30. Januar 2023
Von H. G. Wells bis zu Ursula K. Le Guin – viele Science-Fiction-Ikonen waren überzeugte Sozialistinnen und Sozialisten. Wie kein anderes Genre befreit uns Science-Fiction vom kapitalistischen Realismus unserer Gegenwart.
Science-Fiction lädt uns dazu ein, neu über die Zukunft nachzudenken.
In seinem letzten Roman Ministerium für die Zukunft stellt Kim Stanley Robinson den vorherrschenden kapitalistischen Realismus des Globalen Nordens infrage, indem er eine spekulative Zukunft entwirft, in der die Menschheit mit kollektivem Handeln den Kapitalismus überwindet und die Welt vor dem Klimakollaps bewahrt. Mit dieser alternativen Vision zum Status quo reiht sich Robinson in eine lange, ehrwürdige Tradition linker Science-Fiction-Autorinnen und -Autoren ein, die utopische Romane verfassten.
Diese Tradition reicht mindestens bis zu William Morris’ Zukunftsroman Kunde von Nirgendwo (1890) zurück, der von einer proletarischen Revolution erzählt, die in eine ideale Gesellschaft frei von Armut und Unterdrückung mündet. Was Robinson und Morris verbindet, ist die Vorstellung einer Menschheit, die das Arbeiten als eine soziale Praxis sowohl innerhalb als auch gegen die Natur erlebt. Diese Werke – ebenso wie die anderer berühmter Autoren sozialistischer utopischer Romane wie H. G. Wells oder Iain M. Banks – beflügeln die Idee des Sozialismus, da sie ihren Leserinnen und Lesern eine radikale Darstellung post-kapitalistischer Gesellschaften bieten, die in anderen Medien so gut wie gar nicht existiert.
Utopische Science-Fiction liefert uns nicht nur eine Blaupause für die Zukunft, sondern lädt auch dazu ein, neu über die Geschichte der Menschheit nachzudenken. Auf der Rückseite einer Ausgabe des Magazins Tribune prangte einmal folgendes Marx-Zitat: »Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde.« Was wäre, wenn es einen konzeptuellen Rahmen gäbe, um die Umstände, unter denen wir leben, neu begreifen zu können? Was wäre, wenn wir aufhören würden, nur in Bezug auf die Vergangenheit über Geschichte nachzudenken, und anfangen würden, sie aus der Perspektive der Zukunft zu betrachten?
Der Literaturkritiker Max Saunders beschreibt in seinem Buch Imagined Futures (2019), wie im Großbritannien der Zwischenkriegszeit eine Kultur der »Zukunftsgeschichte« (future history) entstand. Der Begriff meint eine Geschichte der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft, die aus dem Blickwinkel einer imaginierten fernen Zukunft verfasst wird. Der Biologe und kommunistische Intellektuelle J. B. S. Haldane schrieb einen Teil seines Buches Daedalus oder Wissenschaft und Zukunft (1923) im Stil eines studentischen Essays aus dem Jahr 2073, in dem beschrieben wird, wie biologische Prozesse wie etwa das Wachstum von Embryos außerhalb des Körpers der Mutter zu einer weit verbreiteten Praxis geworden waren.
Damit präsentierte Haldane die Aussicht auf eine völlige Transformation der konventionellen sexuellen Beziehungen schlichtweg als Tatsache. Da er aus der Perspektive der Zukunft schrieb und seine Gegenwart als ein vorübergehendes Stadium der Geschichte betrachtete, konnte er sich von dem restriktiven moralischen Kompass der Vergangenheit und der Tradition befreien.
»Diese Romane bieten nicht nur Hoffnung in dunklen Zeiten, sie erwecken in uns auch ein neues Staunen darüber, was eine wirklich egalitäre Gesellschaft erreichen könnte.«
Die feministische Science-Fiction-Literatur der Schriftstellerin Naomi Mitchison, die Haldanes Schwester war, beruht auf einer ähnlichen Logik. We Have Been Warned (1935) ist ihrer eigenen Beschreibung nach ein »historischer Roman über meine eigene Zeit«, womit sie andeute, dass auch sie ihre Gegenwart aus dem Blickwinkel einer fortschrittlicheren Zukunft betrachtete. Mit ihrer Schilderung einer faschistischen Machtübernahme in England führte sie ihren Leserinnen und Lesern die Notwendigkeit der Transformation der Klassen- und Geschlechterverhältnisse vor Augen, um diesem Schicksal zu entgehen und stattdessen eine Zukunft aufzubauen, in der alle Menschen gleich sein würden.
Der Gedanke, dass die Bedürfnisse der zukünftigen Gesellschaft wichtiger sind als die der vergangenen und gegenwärtigen, entwickelte sich zu einem ethischen Prinzip, indem eine Analogie zum Arbeitskampf hergestellt wurde. So beobachtete Mitchison etwa, dass die Öffentlichkeit dazu neigte, Streiks oder politische Kampagnen als aggressive oder feindliche Angriffe auf die bestehende Ordnung wahrzunehmen. Erst im Nachhinein, wenn sich die breite Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass sich infolge dieser Kämpfe die Lebensbedingungen verbessert hatten, erschienen sie als legitim.
