05. September 2022
Boliviens linke Regierung versuchte vierzehn Jahre lang, dem Militär politisch beizukommen. Am Ende wurde sie weggeputscht. Doch ihre Versuche, die Streitkräfte von innen zu erneuern, waren nicht völlig vergebens – denn nach 342 Tagen kehrte die Demokratie zurück.
»Ich musste mich innerhalb von 30 Sekunden entscheiden, ob ich in dieses Flugzeug steige oder nicht«, erinnert sich die ehemalige Gesundheitsministerin Boliviens, Gabriela Montaño Viaña, an die dramatischen Ereignisse während des Militärputsches im November 2019. In einem Interview mit der Tageszeitung La Razón aus La Paz schildert Montaño, wie sie zusammen mit Präsident Evo Morales, Vizepräsident Álvaro García Linera und weiteren politischen Vertrauten vom Flughafen in Chimoré im tropischen Teil des Departamento de Cochabamba ihre Flucht antrat, die sie zunächst nach Paraguay und schließlich nach Mexiko führen sollte.
Der Tageszeitung Opinión aus Cochabamba zufolge soll es vor dem Start zu Handgreiflichkeiten zwischen Angehörigen der bolivianischen Streitkräfte und dem Piloten der mexikanischen Maschine gekommen sein. »Ich habe meinen Töchtern, meiner Mutter und meinem Partner versprochen, dass ich lebend aus der Sache herauskommen würde«, erzählt Montaño. »Álvaro hat dann mit dem Kommandanten der Luftwaffe telefoniert und von ihm eine Flugerlaubnis verlangt.« Nachdem dieser Morales und seinen Mitstreiterinnen 30 Minuten gewähre, um den bolivianischen Luftraum zu verlassen, sollen Unbekannte das Flugzeug kurz nach dem Abheben mit einem Raketenwerfer beschossen haben.
Mit der Flucht der wichtigsten Regierungsmitglieder am 11. November 2019 schien Boliviens Experiment mit dem demokratischen Sozialismus nach fast vierzehn Jahren beendet zu sein. Evo Morales Ayma, seit Januar 2006 erster Indigener Präsident des südamerikanischen Landes und Parteivorsitzender der Movimiento al Socialismo – Instrumento Político por la Soberanía de los Pueblos (MAS-IPSP) hatte am Tag zuvor seinen Rücktritt erklärt, nachdem ihn der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Williams Kaliman Romero, dazu aufgefordert hatte.
Morales’ Amtszeit war in der bolivianischen Geschichte beispiellos. Die Wirtschaftsleistung des Landes verdoppelte sich und die Armutsquote fiel von über 50 auf unter 20 Prozent. Erreicht wurde dies nicht etwa durch neoliberale Strukturreformen und Kredite des Internationalen Währungsfonds, sondern durch eine drastische Erhöhung der Förderabgaben auf Erdgas, die Südamerikas ärmstem Land öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur in bisher ungekanntem Ausmaß ermöglichten. Hinzu kam eine kluge Industriepolitik, die auf wirtschaftliche Diversifizierung und Importsubstitution durch den Aufbau von Staatsbetrieben setzte – wie etwa einer Düngemittelfabrik des staatlichen Erdgaskonzerns YPFB, der staatlichen Fluggesellschaft Boliviana de Aviación oder dem Glashersteller Envibol, zu dessen Kunden inzwischen selbst Coca-Cola gehört.
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Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.