19. September 2024
Marco Beckendorf von der Linkspartei ist Bürgermeister in einer idyllischen Gemeinde in Brandenburg. Wie man gegen die Landflucht ankämpft und lebenswerte Dörfer schafft, erklärt er im Gespräch mit JACOBIN.
Im brandenburgischen Wiesenburg scheint die Welt noch in Ordnung zu sein: Das Wetter ist herrlich, die Gehwege sind frisch gepflastert, alle grüßen sich – man könnte meinen, das Dorf sei für unser Interview hochpoliert worden. Wie ist es gelungen, mitten im strukturschwachen Osten ein kleines Dorf einer solchen Verjüngungskur zu unterziehen? Einer, der einen großen Teil zu dieser Erfolgsstory beigetragen hat, ist Marco Beckendorf. Er begrüßt uns trotz knallender Sonne und gesetzlichem Feiertag in Hemd und Schlips, denn nach unserem Termin kommt eine Filmcrew des ZDF.
Familien essen Eis in vollen Cafés und Paare spazieren durch die dekadente Schlossanlage der Burg, der das Dorf seinen Namen verdankt. Marco wurde vor kurzem zum zweiten Mal als Kandidat der Linken zum Bürgermeister von Wiesenburg-Mark gewählt – eine Art Berufung könnte man sagen. Denn Bürgermeister, so erzählt Marco, wollte er schon immer werden. Und so kam es dann auch: Kurz vor seinem Diplom als Finanzwirt wurde er überraschend zu einem der jüngsten Bürgermeister Brandenburgs, der obendrein noch ein Studium in Regionalwissenschaften mit einem Schwerpunkt auf ländliche Gemeinden mit sinkender Einwohnerzahl in der Tasche hat. Er ist wie gemacht für den Job. Vielleicht ist auch das der Grund dafür, dass die Rechten hier nicht Fuß fassen konnten. Klar, auf dem Land ist man etwas konservativer, aber die AfD ist auf kommunaler Ebene nicht der Rede wert – anders als auf Landesebene, wo die Linke derzeit bei 4 Prozent und die AfD bei 28 Prozent liegt.
Marco hat sein Amt von seiner Vorgängerin, einer Parteigenossin, übernommen. Die Bürgerinnen und Bürger kennen ihn und er kennt sie. Dabei muss er jeden Tag unter Beweis stellen, dass pragmatische progressive Politik die Gemeinde voranbringt – und das in Zeiten, in denen andere ländliche Regionen, vor allem im Osten, das Vertrauen in die Politik verlieren. Marco nahm sich die Zeit, uns zu erklären, wie das geht und warum der Staat keine Angst vor Verschuldung haben muss.
Marco, Du bist ein linker Bürgermeister und gleichzeitig Finanzexperte. In der Regel scheitert die ambitionierte Kommunalpolitik angeblich an den Finanzen. Stimmt das?
Geld ist etwas, was der Staat organisiert. Für mich steht das Personal im Mittelpunkt. Selbst wenn man Geld hat, scheitert es, wenn das Personal nicht da ist. Daher scheitert es in der Regel erst am Personal. Und dann am Geld.
Inwieweit ist Wiesenburg stellvertretend für den Osten?
Das Problem der ländlichen Kommunen im Osten ist vor allem, dass viele Betriebe in der Nachwendezeit stillgelegt wurden. Und gerade die älteren Leute, die hier verblieben sind, fühlen sich in ihrer Lebensleistung herabgewürdigt, weil sie über Jahrzehnte in diesem Betrieb gearbeitet und mitgestaltet haben. Und jene Arbeitsplätze, die neu entstanden sind, sind oft nur Betriebsstätten von westdeutschen Unternehmen, die geförderte und schlecht bezahlte Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen gebracht haben. Die guten Jobs in der Geschäftsführung, Buchhaltung, im Marketing, Vertrieb und in der Entwicklung fehlen. Diese sind alle in den westdeutschen Stammbetrieben.
Was habt Ihr in Wiesenburg anders gemacht?
Wir hatten Mut und haben nicht nur in pflichtige Aufgaben, wie Feuerwehr oder Kita, investiert. Wir haben uns gefragt, sind wir davon überzeugt, dass wir eine Zukunft haben? Sind wir attraktiv als Wohnort und als Arbeitsplatz? In Brandenburg bedeutet das, den Anschluss nach Berlin zu bekommen, aber es ist auch wichtig, die Gemeinde selbst lebenswert zu machen.
