28. April 2022
Die Lebensmittel- und Energiepreise steigen weiter. Wenn der Staat jetzt nicht eingreift, werden die Kosten auf die Ärmsten abgewälzt.
Etwa 15 Prozent aller Ausgaben werden für Lebensmittel aufgewendet – der Preisanstieg trifft die breite Bevölkerung besonders hart.
Jetzt ist es offiziell: Auch die Lebensmittelpreise sind rasant gestiegen – um 8,5 Prozent um genau zu sein. Das haben die vorläufigen Inflationszahlen für April ergeben. Noch im März lagen die Steigerungen im Vergleich zum Vorjahr bei 6,2 Prozent. Die Energiepreise sind mit 35,3 Prozent ebenfalls noch weiter angestiegen. Diese beiden Posten ziehen die gesamten Preissteigerungen auf 7,4 Prozent.
Die Inflationstreiber sind vor allem die Pandemie und der Krieg. Beide Gefahren sind alles andere als gebannt. Die Pandemie hat in Shanghai kürzlich erst zu einem neuen Lockdown geführt. Der Hafen stand still und Hunderte Schiffe warteten tagelang auf ihre Be- und Entladung. Das Exportvolumen des weltgrößten Containerhafens stürzte um bis zu 30 Prozent ein und der Güteranteil auf blockierten Schiffen stieg auf fast 12 Prozent. Damit ist die Notlage ähnlich gravierend wie noch zu Pandemiebeginn. Und gleichzeitig steigen auch die Fallzahlen in weiteren chinesischen Metropolen. Wenn China an seiner Zero-Covid-Strategie festhält, zieht das nicht nur für das Land selbst enorme Konsequenzen nach sich, sondern auch für den Rest der Welt. Denn Verzögerungen auf dem Seeweg wirken sich auf die gesamte Lieferkette aus und resultieren in Preiserhöhungen. Auch dieser Lockdown wird sich bei einigen Gütern in den kommenden Wochen bemerkbar machen.
Was den Krieg in der Ukraine anbelangt, so besteht derzeit kaum Hoffnung auf eine baldige Verhandlungslösung – im Gegenteil, die Rufe nach einem Energieembargo werden immer lauter. Ein Importstopp für russisches Öl wird demnächst ohne größere wirtschaftliche Verwerfungen möglich sein. Ein Gasembargo wäre schwieriger und folgenreicher. In jedem Fall würde es den Energiepreis weiter in die Höhe treiben. Der Gaspreis ist ein entscheidender Faktor hinsichtlich der Preissteigerungen in anderen Bereichen, denn alle Unternehmen müssen heizen. Mit einem Embargo müsste ein gewisser Teil ersetzt werden und dann bleibt statt des günstigen Gases aus Russland nur noch teures Gas, das über den Seeweg importiert werden müsste. Ähnliches gilt für den restlichen Öl-Bedarf, den man nicht einsparen oder einkaufen konnte. Je größer die Versorgungslücke ist, desto stärker werden die Preise in die Höhe schnellen. Diese Verteuerungen werden am Ende die Verbraucherinnen und Verbraucher tragen.
Die Preissteigerungen schaden der Wirtschaft, da sie sich auf sämtliche Sektoren auswirken. Genau deswegen ist es umso wichtiger, dass der Staat schnell eingreift. Die Ampel hat damit allerdings viel zu lange gewartet. Während Haushalte ihren Konsum reduzieren oder sich verschulden, müssen Firmen durch die höheren Kosten ihre Preise anziehen. Beide Entwicklungen verstärken sich gegenseitig: Durch den verringerten Konsum sinkt die Nachfrage bei den Unternehmen und durch die hohen Preise sinkt wiederum der Konsum der Privathaushalte.
