14. Oktober 2022
Die Wahrscheinlichkeit, dass Putin in der Ukraine Atomwaffen einsetzen wird, ist gering – wächst aber. Umso wichtiger, jetzt nukleare Abrüstung zu fordern und nicht in blinden Alarmismus zu verfallen.
Putin in seiner Residenz in Sotschi, 28. September 2022.
IMAGO / ITAR-TASSWie hoch ist das Risiko, dass Russland in der Ukraine Atomwaffen einsetzt? Kommentatorinnen und Kommentatoren, die eine härtere militärische Konfrontation mit Russland einfordern, schätzen die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation tendenziell als sehr gering ein – so gering, dass man sich über die russischen Drohgebärden im Prinzip gar keine Gedanken machen müsse. Andere, auch aufseiten der Linken, argumentieren hingegen, dass die Gefahr erschreckend groß sei – so groß, dass ihre Abwendung gegenüber dem Kampf der Ukraine gegen ihren imperialen Besatzer den Vorrang einnehmen sollte.
Beide Argumentationen sind teilweise richtig und teilweise falsch. Die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes in der Ukraine ist so greifbar, dass der Geschäftsführer der US-amerikanischen NGO Arms Control Association, Daryl Kimball, davon sprach, die derzeitige Lage sei »eine der, wenn nicht sogar die ernstzunehmendste Episode der letzten Jahrzehnte, bei der Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten«. Dass es so weit kommen wird, halten die meisten Expertinnen und Experten dennoch für unwahrscheinlich. Ist das nicht widersprüchlich?
Eigentlich nicht. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes gering ist, so ist sie im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten dennoch gestiegen, was durchaus beunruhigend ist. Man kann zu dem Schluss kommen, dass die Zündung einer Atomwaffe nicht sehr wahrscheinlich ist, und dennoch über die katastrophalen Folgen einer atomaren Eskalation besorgt sein. Man kann durch die jüngsten Entwicklungen beunruhigt sein und gleichzeitig anerkennen, dass eine nukleare Krise nicht unmittelbar bevorsteht. Man muss nicht zwangsläufig in Verleugnung oder Alarmismus verfallen.
Im Folgenden werde ich das nukleare Risiko zum gegenwärtigen Zeitpunkt skizzieren. Bei einer derart komplexen Lage lässt sich die Wahrscheinlichkeit nicht numerisch beziffern, dennoch steht am Ende die Bilanz eines geringen, aber steigenden Risikos. Gleichzeitig ist es wichtig, anzuerkennen, dass auch diese Einschätzung begrenzt und unsicher ist. Um in den kommenden Jahren eine wirksame Politik der Abrüstung verfolgen zu können, wird daher analytische Nüchternheit gefragt sein.
Die meisten Expertinnen und Experten schätzen das Risiko eines Einsatzes nuklearer Waffen in der Ukraine nach wie vor als gering ein – das ist die gute Nachricht. Trotz mehrerer schwerer Krisen hält sich das Atomwaffen-Tabu seit mehr als 75 Jahren.
Sollte Wladimir Putin dieses Tabu brechen, würde ihm eine internationale Empörung entgegenschlagen, die die (keineswegs allseitige) Verurteilung seines Angriffs auf die Ukraine in den Schatten stellen würde. Die Neutralität der Regierungen des Globalen Südens – die die nukleare Abrüstung in der Regel unterstützen – könnte dann in eine offene Ablehnung von Putins Krieg umschlagen. Putin könnte auch Chinas Rückendeckung verlieren, da sich das Land seit seinem ersten Atomwaffentest im Jahr 1964 dem Verzicht auf den Ersteinsatz verschrieben hat. Innenpolitisch würde der Einsatz nuklearer Waffen den Krieg als noch unvertretbarer erscheinen lassen und die russische Antikriegsbewegung stärken.
