14. April 2020
Vor fünf Jahren feierten wir den Linksruck in Europa. Heute müssen wir erkennen, wie wenig erreicht wurde – und was vielleicht verloren ging.
Vor fünf Jahren überkam den britischen Journalisten Paul Mason eine unbändige Begeisterung.
Er stand auf dem Syntagma-Platz in Athen, umgeben von Tausenden griechischen Demonstrierenden. Sie sangen Lieder und skandierten Parolen aus den 1970ern – einer Zeit, in der das Land gegen die Diktatur kämpfte. Vor ihm stand Alexis Tsipras, der Leiter einer Regierung, die seit sechs Monaten im Amt war und sich in einem langwierigen Kampf mit den europäischen Behörden befand. Tsipras hatte sich für ein »Nein« beim Referendum am nächsten Tag eingesetzt, das als letzter Schritt in der festgefahrenen Situation mit der Eurogruppe und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) angesetzt war. Mason selbst hatte diese Ereignisse für die britischen Channel 4 News aus nächster Nähe verfolgt, seine Twitter-Follower auf dem Laufenden gehalten und mitreißende Kolumnen für den Guardian verfasst.
Mason war in seiner Begeisterung mitnichten allein. Jacobin veröffentlichte dutzende Artikel über das Drama. In einem Video vom Juli 2015 prognostizierte der US-amerikanische Anarchist David Graeber, Syriza werde »das internationale Finanzsystem zum Einsturz bringen«. Der allseits zur Revolte bereite Philosoph Toni Negri glaubte sogar, »ein wahrhaft soziales Europa« sei im Entstehen begriffen. In weniger als einer Woche hatten »Oxi«-Hashtags (griechisch für »Nein«) Twitter geflutet und zur Gründung der gleichnamigen Zeitung in Deutschland geführt. »Der Fall Griechenland«, wie Stathis Kouvelakis es 2016 ausdrückte, habe den Linken »einen Eindruck vermittelt, wie eine Alternative aussehen könnte«.
Aus heutiger Sicht fällt es leicht, diese Tage des Optimismus als naiv abzutun. Fünf Jahre später erscheinen Masons und Graebers Wogen der Begeisterung realitätsfern und parodistisch. Noch im selben Sommer stimmte Syriza einem Austeritätsabkommen zu, das noch einschneidender war als die Sparmaßnahmen die im Referendum abgelehnt wurden. Yanis Varoufakis bezeichnete den Vertrag als »das größte Desaster makroökonomischen Managements aller Zeiten«. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr wurde Syriza von Mitte-Rechts verdrängt.
Europas Experiment mit dem linken Populismus war nicht nur kurzlebig, es kam auch besonders schmerzlich zum Erliegen. Dieser Eindruck verstärkte sich zusätzlich durch eine Reihe weiterer Rückschläge. Podemos verlor bei den Parlamentswahlen 2019 etliche Stimmen und schaffte es dieses Jahr nur knapp und nach monatelangen Verhandlungen in die regierende Koalition mit den Sozialisten. In Frankreich erschütterten einbrechende Umfragewerte, Anti-Macron-Eskapaden und Wahlskandale die France Insoumise. Von Deutschlands linkspopulistischem Selbstversuch »Aufstehen« ist nicht viel mehr als eine Idee geblieben. Und jenseits des Ärmelkanals sind nach der Wahlniederlage vom Dezember auch alle Hoffnungen um Jeremy Corbyn geplatzt.
Die Ursprünge dieses flüchtigen linkspopulistischen Aufschwungs lassen sich beinahe ein Jahrzehnt zurückverfolgen. Obwohl die Krise 2008 ihren Anfang in den USA nahm, erreichten ihre Auswirkungen zeitnah auch Europa. Banken gerieten über riskante Kreditvergaben ins Wanken und wandten sich daraufhin hilfesuchend an die Regierungen. Und weil die Liquidität in der Finanzbranche gebunden war, entschlossen sich die meisten südeuropäischen Länder für strenge Sparmaßnahmen, die ihren öffentlichen Sektor zerschlugen.
