geblieben, und das ist noch immer so. Damals wie heute besteht die Aufgabe darin, die bereits vorhandenen Sprachen und Praktiken der Ausgebeuteten aufzugreifen und sie durch die Perspektive eines demokratischen Kommunismus für das 21. Jahrhundert zu erfassen.
Kautsky hat uns vielleicht nicht viel darüber zu sagen, wie dieses Ziel in unserer heutigen Zeit aussehen würde. Aber sein umfassender Überblick darüber, wie frühere Generationen von »politischen und rebellischen« Kommunisten eine bessere Welt anstrebten, kann der nächsten Generation als Inspiration dienen. Im Folgenden findet Ihr einen Auszug aus dem Vorläufer des Sozialismus.
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Die Einwirkung der Ueberlieferung der Ideen, welche in früheren Gesellschaftszuständen entstanden sind, auf spätere Zustände, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor in der gesellschaftlichen Entwickelung. Oft wirkt sie störend und hemmend, indem sie den Menschen das Erkennen der neuen gesellschaftlichen Tendenzen und ihrer Bedürfnisse erschwert. Im Ausgange des Mittelalters bewirkte sie vielfach das Gegentheil.
Nach den Stürmen der Völkerwanderung und nach der Barbarei, die ihr folgte, begannen seit den Kreuzzügen die Völker der abendländischen Christenheit wieder eine Kulturstufe zu erklimmen, die trotz ihrer Eigenartigkeit in Vielem der Höhe der attischen und römischen Gesellschaft kurz vor ihrem Verfall und beim Beginn desselben entsprach. Die Literatur, der Gedankenschatz, den diese Gesellschaft hinterlassen, entsprach den Bedürfnissen der aufstrebenden Klassen des ausgehenden Mittelalters aufs Beste. Die Wiedererweckung der antiken Literatur und Wissenschaft förderte das Selbstbewußtsein und die Selbsterkenntniß der aufstrebenden Klassen ungemein und wurde dadurch eine gewaltige Triebfeder der gesellschaftlichen Entwickelung. Die Tradition, die sonst konservativ wirkt, ward unter diesen Umständen ein revolutionärer Faktor.
Jede Klasse nahm sich aus den überlieferten Gedankenschätzen natürlich das, was ihr am besten zusagte, was ihr am meisten entsprach. Das Bürgerthum und die Fürsten nahmen das römische Recht in ihren Dienst, welches den Bedürfnissen der einfachen Waarenproduktion, des Handels und der absoluten monarchischen Staatsgewalt so trefflich angepaßt war. Sie erfreuten sich an der heidnischen Literatur der Antike, einer Literatur der Lebenslust, mitunter sogar der Ueppigkeit.
Dein Proletariat und den mit ihm Sympathisirenden konnte weder das römische Recht noch die klassische Literatur behagen. Was sie suchten, fanden sie in einem anderen Erzeugniß der römischen Gesellschaft, im Evangelium. Der Kommunismus des Urchristenthums entsprach völlig ihren Bedürfnissen. Noch waren die Grundlagen einer höheren kommunistischen Produktion nicht gegeben, noch konnte der Kommunismus nichts Anderes sein, als eine Art Ausgleichungskommunismus, als ein Theilen, ein Zutheilen des Ueberflusses der Reichen an die Armen, die des Nothwendigen entbehrten.
Die kommunistischen Lehren der Evangelien und der Apostelgeschichte haben die kommunistischen Tendenzen des Mittelalters nicht geschaffen; aber sie haben ihre Entstehung und Verbreitung ebenso begünstigt, wie das römische Recht die Entwickelung des Absolutismus und der Bourgeoisie begünstigt hat.
Die Grundlage der kommunistischen Tendenzen blieb also eine christliche, eine religiöse; trotzdem kamen sie unfehlbar in Konflikt mit der herrschenden Kirche, der Reichste unter den Reichen, die schon längst die Forderung des allgemeinen Kommunismus für eine teuflische Irrlehre erklärt zu den kommunistischen Inhalt der urchristlichen Schriften durch allerlei Sophistereien zu verdrehen und zu verdunkeln gesucht hatte.
