19. Juli 2023
Das heutige Schulsystem versagt nicht nur am eigenen Anspruch, alle fit für die Wirtschaft zu machen. Es verstärkt auch noch die Klassenspaltung.
»Die Schule bleibt für Kinder ein Gefängnis, solange sie nicht gerne hingehen.«
Illustration: Marie SchwabIst Herrin Eboshi aus Prinzessin Mononoke ein Bösewicht? Einerseits hat sie ehemalige Zwangsprostituierte und Leprakranke befreit und in die Gesellschaft ihrer kleinen Minenstadt integriert. Andererseits will sie den Gott des Waldes umbringen. In dieser Debatte in meinem Ethik-Unterricht in einer Reihe über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier sind Oskar und Maria vollen Herzens dabei. (Namen und Details sind selbstverständlich zwecks Datenschutz geändert.) Oskar will um jeden Preis den Wald beschützen, schließlich wäre der Tod des Waldgottes ziemlich apokalyptisch – wie der Klimawandel. Maria findet die Inklusion der Ausgegrenzten wichtiger; eigentlich will der Kaiser den Waldgott tot sehen, Herrin Eboshi versucht einfach, ihre Leute zu schützen. Endlich debattiert meine neunte Klasse über ernsthafte ethische Fragen – dann klingelt es. »Wir müssen nächste Woche weitermachen, jetzt ist Zeit für Mathe.«
»Können wir nicht bitte weiterdiskutieren? Dann nächste Woche zwei Stunden Mathe, versprochen!« will mich Oskar überzeugen. »So ist Schule halt«, muss ich verneinen. »Schule ist ein Gefängnis für Kinder!«, seufzt Oskar frustriert und wirft sein Mathe-Buch hin. Er hat den Förderstatus »emotional-soziale Entwicklung«, was einst »verhaltensauffällig« hieß. »Du hast recht, Oskar, und ich bin Dein Wärter. Setz Dich hin!« Meine gute Laune ist wieder verpufft. Die nächste Mathe-Stunde ist für Oskar eventuell versaut, dabei braucht er da am meisten Hilfe. Seine Mitarbeit in Ethik hilft ihm nicht bei der zentralen Prüfung in wenigen Monaten, die darüber entscheidet, ob er einen Schulabschluss bekommt oder nicht. Durchaus aber Algebra und Geometrie, die Hayao Miyazaki noch nicht in einem episch-historischen Anime fassbar gemacht hat.
Als ich später die Hofpause beaufsichtige, tagträume ich von einer anderen Fantasy-Welt – dem anarchistischen Planeten Anarres aus dem Roman Freie Geister von Ursula K. Le Guin. Dort sind die »Lernzentren« gänzlich nach den Wünschen der Lernenden organisiert. Sie gestalten die Kurse gemeinsam mit den Lehrenden oder entwickeln eigene Projekte, an denen sich die Erwachsenen manchmal, aber nicht immer, beteiligen. Die Rückmeldung der Lehrenden ist konstruktiv, am Lernziel orientiert und dient nicht zur Notenbildung. Wie lange und wann alles stattfindet, entscheiden die Beteiligten miteinander. In jedem Lernzentrum gibt es alle nötigen Räume und Einrichtungen, um alles lernen zu können, was man für das ganze Leben lernen möchte: Bibliotheken, Aulen und Labore, aber auch Holz-, Stoff- und Metallwerkstätten sowie Küchen. Im Mittelpunkt stehen nicht die Abschlüsse, sondern das Lernen.
Ich gönne mir für den Moment die Vorstellung von Lerngruppen, die alle freiwillig und zu selbstbestimmten Zeiten miteinander arbeiten. Meine Aufgaben müssten nicht den Formaten des Zentralabiturs entsprechen. Ich müsste niemanden zwingen, an Juni-Nachmittagen noch Grammatik zu pauken. Dann klingelt es wieder in der Lernfabrik und ich und die Kids schleppen uns zurück in die Klassenräume, um nach Plan und Schicht zu malochen.
Alle außer Henry, der einen Rollstuhl benutzt und mich zu sich hinüberwinkt. Der erst wenige Jahre alte Fahrstuhl ist schon wieder defekt. Henry wird heute wohl nicht in den Informatik-Raum kommen. Ich sprinte selber die Treppe hoch, um dem Kollegen Bescheid zu geben, dass er seinen Unterricht spontan umplanen muss, damit Henry zumindest am Laptop mitarbeiten kann – vorausgesetzt, es gibt irgendwo einen freien Raum und einen freien Laptop. Zugleich muss ich mich mit dem Problem auseinandersetzen, dass wir schon wieder kein Kopierpapier mehr haben. Um den verschiedenen Niveaus der nächsten Gruppe gerecht zu werden, habe ich einen Text über das Pflichtthema Demografischer Wandel mehrfach selber umgeschrieben. Ohne Papier werde ich wohl einen anderen Zugang zu diesem staublangweiligen Thema finden müssen.
»Die Politik des ›schlanken Staates‹ verschwendet das Lernpotenzial der Kinder und Jugendlichen.«
Ob man nun die Metapher Gefängnis (wie Oskar und Michel Foucault) oder Fabrik (wie ich und einige Schulreformer seit den 1970ern) bedienen will – Fakt ist: Die neoliberale Schule ist dafür da, möglichst »kosteneffizient« die Klassengesellschaft zu reproduzieren. Der Mythos der Meritokratie verschleiert, dass unser heutiges Schulsystem immer noch von Disziplinierung und Ausgrenzung geprägt ist. Und die Begünstigten dieser Scheinmeritokratie befürworten das System und blockieren Versuche, es zu reformieren, obwohl es gesamtgesellschaftlich ineffizient ist.
Die Politik des »schlanken Staates« verschwendet das Lernpotenzial der Kinder und Jugendlichen. Damit enthält sie der Demokratie effektiv mündige Bürgerinnen und Bürger und der Wirtschaft gut ausgebildete und produktive Arbeitskräfte vor, was im Generationentakt immer mehr politische und ökonomische Probleme verursacht. Dieselben politischen Kräfte, die das staatliche Spardiktat vertreten, geben vor, aus Deutschland eine »Wissensökonomie« machen zu wollen. Hier haben Mittel und Zweck nicht das Geringste miteinander zu tun. Und zu einer Gesellschaft der Freien und Gleichen führt uns diese Bildungspolitik schon gar nicht. Denn diese Gesellschaft beginnt in einer Schule, die zuvorderst dem Lernbedürfnis dient.
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Ryan Plocher ist Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln und aktives Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).