»Populismus geriet nicht nur zum beliebtesten Modewort unter Expertinnen, er ließ auch eine neue Beratungsindustrie entstehen.«
Diese Maßnahmen wurden von den politischen Eliten nahezu einhellig akzeptiert — sowohl eingefleischte Konservative als auch Sozialdemokraten ordneten sich der neoliberalen Linie unter.
In einer ersten Reaktion strömten 2010 und 2011 in mehreren südeuropäischen Städten Menschenmassen auf die öffentlichen Plätze. Diese ungeführten Bewegungen – in Spanien als Indignados und in Griechenland als Aganaktismenoi bekannt geworden – befeuerten zwar die Fantasie der Bevölkerung, doch ihre Vorschläge für einen Weg in die Zukunft waren diffus. Der Aufruhr in Spanien etwa stützte sich auf spontane Zusammenkünfte von Studierenden und Arbeiterinnen, die in öffentlichen Lesungen zwar Zeugnis über die Krise ablegten, darüber hinaus jedoch keine konkreten Forderungen formulierten. In Griechenland steckten Demonstrierende einen Weihnachtsbaum in Brand und stürmten das Parlament – alles eindringliche Bekundungen der Unzufriedenheit, aber ohne ein Programm für einen politischen Wandel.
Die Grenzen, die sich das linke Spektrum mit dieser Taktik setzte, waren unübersehbar. Im Laufe des Jahres 2012 war deutlich geworden, dass den Indignados die Energie für weitere, spontane Proteste verloren gegangen war. »Die Krise ist nicht genug«, sagte ein Aktivist 2012, der von den antiinstitutionellen Neigungen der Proteste enttäuscht war. Denn ohne stabile Führung würde die Bewegung Demagoginnen und Zynikerinnen zum Opfer fallen.
Der europäische Linkspopulismus ging aus einem Moment der Neuorientierung hervor. Als man die Unbeständigkeit von Bewegungen wie Occupy begriffen hatte, kam man endlich zu der Erkenntnis, wieder auf Parteipolitik zu setzen und so die Macht im Staat anzustreben. Dieser Perspektivwechsel wurde im akademischen Raum und in wissenschaftlichen Publikationen aufmerksam verfolgt. »Populismus« geriet nicht nur zum beliebtesten Modewort unter Expertinnen, er ließ auch eine neue Beratungsindustrie entstehen. So wurden Wissenschaftlerinnen von Politikerinnen und Politiker zu Rate gezogen, um Handlungsempfehlungen zu entwickeln, die darauf abzielten populistische Strömungen einzudämmen.
Auf der anderen Seite der Barrikaden avancierte zur selben Zeit der argentinische Theoretiker Ernesto Laclau zum intellektuellen Aushängeschild von Syriza, Podemos und France Insoumise. Laclau verstarb zwar 2014, kurz bevor die populistische Welle ihren Höhepunkt erreichte, doch seine Referenzen waren tadellos: Er hatte Hugo Chávez nahegestanden und in den frühen 2000er Jahren offen Teile der Kirchner-Regierung unterstützt. Seit seiner Hinwendung zum Postmarxismus in den späten 1980er Jahren hatte Laclau die europäische Linke ermahnt, sich nicht ewig auf das angestaubte Konzept der »Klasse« zu berufen, sondern entlang einer neuen Achse in die Offensive zu gehen —»Volk« gegen die »Elite«.
Es herrschten günstige Voraussetzungen für den linkspopulistischen Aufstieg Laclaus. Europas Parteiendemokratie steuerte auf eine historische Krise zu. Das Scheitern der griechischen Sozialdemokraten (PASOK), den Euro-Diktaten eine Alternative entgegenzusetzen ist bezeichnend für diese Krise. Der Begriff der »Pasokisierung« veranschaulichte in diesem Kontext eine breiter zu beobachtende Tendenz. In den Jahren vor der Krise hatten sich die europäischen Parteien kontinuierlich von ihrer gesellschaftlichen Basis entfremdet und sich immer mehr auf PR- und Marketingtechniken verlassen. Zunehmende Sprunghaftigkeit, ein Machtzuwachs der Technokraten und die völlige Demobilisierung der arbeitenden Klasse waren die Folgen.