Führte indeß das Bestreben, die Gesellschaft kommunistisch zu organisiren, nothwendigerweise zur Ketzerei, zum Konflikt mit der päpstlichen Kirche, so förderte andererseits die Ketzerei, das heißt der Kampf gegen diese Kirche, das Aufkommen kommunistischer Ideen.
Noch war die Zeit nicht gekommen, in der man daran denken konnte, sich ohne Kirche überhaupt zu behelfen. Wohl entstand im Ausgang des Mittelalters in den Städten eine Kultur, die jener Kultur, welche die Kirche repräsentirte, weit überlegen war. Die neuaufstrebenden Klassen – das Fürstenthum mit seinen Höflingen, die Kaufleute, die römischen Juristen, die Literaten, waren denn auch nichts weniger als christlich gesinnt – und zwar um so weniger, je näherzu sie Rom wohnten. Die Hauptstadt der Christenheit selbst war der Hauptsitz des Unglaubens. Aber zu einer neuen Organisation der Staatsverwaltung, zu einer weltlichen Bureaukratie, die an Stelle der kirchlichen Organisationen hätte treten können, waren erst kümmerliche Ansätze vorhanden. Die Kirche als Herrschaftsorganisation blieb für die herrschenden, also gerade die ungläubigen Klassen, noch unentbehrlich. Nicht die Kirche zu zerstören, sondern sie zu erobern und durch sie die Gesellschaft zu beherrschen und ihren Interessen gemäß zu gestalten, das war ebenso sehr die Aufgabe der revolutionären Klassen beim Ausgang des Mittelalters wie es heutzutage Aufgabe des Proletariats ist, den Staat zu erobern und ihn sich dienstbar zu machen.
Je ungläubiger die oberen Klassen wurden, desto besorgter zeigten sie sich für das Seelenheil der unteren Klassen, desto ängstlicher sahen sie darauf, daß diesen ja jede Bildung vorenthalten werde, die ihren Blick über den Bereich der christlichen Lehren erhoben hätte. und sie brauchten sich dabei nicht allzu sehr zu bemühen, denn die soziale Lage der Bauern, Handwerker und Proletarier war ja eine solche, die ihnen von vornherein das Erlangen einer höheren Bildung unmöglich machte. Sie blieben also im Bannkreise der christlichen Anschauungen.
Die päpstliche Kirche gewann dadurch herzlich wenig. Denn es verhinderte nicht, daß große Volksbewegungen gegen die ausbeutende Kirche sich entwickelten; es bewirkte blos, daß diese Bewegungen zur Begründung ihrer Bestrebungen sich vorwiegend auf religiöse Argumente beriefen.
Die literarischen Erzeugnisse des Urchristenhums boten allen Denen, die die Kirchengüter – aus welchen Gründen immer – konfisziren wollten, ein reiches Arsenal von Waffen; ging doch aus diesen Schriften deutlich hervor, daß Jesus und seine Jünger arm gewesen waren, und daß sie von ihren Nachfolgern freiwillige Armuth verlangt hatten; daß die etwaigen Güter der Kirche nicht der Geistlichkeit, sondern der Gemeinde gehört hatten.