»Ich will ja nicht die Leute ärgern. Ich will, dass die Leute ihren Hauptstadtwohnsitz aufgeben und ihren Lebensmittelpunkt in unsere Gemeinde verlegen.«
Wir haben viele ehemalige volkseigene Betriebsgelände, die nach der Wende geschlossen wurden. Das sind offene Wunden der Nachwendezeit. Auch haben diese Betriebe ihre soziale Infrastruktur mit ins Dorf eingebracht. Da gab es Mensen, wo man mittags Essen gehen konnte, es gab Bibliotheken, Schwimmbäder. Auch diese Infrastruktur ist mit der Privatisierung und Schließung verloren gegangen. Deswegen war es wichtig, vieles davon in der Niedrigzinsphase als Gemeinde anzukaufen und zu entwickeln, um Arbeitsplätze und Dienstleistungen hier im Dorf zu behalten. Das war eine gute Entscheidung und das setzt uns vielleicht von anderen Gemeinden ab.
Was rätst Du linken Kommunalpolitikerinnen in Deiner Situation, die ihre Gemeinden wiederbeleben wollen?
Wenn man eine attraktive Region sein möchte, reicht es nicht, nur irgendwie ein Wohnbaugebiet zu entwickeln. Man muss Arbeitsplätze schaffen und eine gute Kinder- und Schulbetreuung. Der Zuzug kommt insbesondere aus den Städten, die in der Regel über eine bessere Infrastruktur verfügen. Die Leute haben ja den ländlichen Raum verlassen wegen Ausbildung und Studium und sind dann fünfzehn Jahre städtisches Leben gewohnt. Dort können sie sich aussuchen, wo sie ihr Kind auf die Schule schicken. Im ländlichen Raum hat man eine Schule, und wenn diese Schule nicht funktioniert, da kann man Wohnbaugebiete schaffen, wie man will. Man muss alle Themen bespielen, auch die Gastronomie und den Tourismus. In der Stadt kann man auch mal weggehen, und das muss man auf dem Land auch können. Es ist das ganze Paket. Es gilt nicht nur, darum für gute Wohn- und Arbeitsplätze zu kämpfen. Damit die Leute herziehen und bleiben muss die Region lebenswert und liebenswert sein. Niemand möchte sich mit einem Umzug verschlechtern.
Es gibt jedoch eine Entwicklung, die wir nicht gut steuern können. Die Berliner kriegen zum Teil keine Gartengrundstücke mehr, darum gibt es viele, die sich einen günstigen Hof als Wochenendhaus auf dem Land hier in Brandenburg kaufen. Das ist das Problem. Wir versuchen beispielsweise mit einer Zweitwohnungssteuer im wahrsten Sinne des Wortes gegenzusteuern. Aber diese Steuer, die ich als Gemeinde erhebe, löst das Kernproblem nicht. Ich will ja nicht die Leute ärgern, ich will, dass die Leute ihren Hauptstadtwohnsitz aufgeben und ihren Lebensmittelpunkt in unsere Gemeinde verlegen. Und dafür braucht es eine gute Infrastruktur.
Wie setzt Du Prioritäten?
Das ist sehr einfach: Die Aufgabe des Staates ist es, Vollbeschäftigung zu schaffen. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen eine sinnvolle Beschäftigung. Also ist es meine Priorität, diese vor Ort zu schaffen. Ohne Arbeitsplätze gibt’s auch keine Leute, die hier wohnen.
Was ist Eure größte Herausforderung gerade?
Die größte Herausforderung ist die Bundespolitik und deren Einfluss auf die europäische Geldpolitik. Die Erhöhung des Leitzinses führt zu steigenden Zinsausgaben, und das führt dazu, dass die positive Grundstimmung, die Aufbruchstimmung, die wir die letzten Jahre erzeugt haben, bröckelt und die ganze Entwicklungsstrategie in Frage gestellt wird. Das Geld sitzt nicht mehr so locker, Privatunternehmen und Haushalte kommen schwerer an Kredite und müssen mehr Eigenkapital aufbringen, was die Investitionstätigkeiten hindert. Zumal Eigenkapital im Osten kaum vorhanden ist. Und der Bund federt diese Unsicherheit nicht ab, sondern bestärkt das auch noch mit Sparpolitik und Schuldenbremse.
Im letzten Jahr wurde der Leitzins deutlich angehoben. Was hat sich seit dem Zinshammer in Deiner Arbeit verändert?
Die Unsicherheit ist größer geworden. 80 Prozent der Menschen wohnen hier im eigenen Eigentum, das sie größtenteils auch finanziert haben. Neben denen, die nach der Wende gekauft und ihre Kredite abbezahlt haben, gibt es junge Leute, die in den letzten Jahren hierhergezogen sind und sich bis zur Rente verschuldet haben. Die fragen sich nun, ob sie sich ihr Haus nach Auslaufen der Zinsbindung noch leisten können. Unternehmen sparen auch: Wir haben in der Gemeinde Baugenehmigungen, beispielsweise für Produktionshallen rumliegen, die nicht umgesetzt werden. Der Hauptgrund sind die gestiegenen Zinsen.