Sozialistinnen und Sozialisten, so das Argument, sollten daher die Werte einer utopischen Zukunft als ethisch positiv darstellen und das Handeln der kapitalistischen Klasse als feindlichen Angriff auf eine zukünftige »gute Gesellschaft«. Diese von der linken Kulturpolitik der 1930er Jahre gepriesene Science-Fiction-Vision einer Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt, bestärkte die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter während des Zweiten Weltkrieges ihren entscheidenden Beitrag zu leisten und begünstigte die Wahl einer Labour-Regierung 1945.
Die Sowjetunion der Ära vor den Schauprozessen diente vielen linken Romanen der Zwischenkriegszeit als anleitendes Modell für diese fortschrittliche Zukunft. In We Have Been Warned wird sie etwa aus der Perspektive emanzipierter Arbeiterinnen dargestellt, die selbst darüber entscheiden, ob und mit wem sie Kinder haben möchten. (Mitchisons Beitrag zur Debatte über Emanzipation und Empfängnisverhütung sollte jedoch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass sie sich auch für Eugenik engagierte.)
In ihrem Sachbuch The Moral Basis of Politics (1938) argumentierte sie, dass der Ursprung der traditionellen Sexualmoral in einer Ökonomie der Knappheit begründet liegt. Freiheit und Gleichheit könnten daher erst dann zur Norm werden, wenn für alle materiellen Bedürfnisse gesorgt sei. Sie prognostizierte also, dass das Schicksal der Sowjetunion letztlich davon abhängen würde, ob sie imstande wäre, eine Gesellschaft ohne Knappheiten aufzubauen.
Die Sowjetunion ist gescheitert, aber die Geschichte dieses Scheiterns ist weitaus interessanter und lehrreicher, als ihre Gegnerinnen und Gegner je zugegeben haben. Francis Spuffords kreativer Dokumentarfilm Red Plenty (2010) über den sowjetischen Versuch, auf Basis der Wissenschaft alle Bedürfnisse zu befriedigen, wurde vielfach mit den Science-Fiction-Romanen von Kim Stanley Robinson oder Ursula K. Le Guin verglichen.
Die Vorstellung einer utopischen Gesellschaft jenseits von Knappheiten bildet den Rahmen für die am längsten anhaltende Serie sozialistischer Science-Fiction der letzten Jahre: Iain M. Banks’ Kultur-Zyklus (1987–2012). In diesen Romanen wird die Frage nach der Ethik sozialistischer Interventionen, die hierarchische Staaten dazu bringen, ihre Bevölkerungen zu befreien, einer tiefgehenden Untersuchung unterzogen. Indem er die Romane aus der Perspektive von KI-»Gehirnen« aus der Zukunft schreibt, schafft Banks eine Distanz zu der liberalen Ideologie, die aktuelle Diskussionen über humanitäre Interventionen beherrscht. An deren Stelle tritt eine nüchterne Analyse der politische Werte, die zur Debatte stehen.
Der Umfang dieser Art von Weltraumoper dient unter anderem auch dazu, die Begrenztheit der Werte der herrschenden Klasse zu offenbaren. Wie der Literaturkritiker Fredric Jameson argumentiert, ist der traditionelle Roman eine bürgerliche literarische Form, die auf eine formelle Auflösung angewiesen ist – wie im Falle der Heldin eines Jane-Austen-Romans, deren Entwicklung in einem Ehevertrag endet, der die Eigentumsverhältnisse und die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhält.
Science-Fiction ist im Gegensatz dazu eine Textgattung, die sich über diese Art von Zwängen hinwegzusetzen versucht. Anstatt in der Enge des modernen Lebens zu verharren, das von den Umständen, in die man hineingeboren wird, und den Berufsaussichten, die sich einem bieten, bestimmt ist, wird der Rahmen der Handlung auf ein endloses Universum ausgeweitet. Somit eröffnet sich eine grenzenlose Erkundung individueller und gesellschaftlicher Möglichkeiten. Hat man einmal in der Dunkelheit die C-Beams nahe dem Tannhäuser Tor glitzern sehen, gibt es kein Zurück mehr in die Passivität des spätkapitalistischen Lebens.
Seit mehr als einem Jahrhundert wird nun schon sozialistische Science-Fiction geschrieben, die uns zu einer Reihe von Perspektivwechseln einlädt, mit denen wir uns von den ideologischen Zwängen unserer Gegenwart befreien können, um neue Geschichte zu machen. Diese Romane bieten nicht nur Hoffnung und Inspiration in dunklen Zeiten, sie erwecken in uns auch ein neues Staunen darüber, was eine wirklich egalitäre Gesellschaft erreichen könnte.
Nick Hubble lehrt an der Brunel University. Zuletzt erschien von ihm »Growing Old with the Welfare State« (Bloomsbury).