Die Tatsache, dass die Bürgerinnen und Bürger als erste Reaktion auf die Sparmaßnahmen 2011 spontan auf die Straße gingen, verdeutlichte, wie begrenzt ihr Handlungsspielraum war. Die Möglichkeiten beschränkten sich wahlweise auf das Referendum, den Aufstand oder wütende Facebook-Kommentare.
Die Aushöhlung der politischen Parteien Europas führen, wie der irische Politikwissenschaftler Peter Mair einmal treffend beschrieben hat, in einen Zustand, in dem die Parteien »die Leere beherrschen«. Europäische Politikerinnen und Politiker haben längst keine Vorstellung mehr davon, was für die Bevölkerung auf dem Spiel steht, und sie können nur noch mutmaßen, worauf ein erfolgreiches Programm aufbauen müsste. So kam es zum Bruch zwischen zwei Bereichen, die in der Nachkriegsgeschichte üblicherweise miteinander verbunden waren — die politischen Prozesse (»Politics«) und die politischen Felder (»Policy«).
Letztere lassen sich als komplexe Arbeit der staatlichen Aushandlung und technischen Anpassung verstehen: die Verhandlungsbasis, anhand derer Regierungen ihre Gesellschaften ordnen und in ihre Wirtschaftssysteme eingreifen. Erstere bezeichnen dagegen den Prozess, den Politikwissenschaftlerinnen als »Willensbildung der Öffentlichkeit« bezeichnen: der Wettstreit zwischen den Parteien, die Entwicklung von Kampagnen, das Ausstechen bei Wahlen und die Bildung von Koalitionen.
Die wachsende PR-Branche leistet hier Beistand. Statt auf die Bedürfnisse an der Basis zu hören oder den Diktaten des Parteiapparats zu gehorchen, verlassen sich Politikerinnen und Politiker immer mehr auf eine Armee von Image- und PR-Beraterinnen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Schon in den 1980ern und 90ern wurde dieser Prozess von den neuen Mediengurus wie Alastair Campbell prophezeit.
Nach dem Vertrag von Maastricht 1992 und der Konsolidierung der einheitlichen Währung wurde die »Policy« Europas zum alleinigen Zuständigkeitsbereich von nichtgewählten Kräften — Institutionen wie der Eurogruppe, der europäischen Kommission, der Welthandelsorganisation und den Zentralbanken, allesamt personell besetzt von neoliberalen Blendern. Der Bereich der »Politics« wurde im Gegenzug in die Sphäre der Medien verbannt, die von Trends und Neuheiten besessen ist. Mit gewissen Hoffnungen blickte man dabei der Verbreitung des Internet entgegen, das als mediale Ergänzung mit seinem frühen demokratisierenden Versprechen hinzutrat. Von dieser lang herbeigesehnten, emanzipierten Zivilgesellschaft träumten die liberalen Kreise der 1980er, als Denker wie Foucault und Lyotard für die »Erschließung und Vermehrung neuer Diskurse« plädierten.
Die Ergebnisse waren alles andere als emanzipatorisch. Die Zerstörung kollektiver Institutionen in den 1980ern — begonnen bei Thatchers Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung und Mitterands Entkernung der Kommunistischen Partei Frankreichs, ebenso erkennbar in der rapide alternden Mitgliedschaft der konservativen Parteien — legte neue, düstere Formen der Kollektivität frei. So hatte sich ein besonders aufdringlicher Ethnonationalismus, befeuert durch die Feedbackschleifen eines anarchischen Internets und einer versierten Neuen Rechten, herausgebildet.