Hinzu kommt, dass Privatpersonen aus Angst vor Preisanstiegen Käufe vorziehen und Unternehmen die Bepreisung ihrer Produkte schlechter planen können. Wenn an dieser Stelle von staatlicher Seite nicht mit Entlastungen eingegriffen wird, ist die Rezession fast besiegelt – vor allem, wenn dazu noch Lohnsteigerungen kommen, um die Kaufkraft zu erhalten. Schließlich haben sich bei den Unternehmen die Kosten erhöht, da im Ausland höhere Preise verlangt wurden oder die Gütermenge schlicht nicht ausreichte. Wenn nun die Lohnkosten ebenso steigen, würden Unternehmen die Preise weiter erhöhen, um die Profite zu stabilisieren. Letzteres lässt sich nicht verhindern, wenn Preise nicht flächendeckend vorgeschrieben werden oder der Preiswettbewerb erhöht wird.
Diese Dynamik wird als Lohn-Preis-Spirale bezeichnet – und die ist nicht so leicht aufzuhalten. In den 1980ern gelang das in den USA mit einer drastischen Zinserhöhung, die jedoch erhebliche Nebenwirkungen hatte: Die Arbeitslosigkeit stieg und Länder mit Dollar-Fremdwährungsschulden wurden in eine Wirtschafts- und Schuldenkrise gestürzt. Die Lohn-Preis-Spirale sollte also unbedingt verhindert werden.
Glücklicherweise gibt es eine Alternative. Gewerkschaften sollten ihren Wirkungsraum nicht auf Lohnforderungen beschränken, sondern ordentliche Entlastungspakete fordern. Ein Arbeitskampf gegen die Regierungsbosse ist an dieser Stelle angebrachter als der Kampf gegen die Unternehmensbosse. Letzterer kann auch nicht über Lohnforderungen gewonnen werden, da Unternehmen mit den Preisen am längeren Hebel sitzen. Daher muss ein Entlastungspaket so umfassend sein, dass der Rückgang der Nachfrage im Zaum gehalten wird und auch die Lohnzuwächse nicht über die Goldene Regel des Produktivitätszuwachses und der Zielinflation hinausgehen. Selbst das wäre im Vergleich zu den vergangenen Jahren schon ein Fortschritt.
Mit welchen Maßnahmen der Inflation begegnet wird, ist entscheidend. Es war zu erwarten, dass die Entlastungspakete voll von Kompromissen sein werden. Kleine und mittlere Einkommen werden nicht voll kompensiert und Spitzeneinkommen zu erheblichem Anteil. Die Energie soll etwas günstiger bzw. der weitere Preisanstieg etwas abgemildert werden, daneben gibt es Zuschüsse, um die höheren Preise begleichen zu können. Gleichzeitig sollen die ÖPNV-Preise gesenkt werden. Dabei kamen unterschiedliche Maßnahmen heraus. Einige sind ausgezeichnet wie das 90-für-9-Ticket oder die Energiepreispauschale – denn davon profitieren vor allem kleine und mittlere Einkommen. Die Erhöhungen der Pendlerpauschale oder des Arbeitnehmer-Pauschbetrags kommen hingegen besonders Spitzeneinkommen zugute.
Die Bilanz hinsichtlich der Entlastung der Privathaushalte ist offensichtlich: Sie reichen vorne und hinten nicht. Das war eigentlich schon klar, als die Ampel die Entlastungspakete hochtrabend auf den Weg gebracht hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kommt in einer Auswertung zu dem Schluss: »Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte«. Wer von Armut betroffen ist, wird zwar mehr entlastet, trägt aber auch überproportional hohe Kosten. So bleiben die schwächsten 10 Prozent der Einkommen auf Kosten in Höhe von 3 Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens sitzen, mittlere Einkommen auf 2,4 Prozent und die 10 Prozent der Spitzenverdiener nur auf 1,3 Prozent.
