17. Oktober 2022
Die erste Rally der Kampagne »Genug ist Genug« hat gezeigt: Der Herbst wird heiß.
Michael von der BSR bei der ersten Rally der Kampagne »Genug ist Genug« in Berlin, 17. Oktober 2022.
Hunderte Menschen kamen am vergangenen Donnerstag zur ersten Rally der Kampagne »Genug ist Genug« in Berlin Neukölln zusammen, über tausend schalteten sich über den Livestream dazu. Auf die Frage, warum sie dort seien, waren die Antworten der meisten im Saal verblüffend einhellig wie eindeutig: »Weil es verdammt nochmal reicht! Diese Preis- und Energiekrise soll nicht länger auf unseren Schultern ausgetragen werden!«
Die Forderungen von »Genug ist Genug« sind wie beim britischen Vorbild »Enough is Enough« klar abgesteckt: Ein Wintergeld für alle, höhere Löhne und eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets, denn das kürzlich beschlossene 49-Euro-Ticket schließt immer noch über 13 Millionen Menschen von Mobilität aus. Wichtige – und in den letzen Wochen viel diskutierter Punkte – sind außerdem die Vergesellschaftung der Energiekonzerne, die Besteuerung von Übergewinnen sowie die Deckelung der Energiepreise. Lukas Scholle erklärte in seiner Rede, warum ein Gaspreisdeckel unumgänglich sei: Nur dieser schafft Planbarkeit und Sicherheit. Die Gaspreisbremse der Regierung sei hingegen ein Witz: »Wir wollen einen Gaspreisdeckel, der seinen Namen verdient, also früher kommt und niedriger deckelt. Und selbstverständlich wollen wir auch eine Unter- und Obergrenze.«
Die Chefredakteurin von JACOBIN und Initiatorin von »Genug ist Genug« Ines Schwerdtner betonte, worum es bei der Rally eigentlich geht: »Es ist unsere Aufgabe zu zeigen, wie man sich wehren und gemeinsam organisieren kann in dieser Krise.« Das heißt auch, die Menschen zu Wort kommen zu lassen, die die Krisen seit jeher tragen.
Eine davon ist die Pflegerin Anja Voigt, die sich in der Berliner Krankenhausbewegung engagiert und mit einem kämpferischen Appell zu den Menschen sprach: »Man kann gewinnen, wenn man sich organisiert, wenn man stark ist. Man muss nicht Verlierer einer Situation sein.« Das heißt, anstatt vor dem Gedanken der Unmöglichkeit zu resignieren, muss an die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Strukturen appelliert werden. Und das ist nur möglich, wenn man sich zusammentut.
Alle Rednerinnen und Redner zeigten in unterschiedlicher Weise auf, dass sich die jetzigen Krisen und die kommenden nur gemeinsam lösen lassen. Die Spartipps, die dieser Tage von der Regierung erteilt werden, sind dagegen eine perfide Entsolidarisierungsstrategie: Weniger Duschen, sich eine Solaranlage bauen und oder eben nur das Wohnzimmer heizen. Wenn das Geld dann immer noch nicht reicht, ist man eben selber schuld.