»Der Linkspopulismus wollte zusammenführen, was sich nicht zusammenführen lässt — zu ›links‹, um vom Zerfall des traditionellen Parteiensystems vollends zu profitieren und zu ›populistisch‹, um die entscheidenden organisatorischen Fragen zu beantworten.«
Hinzu kam, dass die unbestreitbare Erosion der staatlichen Hoheitsgewalt in Europa populistische Reaktionen von links wie rechts provozierte. Die Populistinnen und Populisten des rechten Flügels legten ihren Fokus vor allem auf eine Rekalibrierung der nationalen Souveränität: Matteo Salvini, Viktor Orbán und Marine Le Pen versprechen, wieder ein Grenzregime mit darauf aufbauenden Strafmaßnahmen einzusetzen. Die linken Populistinnen und Populisten dagegen wollen vorrangig die Volkssouveränität gegenüber der nationalen Souveränität verteidigen und bemühen sich um die Wiederherstellung sozialer Sicherheitsnetze und demokratischer Organe, die in den neoliberalen 1990ern verloren gingen.
Anders als zu Zeiten der Massenparteien war dieser neue Linkspopulismus auf ein Sammelsurium unterschiedlicher Gruppen verteilt. Auf der einen Seite stand die alternde, arbeitenden Klasse, die hart von der Rezession in Südeuropa getroffen worden war, und die sich der Idee eines nationalen Wohlfahrtsstaates traditionell verbunden fühlte. Seit der Aushöhlung der kommunistischen Parteien hatte sie entweder gänzlich aufgehört zu wählen oder war von neuen nationalistischen Gruppierungen geködert worden, wie von UKIP, dem Front National, Vlaams Belang und der Lega Nord.
Politiker wie Jean-Luc Mélenchon und Pablo Iglesias haben stets ihr Anliegen verlautbart, diese Wählerschaft zurück in den linken Flügel holen zu wollen. Das war zumindest Parolen wie Mélenchons »fâchés mais pas fachos« (»verärgert, aber nicht faschistisch«) zu entnehmen und spiegelte sich auch in Íñigo Errejón und Iglesias Bestreben wieder, einen Weg »jenseits von links und rechts« beschreiten zu wollen. Auch die populistischen Theoretikerinnen und Theoretiker waren geneigt, hier die Führung zu übernehmen. Laclau-Kollaborateurin Chantal Mouffe zeigt sich schon immer unbeirrbar, wenn es um die Notwendigkeit geht, den »vernünftigen Kern« des rechten Populismus anzuerkennen. Statt seine Wählergruppe als »traurige Subjekte« abzutun, die einer Therapie bedürfen, schlägt sie eine Strategie vor, in der die Kräfte gesammelt werden: Sollte es der Linken nicht gelingen, diese Wählerschaft zurück in ihr Lager zu holen, so könne sie auch nicht gewinnen.
Botschaften wie diese ließen sich nicht immer leicht verkaufen. Die größte Skepsis regte sich innerhalb einer anderen Gruppe linkspopulistischer Wählerinnen — den jungen Berufstätigen. Hochgebildet, vernetzt und webaffin sind die meisten direkt nach ihrem Universitätsabschluss in den angespannten Arbeitsmarkt der 2010er eingetreten. Viele landeten in einem Dienstleistungsjob. Zusammen mit einer neuen internetfähigen Öffentlichkeit und befreit von den Fesseln der »alten Medien« waren die meisten bereit zur Radikalisierung. Als Tsipras 2015 gewählt wurde, konnte er nicht weniger als 30 Prozent der griechischen Jugend zu seinen Unterstützerinnen zählen.
Doch ihre kulturelle Weltsicht passte nicht immer mit der älteren Arbeiterinnenbasis zusammen, auf die der Linkspopulismus abzielte. Erkennbar wurde dies in Corbyns Labour-Partei, als deren labile Koalition aus nordenglischen Industriearbeitenden und südenglischen, kosmopolitischen Millennials in der Brexit-Abstimmung zerfiel. Ein ähnlicher Bruch ging durch weite Teile Kontinentaleuropas. Wie der Historiker Adam Tooze anmerkte, hatte dort die Europäische Union »einer beträchtlichen Kohorte von gebildeten, mittelständischen und berufstätigen Europäerinnen eine Stimme gegeben«, genauso wie auch »ihren wütenden und enttäuschten jüngeren Geschwistern, Cousinen und Cousins etc.« Die Abtrennung von der älteren Schicht der arbeitenden Klasse einerseits und die fehlende Parteiinfrastruktur andererseits machten es beinahe unmöglich, eine mehrheitliche Wählerschaft zusammenzuführen.