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung kommt bei den Entlastungspaketen zu einem ähnlichen Ergebnis. Zur Untersuchung wurden typische Haushalte definiert und der Entlastungsanteil anhand der gestiegen Kosten ausgewertet. Wie auch das DIW gezeigt hat, entfalten die Maßnahmen eine unterschiedliche Wirkung – sowohl in der Höhe wie auch in der Breite. Bei Alleinlebenden, die über 900 Euro monatlich zur Verfügung haben, werden die gestiegenen Kosten zu 76 Prozent übernommen. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie auf 24 Prozent sitzen bleiben. Da diese Haushalte einen sehr hohen Anteil ihres Einkommens wieder ausgeben müssen, treffen sie die Preissteigerungen besonders hart. Bei Paaren mit zwei Kindern und einem Nettoeinkommen von 2.000 bis 2.600 Euro werden 90 Prozent der Kosten übernommen, bei Pensionierten mit über 900 Euro hingegen nur bis zu 9 Prozent.
Offensichtlich ist, dass irgendjemand die Kosten tragen wird. Wenn die Importe teurer werden, dann werden entweder der Staat, die Privathaushalte oder die Unternehmen ärmer – oder eine Kombination daraus. Bei den Privathaushalten bleiben derzeit vor allem arme Bevölkerungsschichten auf den höheren Kosten sitzen. Das war eine politische Entscheidung der Ampel. Inwieweit nachgebessert wird, ist ebenso eine politische Frage. Aktuell ist der Handlungsspielraum hier sogar relativ groß. Die Schuldenbremse und die europäischen Fiskalregeln sind dieses Jahr nämlich noch ausgesetzt. So plant Finanzminister Lindner einen Ergänzungshaushalt mit 40 Milliarden zusätzlichen Schulden. Da das Geld nicht knapp ist, ließe sich dieser Haushalt problemlos auf 60 oder 80 Milliarden erhöhen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob die untere Hälfte der Bevölkerung 5 Prozent der Belastung oder 2 Prozent der Belastung tragen wird. Möglich wäre sogar eine Entlastung einkommensschwacher Haushalte, wenn denn der politische Wille da wäre.
Damit die gestiegenen Kosten nicht einfach auf die große Mehrheit abgewälzt werden, könnte die Ampel problemlos den Heizkosten- und Coronazuschuss erhöhen sowie die Energiepreispauschale aufstocken und ausweiten. Wie bereits erwähnt, wäre das aufgrund der derzeitigen haushälterischen Freiheit auch gut machbar – und auch dringend notwendig, da die Preise schon seit Herbst ordentlich steigen und sich die haushälterischen Spielräume im kommenden Jahr aufgrund der Schuldenbremse und den ausbleibenden Steuererhöhungen wieder schließen werden. Sicherlich könnte man neue schaffen, dass dies geschieht ist jedoch eher unwahrscheinlich. Auch daher ist kaum auf grundlegende Reformen zur Entlastung zu hoffen.
Solche beherzten Reformen liegen seit Jahren auf dem Tisch und finden sich auch im Koalitionsvertrag der Ampel. Die Abschaffung von Hartz IV, die Kindergrundsicherung oder die Mindestlohnerhöhung sind im Interesse der unteren Einkommen. Ob diese noch eine einmalige Bezuschussungen erfordern, würde sich in der konkreten Ausgestaltung zeigen. Daneben könnte die Mittelschicht durch Steuersenkungen entlastet werden. Dazu bietet sich neben der Einkommensteuer, bei der man den Grundfreibetrag erhöhen könnte, auch die Mehrwertsteuer an. Letztere ist besonders regressiv, da sie vor allem diejenigen trifft, die einen hohen Anteil ihres Einkommens wieder ausgeben. Der Mehrwertsteuersatz auf Lebensmittel ließe sich komplett streichen, der ermäßigte Satz und auch der normale Satz ließen sich reduzieren.
All das ist mit der Ampel aber ausgeschlossen. Selbst minimalinvasive einmalige Maßnahmen, die die Kosten vollständig decken, sind unwahrscheinlich. Finanzpolitischer Stillstand war von der Ampel zwar zu erwarten, doch derzeit scheinen die Zeichen sogar auf Rückschritt zu stehen.
Lukas Scholle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag für Finanzpolitik und betreibt den Podcast Wirtschaftsfragen.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.