»Ich habe genug von der Provokation durch irgendwelche Entlastungspakete, die keinem von uns wirklich weiter helfen.«
Anja verdeutlichte auch, warum die kommenden Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst so zentral sind: Wenn die Forderungen nach 10,5 Prozent mehr Lohn umgesetzt werden, ist das ein Signal an die gesamte Gesellschaft – und auch an Arbeitgeber außerhalb des öffentlichen Dienstes. Auch Michael und Peter von der Berliner Stadtreinigung (BSR) appellierten in ihrer Rede, dass es jetzt entscheidend sei, dass sich die Gewerkschaften miteinander verbinden und vernetzen: »Mit euch können wir was wuppen, ihr müsst mit auf die Straße kommen.« Wir alle sollten uns für die Arbeitsbedingungen und Gehälter der Stadtreinigung interessieren und solidarisieren. Peters angebrachtes Gedankenexperiment war so schlagkräftig wie kämpferisch: »Was passiert in Berlin, wenn der Müll mal drei Tage nicht abgeholt wird? Dann würdet ihr uns wahrnehmen.«
Isabelle von der deutschen Bundespost erzählte, wie sich die Bedingungen für 180.000 Kolleginnen und Kollegen seit der Privatisierung der Post und dem Missmanagement des profitgetriebenen Unternehmens der letzten Jahrzehnte massiv verschlechtert haben: »Wir buckeln jeden Tag und jede Nacht die Pakete. Ich rede davon, dass unsere Kollegen und Kolleginnen bis zu 31,5 Kilogrammpakete heben!« Doch sie betonte auch: »Wir sind kampfbereit und wir haben richtig Bock, eine geile Tarifrunde zu rocken, gerne auch mit den Kollegen der Müllabfuhr und dem öffentlichen Dienst.«
Auch Halis, der Vorsitzende der Jugend- und Auszubildendenvertretung der Berliner Wasserwerke, trat mit einem klaren Aufruf auf die Bühne: »Ich habe genug von der Undankbarkeit und der Provokation durch irgendwelche Entlastungspakete, die keinem von uns wirklich weiter helfen. Ich hab genug davon, immer wieder hören zu müssen, dass ich mich beschränken muss und nicht meckern darf.«
Elke von #IchBinArmutsbetroffen berichtete davon, was es bedeutet, wenn das Geld kaum zum Leben reicht. Einige Tage zuvor wurde ihr mitgeteilt, dass ihre Heizkosten um 65 Euro erhöht werden, das heißt für sie rund 600 Euro Miete und noch ist nicht klar, ob das Jobcenter diese Summe übernehmen wird: »Habt Ihr auch Angst, dass Ihr die Mietkosten nicht bezahlen könnt oder kennt ihr das, um den Zwanzigsten herum kein frisches Essen mehr zu haben?« Im Saal war es still. Egal, ob man diesen Zustand ebenso kannte oder ob man in diesem Moment verstand, was diese Existenzängste bedeuten, die Rede von Elke traf jeden Einzelnen im Raum und verdeutlichte nochmals, warum es so wichtig ist, sich gemeinsam einzusetzen: »Unser Weg ist steinig, doch das sind wir als Armutsbetroffene gewohnt – ignoriert, unterschätzt belächelt. Wir machen weiter, jetzt erst recht.« Genau für diesen solidarischen Kampf plädierte auch die Sozialarbeiterin Cansin. Man dürfe nicht erst auf die Straßen gehen, wenn man selbst betroffen ist, sondern müsse ein Gespür für universelle Verantwortung entwickeln.
»Wütend sein, ist immer nur der Anfang, das führt uns hier her. Und dann geht es darum, sich zu organisieren.«
Die gesamte Rally war somit ein Plädoyer für die Solidarität und gegen eine Vereinnahmung von rechts. Es wurde gezeigt, warum es sich lohnt, alle, die hinter den Forderungen von »Genug ist Genug« stehen, zusammenzubringen. Das heißt aber auch, dass manche Unterschiede und Widrigkeiten ausgehalten werden müssen. Die Rally war ein Aufruf dazu, den gemeinsamen Frust und die Wut politisch zu kanalisieren: »Wütend sein, ist immer nur der Anfang, das führt uns hier her. Und dann geht es darum, sich zu organisieren«, bekräftigte Gesundheits- und Krankenpfleger David.
»Wir lassen uns nicht spalten in Krankenhausangestellte, in Müllabfuhrangestellte, Vertrags- oder Gastarbeitende, Schwarz oder Weiß, muslimisch, christlich, jüdisch, atheistisch – denn uns reicht es allen hier! Wir bleiben zusammen bis zur letzten Forderung«, unterstrich die Aktivistin Simin. Und mit diesen Worten gilt es zu hoffen, dass dieser Abend der Auftakt von etwas Großem war. Nach den zwei Stunden Rally taten die Hände vom Klatschen weh, die Gesichter glühten und viele hatten sich in Listen eingetragen, um dazu beizutragen, »Genug ist Genug« an die Hochschulen, die Betriebe, in die Kneipen und auf die Straßen zu bringen. Deutschlandweit werden viele weitere Rallys folgen. Die erste große Bündnisdemonstration in Berlin unter dem Motto »Solidarisch durch die Krise« steht schon für kommendes Wochenende an.