Es ist am Ende keine Überraschung, dass die Linkspopulistinnen, denen es gelungen ist, politisch weiterhin fortzubestehen, in traditionellen linken Parteien aktiv sind. Die Labour-Partei unter Corbyn etwa hat intern auf eine populistische Dynamik gesetzt, um die Moderaten und Blair-Anhängerinnen ruhigzustellen, die im Weg stehen könnten. Dasselbe gilt für die Partei der Arbeit Belgiens, die sich zu einer Art Massenvertretung der Gewerkschaftspolitik des Landes entwickelt hat.
Linkspopulistinnen haben immer betont, dass sie nie als politisches Allheilmittel betrachtet werden sollten. Syriza sollte nicht auf magische Weise die Volkswirtschaft eines gesamten Kontinents neu ordnen. »Wie viele Divisionen hat der Papst?«, fragte Pablo Iglesias kurz nachdem Tsipras abgetreten war und betonte damit, dass die Aufgabe nicht alleine geschultert werden könne. Trotz alledem bleibt ein Gefühl der Ernüchterung zurück, wenn vom Linkspopulismus gesprochen wird. Er hat es nicht geschafft, seine Versprechen einzulösen, wie sich auch in den jüngsten Wahlschlappen für Die Linke, Podemos und France Insoumise zeigt.
In gewisser Weise wollte der Linkspopulismus zusammenführen, was sich nicht zusammenführen lässt — zu »links«, um vom Zerfall des traditionellen Parteiensystems vollends zu profitieren und zu »populistisch«, um die entscheidenden Fragen zu beantworten. Parteien wie etwa die Fünf-Sterne-Bewegung waren gerne bereit, die Teilung in links und rechts hinter sich zu lassen und die Funktion eines Sammelbeckens einzunehmen. Dagegen wurde Podemos immer wieder zurück zur eigenen extrem linken Vergangenheit gezerrt und von der Opposition als »kommunistisch« angeprangert.
Unterdessen hat das im Sog des Neoliberalismus entstandene, desorganisierte Gemeinwesen immer neue, schwer fassbare Formen des Protests hervorgebracht, zu denen der europäische Linkspopulismus offenbar nur schwer aufschließen kann. Diese reichen von den Gelbwesten in Frankreich über die Brexit-Entscheidung bis hin zum Aufstieg einer neuen Nationalistischen Internationale. Begleitet wird all dies auch weiterhin vom zähen Überleben (und manchmal sogar der Rückkehr) der Sozialdemokratie in Spanien und Portugal. Traditionelle Parteipolitik, so scheint es, ist nicht totzukriegen.
So kam es zu einem Überhang an rechten Herausforderinnen, die es schneller geschafft haben, sich für die nächste Runde wieder aufzustellen. Salvini etwa von der italienischen Lega ist dieser Tage einer der mächtigsten Politiker Europas. Sein Geniestreich war die Vereinigung einer bestehenden regionalistischen Partei — in den 1990ern gegründet, um die »Blutegel« aus dem Süden abzuwehren — mit einem neuen digitalen Arsenal. Letzteres war auf Clicks, Shares und Soundbites ausgerichtet.
Nicht weniger als 3 Millionen Follower erhalten auf Facebook täglich Updates von Salvini und auf Twitter wurde »Matteo« zum Phänomen. Statt aus dem Nichts eine Partei herbeizuzaubern, hat Salvini — wie Corbyn — einfach eine vorhandene Struktur gekapert und für seinen Kreuzzug angeschirrt. Und das hat sich ausgezahlt. So gelang es Salvini, sowohl die Stammwählerschaft durch eine Massenmobilisierung hinter sich zu bringen, als auch seine neuen »Follower« aus dem Süden des Landes anzuziehen.