Die Rückkehr zum Urchristenthum, zum Evangelium, die Wiederherstellung des „reinen Wortes Gottes,“ das die päpstliche Kirche gefälscht und in sein Gegentheil verdreht hatte, das wurde das Bestreben aller dem Papstthum feindlichen Klassen und Parteien. Freilich deutete jede dieser Parteien je nach den Interessen, die sie vertrat, das „reine Wort Gottes“ anders. Einig waren sie blos darin, daß es die Besitzlosigkeit der kirchlichen Hierarchie fordere. Ob es aber auch die demokratische Organisation der Kirchengemeinde verlange oder gar auch die Gütergemeinschaft, darüber gingen die verschiedenen dem Papstthum opponirenden – „protestantischen“ – Richtungen weit auseinander. Aber da im Urchristenthum thatsächlich diese demokratische Organisation und diese Gütergemeinschaft bestanden hatten, so mußte ein Verehrer des Urchristenthums schon sehr am Gegentheil interessirt sein, um aus dem „reinen Wort Gottes“ etwas Anderes herauszulesen. Jedes ehrliche Mitglied der besitzenden Klassen, das an einer ketzerischen Bewegung theilnahm und im Stande war, sich geistig über die Interessen und Vorurtheile seiner Klasse zu erheben, konnte daher verhältnißmäßig leicht für den demokratischen Kommunismus gewonnen werden, namentlich so lange, als den besitzenden, dem Papstthum feindlichen Klassen dieses au ein übermächtiger Feind, der Kommunismus dagegen als die harmlose Spielerei einiger überspannten Ideologen erschien, so lange es nothwendig war, alle oppositionellen Kräfte gegen das Papstthum in einer Phalanx zu vereinigen. Der ketzerische Kommunismus zeigte sich anfangs blos der päpstlichen Ausbeutung gefährlich. Darum erwarb er sich leicht die Duldung der besitzenden Klassen, wo diese ketzerisch gesinnt waren, darum war es möglich, daß der Ruf der Rückkehr zum Urchristenthum nicht blos in den Kreisen der ärmeren Bevölkerung, sondern auch bei nicht wenigen Mitgliedern der besitzenden Klassen kommunistische Tendenzen aufkommen ließ.
Betrachtet man alle diese Umstände, dann erscheint es begreiflich, daß die kommunistischen Ideen zur Zeit der ketzerischen Bewegungen, die auf den Sturz des Papstthums abzielten, eine Kraft und eine Ausdehnung erlangen konnten, der die Kraft, die Ausdehnung und das Selbstbewußtsein des Proletariats damals keineswegs entsprachen.
Deshalb mußten aber auch die ketzerischen, kommunistischen Bewegungen in der Regel rasch zusammenbrechen, anscheinend ohne Spuren zu hinterlassen, sobald sie, statt mit den Bewegungen der besitzenden Klassen sich einzig gegen das Papstthum zu richten, einen Versuch machten, die ganze Gesellschaft der Besitzenden anzugreifen.
Alle diese Umstände: mangelndes Klassenbewußtsein bei den Besitzlosen, verhältnißmäßig großes Interesse Besitzender – Kaufleute, Ritter, namentlich aber Geistlicher – für kommunistische Bestrebungen, starke literarische Beeinflussung durch kommunistische Tendenzen einer früheren Periode – des Urchristenthums – alles das mußte bewirken, daß in der ganzen Zeit vom Aufleben kommunistischer Ideen im 12. und 13. Jahrhundert bis in die Zeit der Reformation, ins 16. Jahrhundert hinein, die religiöse Hülle, in der die kommunistische Bewegung auftrat, ihren Klassencharakter noch stärker verdeckte, au dies bei den Volksbewegungen der damaligen Zeit im Allgemeinen der Fall war.
Aber doch ist es das Proletariat gewesen, welches damals schon den kommunistischen Bewegungen seinen Stempel aufgedrückt hat. Und so wie das mittelalterliche Proletariat verschieden ist von dem der verfallenden römischen Gesellschaft, aber auch verschieden von dem modernen, so ist auch der Kommunismus, dessen Träger es war, verschieden von dem urchristlichen ebenso wie von dem des 19. Jahrhunderts. Er bildet ein Uebergangsstadium zwischen beiden.
Er ist ebenso wie der urchristliche und aus denselben Ursachen wie dieser ein Kommunismus der Konsummittel, nicht der Produktionsmittel, und unterscheidet sich dadurch wesentlich von dem modernen; das brauchen wir wohl nach dem bisher Angeführten nicht weiter zu erklären.
Der Kommunismus des Mittelalters und der Reformationszeit ist aber auch ebenso wie der des Urchristenthums ein asketisher und ein mystischer, ein Kommunismus der Entsagung und ein Kommunismus, der auf das Eingreifen geheimnißvoller, übermenschlicher Mächte rechnet. Auch dadurch steht er im Gegensatz zum Kommunismus des neunzehnten Jahrhunderts.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.