Diese treffen uns als Gemeinde weniger hart, weil sie sich zurzeit nur auf den Kassenkredit auswirken. Das ist unser Dispokredit. Wir sind zwar eine der am höchsten verschuldeten Kommunen in Brandenburg, aber diese hohen Zinsen betreffen nicht unsere Investitionskredite. Diese haben wir in der Niedrigzinsphase mit längeren Laufzeiten aufgenommen.
»Der Bund und die Länder haben sich einer Schuldenbremse unterworfen, die Städte und Gemeinden nicht.«
Aber derzeit steigt unser Dispokredit an, weil wir unsere Investitionskredite tilgen. Das tun wir mit Geld, das wir in der Rezession gar nicht mehr in der benötigten Höhe erwirtschaften. Das heißt, wir tilgen unsere Investitionskredite mit Kassenkrediten. Wir sind dadurch nicht höher verschuldet, wir sind nur anders verschuldet. Weil der Kassenkredit jedoch höher verzinst wird, ist es nun teurer geworden, unsere Investitionen abzubezahlen.
Dennoch ist es aus meiner Sicht nicht zwingend notwendig, diesen Dispokredit abzubauen. Die Art der Verschuldung und auch die Höhe im europäischen Vergleich ist nicht das Problem, sondern dass bei vielen Städten und Gemeinden keine ausreichende Investitionstätigkeit vorliegt. Das staatliche Anlagevermögen, unsere Infrastruktur, zerfällt schneller als neue Infrastruktur geschaffen wird. Eine Regel ist jedoch, dass man aus einem Kassenkredit nicht investieren darf. Man erhält dann auch nur unter Ausnahmen Kreditgenehmigungen. Deswegen investieren die Kommunen nicht ausreichend, weil sie Angst haben, in den Kassenkredit zu rutschen. Sie investieren nur, wenn sie Geld, also Liquidität, haben. Diejenigen Städte und Gemeinden, die bereits im Minus sind, versuchen krankhaft durch Sparen dieses abzutragen. Aber wenn sie dann wieder bei Null sind, können sie mit null Euro auch keine Millioneninvestitionen leisten. Und wenn sie gespart haben, dann ist in der Zeit, zumindest bei den Baukosten, durchschnittlich alles 8 Prozent teurer gegenüber dem Vorjahr geworden – soviel zur Statistik. Der Städte- und Gemeindebund Brandenburg hat im August dieses Jahres veröffentlicht, dass 15,2 Milliarden Euro an Investitionen in den kommenden zehn Jahren benötigt werden.
Was muss sich auf Bundesebene ändern, um auf den unteren Verwaltungsebenen Spielräume zu eröffnen?
Die Kommunen brauchen mehr Vertrauen vom Bund. Wir kriegen ständig Förderprogramme, die eine Bürokratiekatastrophe sind, weil der Bund die Mittel an Bedingungen und Auflagen knüpft, die Zeit und Geld fressen. Außerdem würde ich mir wünschen, dass man die Spielräume der Gemeinden nutzt und ihr Potenzial fördert. Der Bund und die Länder haben sich einer Schuldenbremse unterworfen, die Städte und Gemeinden nicht. Gemeinden könnten statt einen Fördermitteldschungel zum Beispiel einen zins- und genehmigungsfreien Kreditrahmen von der Landesbank erhalten. Wenn dieser bei steigender Ertragskraft der Kommunen mitwächst, wäre dies eine progressive Geldpolitik, wie ich sie mir vorstelle.
Wie hat die MMT dein Denken beeinflusst?
Ich habe zum ersten Mal 2019 einen Artikel von Stephanie Kelton gelesen und dachte, das sind genau die Argumente, die wir brauchen, um jetzt Schulden zu machen. Der Staat ist der Souverän und wir kriegen auch immer die besten Konditionen für Kredite, deutlich bessere als die Unternehmen. Wir als Gemeinde haben auf dem Höhepunkt der Niedrigzinsphase bei einer Laufzeit von zehn Jahren 0 Prozent Zinsen für Investitionen erhalten, für zwanzig Jahre waren es 0,03 Prozent. Wir reden hier von einem großen Unterschied, der zwischen Staat und Unternehmen herrscht. Dass der Staat diesen Vorteil nicht für sich ausnutzt, ist fahrlässig, genauso wie es fahrlässig ist, dass der Staat oft mit einem Unternehmen oder einer schwäbischen Hausfrau verglichen wird. Die Realität ist für viele Unternehmen, dass sie nicht wissen, ob ihr Produkt noch in zehn Jahren konkurrenzfähig ist oder überhaupt noch benötigt wird. Bei uns privaten Haushalten ist es so, dass wir mit zunehmendem Alter weniger leistungsfähig werden und damit an Kreditwürdigkeit verlieren. Der Staat hingegen wird immer stärker je souveräner er ist. So wird er auch noch in 200 Jahren existieren.