Den linken Populistinnen stehen meistens keine solchen Sturmböcke zur Verfügung. Ohne solide Parteistrukturen, über die ein beträchtlicher Teil der Öffentlichkeit gebunden werden kann, besteht die Gefahr des »Pop-up-Populismus«, in dem eine Partei ohne Basis agiert – ein Spiegelbild des Occupy-Problems von der Basis ohne Partei.
Rechtspopulistische Pläne à la Salvini werden sich stets leichter ausführen lassen, weil sie letztlich nicht anti-systemisch sind. Im Kern verlangen sie wenig mehr als eine kosmetische Korrektur der europäischen Schuldengrenzen und gelegentliches kulturelles Gehabe über »die Verteidigung westlicher Werte«. Was die Migration anbelangt, gibt es nicht viel, worin Angela Merkel und Salvini verschiedener Ansicht wären, außer wenn es um die Verteilung der finanziellen Belastung geht.
Der Linkspopulismus strebt aber nach mehr als nur dem ganzen Kuchen. Er will gleich die gesamte Bäckerei in Beschlag nehmen — eine tiefgreifende Umstrukturierung der Eurozone, eine Abkehr von der Sparpolitik und ein ambitionierter Ausbau der Sozialleistungen. Dafür bräuchte es den zeitlich perfekt abgestimmten Aufstieg einer Reihe von linkspopulistischen Bewegungen in Domino-artiger Aufstellung; Varoufakis versucht gegenwärtige auf supranationaler Ebene mit der »Democracy in Europe Movement 2025« (DiEM25) dafür den Anstoß zu geben. Der rechte Populismus benötigt solche Ambitionen nicht. Stattdessen entfacht er Kulturkriege und attackiert die Irrationalität der Europäischen Zentralbank.
»Der neue Populismus setzt nicht auf Masse. Er ist die Politik eines Schwarms. Schwärme streunen, wüten, schreien, und sind schließlich nur noch als monotones Surren vernehmbar.«
Die Bedrohung, die von diesen Figuren ausgeht, lässt sich nicht leugnen. Salvini, Orbán, Le Pen und Thierry Baudet sehen sich alle nicht der Verteidigung grundlegender Freiheiten verpflichtet. Doch Panik ist keine Analyse. Diese rechten Populistinnen müssen ernstgenommen werden – als Akteurinnen in den Wahlen genau wie als intellektuelle Gegenspielerinnen, die sich in neues politisches Terrain begeben. Bereits im Jahr 2002 erkannte Slavoj Žižek, den »tragischen Umstand, dass die einzige ernsthafte politische Kraft, die aktuell ›lebendig‹ ist, die neue populistische Rechte ist.« »Außer der kraftlosen Wirtschaftsverwaltung«, bemerkte er, läge die »Hauptaufgabe« des heutigen Liberalismus darin, »zu garantieren, das in der Politik nichts wirklich passieren werde«, während »die populistische Rechte heute agiert, das Tempo bestimmt und die Themen der politischen Auseinandersetzung vorgibt, indem die liberale Mitte zu einer ›reaktiven Kraft‹ verkümmert.« Beinahe zwei Jahrzehnte später ist sein Urteil immer noch von schmerzlicher Aktualität.
Auch nach 2002 sind Kommentatoren dazu geneigt, unser politisches Zeitalter durch ältere analytische Prismen zu betrachten. Aber wir sind nicht mehr in den 1930ern. Die Revolution steht nicht auf der Tagesordnung, auch kein Weltkrieg. Der vielleicht wichtigste Faktor begründet sich in der praktischen Abwesenheit einer mobilisierten Bürgerschaft. In den 1930er wie in den 1790er Jahren waren die Massen in Bewegung, kämpften in Kriegen, bestritten Wahlen und bevölkerten den öffentlichen Raum.
Es ist eine ernste Frage, ob diese »Massen« heute noch existieren. Das Internet hat das traditionelle, soziale Umfeld zersplittert und gleichzeitig neue Formen des Zusammenschlusses ermöglicht. Es hat jedoch auch die Möglichkeit einer Mobilisierung der Massen schwinden lassen und der Politik eine befremdliche Sprunghaftigkeit verliehen. Im März 2019 postete Mason einen Kommentar in seinem Twitter-Feed mit der Behauptung, der Brexit-Prozess, der zuvor noch durch eine erneute Ablehnung im Parlament erschüttert wurde, läge »nun in den Händen der Massen«.
Die sonderbare Eigenart dieser Feststellung spricht Bände über den aktuellen Zustand des Populismus. Die Populistinnen und Populisten der Gegenwart, wie Boris Johnson, Salvini oder Orbán, verfügen vielleicht über Follower und Sympathisierende. Doch über die Massen verfügen sie nicht. Massen können sich bewegen, marschieren, skandieren und kämpfen. Nichts davon ist dieser Tage zu vermerken.
Der neue Populismus setzt nicht auf Masse. Er ist vielmehr die Politik eines Schwarms. Schwärme streunen, wüten, schreien, und sind schließlich nur noch als monotones Surren vernehmbar. Ihre Bewegungen werden nicht von Parteitribunen gesteuert, sondern von »Hyper-Anführerinnen«, wie Paolo Gerbaudo sie genannt hat: Akteurinnen, deren Medienpräsenz ihrer Koalition einen Zusammenhalt gibt, wo es sonst keinen gäbe. Es gibt keinen Trumpismus ohne Trump.
Den vielleicht eindringlichsten Präzedenzfall für diese Ausgangslage kann man Karl Marx’ Lesart der Revolution von 1848 entnehmen. Am Anfang jenes Jahres hatten Krawalle durch Paris gewütet, angefacht durch eine Hungerkrise, die auf das Einkommen der städtischen Arbeiterinnen und Arbeiter drückte. Anstatt sich aber diesen Unruhen zu beugen, scharte Napoleon III. eine apathische Landbevölkerung zusammen und befahl ihr, die Revolte zu zerschlagen.
In unvergesslicher Weise beschrieb Marx die französischen Bauern als einen »Sack von Kartoffeln«, einen zusammengeworfenen Haufen, für den »die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinschaft, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation… erzeugt«. Diese Bauern »können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden« — in diesem Fall durch den König.
Genau dieser Druck von oben nach unten ist es, um den sich einige Linkspopulistinnen und Linkspopulisten auch für unser Zeitalter bemühten. Eine desorganisierte Gesellschaft muss vielleicht von oben wachgerüttelt werden.
Corbyn und sein Schatten-Vize John McDonnell hatten zum Beispiel klargemacht, dass ihre Hauptziele »vorpolitisch« waren: Man wollte Wege der Organisation eröffnen, die von dreißig Jahren neoliberaler Zersetzung zunichte gemacht worden waren. Dazu gehörte, gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung aufzuheben, die Gewerkschaftsmitgliedschaft zur Pflicht zu machen und den Beschäftigten Anteile an ihren Unternehmen zu geben.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Taktik ohne Erschütterungen verwirklichen lässt. Die Geschichte verläuft nicht geradlinig. Selbst »viele korporatistische Arrangements«, schrieb der Historiker Loren Goldner einst, »wurden vor Jahrzehnten von Arbeiterinnen und Arbeitern errichtet, die willens waren, das Gesetz zu brechen.« Doch die parlamentarische Arbeit bleibt von entscheidender Wichtigkeit. Den britischen Staat zu modernisieren und von seinen aristokratischen Überresten zu befreien wäre die erste Aufgabe einer linken Regierung. Dies erst würde eine Wiederherstellung des öffentlichen Raums für die arbeitende Klasse möglich machen.
Wäre das einmal erreicht, könnte endlich wieder Politik gemacht werden. Und Populismus oder Technokratie erschienen nicht mehr als die einzig denkbaren Alternativen.
Anton Jäger ist Doktorand an der Universität Cambridge.
Anton Jäger ist Ideenhistoriker und Autor des Buches »Hyperpolitik: Extreme Politisierung ohne politische Folgen« (Suhrkamp 2023).