»Wir reden hier von einem großen Unterschied, der zwischen Staat und Unternehmen herrscht. Dass der Staat diesen Vorteil nicht für sich ausnutzt, ist fahrlässig.«
Daher ist es auch für den Staat unschädlich, seine Tilgungen soweit in die Zukunft zu strecken, wie sie durch die sogenannten Abschreibungen, das sind gebuchte jährliche Wertminderungen auf das Anlagevermögen, auch erwirtschaftet werden. Das ist ein wichtiger Punkt und ein Grund für den hohen Investitionsstau bei den Kommunen. Wir tilgen zu schnell.
Wie blickst Du auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg?
Für uns verbliebene und zukünftige Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wird es immer schwieriger, Wahlen allein als Kandidatin oder Kandidat von Die Linke zu gewinnen. Zukünftig wird man mehr auf Bürger- und Parteienbündnisse setzen müssen. Bürgermeisterwahlen sind zwar Personenwahlen, das heißt, man wählt nicht eine Partei, sondern unterstützt direkt eine Person, die man für geeignet hält. Aber natürlich fragen sich die Menschen, warum man über diese oder jene Partei antritt. Uns Linken werden jedoch mit jedem schlechten Wahlergebnis immer weniger Kompetenzen zugesprochen.
»Das schönste Asylheim Deutschlands, um mal ein konkretes Beispiel mit linker Handschrift zu benennen, ist derzeit hier in Wiesenburg im Aufbau.«
Aber wir können dieser Abwärtsspirale lokal auch entkommen, beispielsweise indem wir konkrete, mehrheitsfähige Projekte vor Ort unterstützen und aufzeigen, wie sie realisiert werden können. In Kommunen sind das vor allem Projekte in Bereichen der Kindertagesbetreuung, Schulen, der freiwilligen Feuerwehr und des Vereinswesens. Auf Landesebene braucht es schon größere Visionen. Mit Visionen oder auch Reformen ist es jedoch so eine Sache. Diese muss man erklären können. Wir Menschen sind aber eher träge. Damit meine ich, dass wir schonmal die Ansicht vertreten, dass das, was die letzten dreißig Jahre gut funktioniert hat, auch für die kommenden dreißig Jahre gut funktionieren sollte.
Und da sind wir dann beim Land Brandenburg. Die SPD hat seit der Wende den Ministerpräsidenten gestellt. Mit Dietmar Woidke haben die Sozialdemokraten einen bodenständigen, politikerfahrenen und bürgernahen Kandidaten. Einzig an Visionen fehlt es ihm. Er kann sich aber in dem jetzigen politischen Diskurs, der von dynamischen Themen wie der Migration und Transformation geprägt ist, nicht auf die letzten dreißig Jahre berufen. Das kostet ihn und die SPD Vertrauen bei den Wählerinnen und Wählern. Diese Situation könnte man nutzen. Als Linke müssen wir uns nach der Spaltung und Gründung des Bündnisses Sarah Wagenknecht beim Thema Migration jedoch neu profilieren. Das »schönste Asylheim« Deutschlands, um mal ein konkretes Beispiel mit linker Handschrift zu benennen, ist derzeit hier in Wiesenburg im Aufbau. Der sogenannte Exile Media Hub Brandenburg wurde mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zusammen mit einer gemeinwohlorientierten Organisation aus Berlin initiiert. An solchen und anderen Projekten können wir uns zukünftig orientieren.
Das Thema Transformation wird in Brandenburg vom Strukturwandel der Lausitzer Bergbauregion dominiert. Genau dort wäre es jetzt wichtig, linke Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu haben. Diese fehlen uns und damit Personen und Projekte, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger mit linker Politik identifizieren können. So haben wir in ganz Brandenburg nur noch vier hauptamtliche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Vor zehn Jahren waren wir noch fünfzehn und hatten auf Landesebene 18,6 Prozent bei der Landtagswahl geholt. Wenn man diese Entwicklung als Indikator für die kommende Landtagswahl ansetzt, landen wir bei 4 bis 5 Prozent.