»Wenn wir eine andere Zukunft aufbauen wollen, müssen wir uns für die kommenden Jahre wappnen. Sich in Alarmismus zu verausgaben, bringt uns keinen Schritt weiter – und führt am Ende zu politischer Paralyse.«
Es ist außerdem extrem unwahrscheinlich, dass Putin ohne jede Vorwarnung eine Atomwaffe zünden würde. Die USA verfügen über nachrichtendienstliche Quellen in der russischen Regierung und würden vermutlich von einem Nukleareinsatz erfahren, bevor er beginnt. (Die USA nutzen außerdem Spionagesatelliten, die Anzeichen für die Vorbereitung eines Atomwaffeneinsatzes ermitteln können.) Im Vorfeld der Invasion der Ukraine gab die Biden-Regierung Geheimdienstinformationen frei, um die Putins Pläne öffentlich zu machen. Würden die USA feststellten, dass Russland ernsthaft in Erwägung zieht, nukleare Waffen einzusetzen, würden sie die Weltöffentlichkeit darüber informieren, um Putin dazu zu drängen, doch noch einzulenken. Berichten zufolge gibt es aktuell keine Anzeichen dafür, dass Russland ernsthafte Schritte unternimmt, um Atomwaffen einzusetzen.
Bevor es dazu kommt, würde wahrscheinlich zunächst eine ganze Reihe anderer Eskalationen erfolgen. Auch wenn eine Eskalation nie begrüßenswert ist, so ist jede weitere Stufe als Alarmsignal zu deuten, das den betroffenen Parteien (und der Weltöffentlichkeit) vermitteln soll, dass die Risiken steigen und eine weitere Eskalation vermieden werden muss. In anderen Worten: Es ist keine Notwendigkeit, die Leiter immer weiter heraufzusteigen. Jede Eskalationsstufe bietet auch die Möglichkeit, eine Deeskalation anzustrengen (wobei natürlich viel davon abhängt, ob man diese auch wirksam einfordern kann). Wir müssen die Lage aufmerksam beobachten, dennoch sollten wir jetzt nicht in Panik verfallen.
Es ist ermutigend, dass die Biden-Regierung angesichts der Spannung zwischen der Unterstützung der Ukraine einerseits und dem Risiko einer nuklearen Konfrontation mit Russland andererseits bislang recht zurückhaltend agiert hat. Die Regierung hat den Forderungen nach einer Flugverbotszone nicht nachgegeben, die Entsendung von Truppen in die Ukraine abgelehnt und sich geweigert, Putins nukleare Drohung mit einer eigenen Drohung zu erwidern – eine kluge Entscheidung, die offenbar bei einigen anonymen Atomwaffen-Fans innerhalb der Militär- und Geheimdienstapparate für Verärgerung gesorgt hat. Um es mit den Worten Franklin D. Roosevelts zu sagen: Biden sollte ihren Hass begrüßen. Ein nuklearer Konflikt ist keine Zeit für Macho-Posen.
Das Gesamtrisiko ist zwar gering, scheint aber zu steigen – das ist die schlechte Nachricht. Putin hat auf die ukrainischen Erfolge mit immer verzweifelteren Maßnahmen reagiert. Zwei davon, die Mobilmachung und die Annexionen, wirken sich auf die nukleare Bedrohung besonders besorgniserregend aus.
Die »Teilmobilimachung« beweist, dass der Krieg für Russland schlecht läuft. Das ist einerseits eine gute Sache, denn militärischer Erfolg seitens der Ukraine ist einer von wenigen Faktoren, die Russland dazu bewegen könnten, über ein Ende des Krieges zu verhandeln. Andererseits herrscht unter Nuklearexpertinnen und -experten der Konsens, dass militärische Verluste Russlands zugleich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Putin zu Atomwaffen greift.
Wenn sich die Situation für Russland zuspitzt, könnte Putin Atomwaffen als das einzige Mittel betrachten, um militärisch die Oberhand zu gewinnen. Er könnte zunächst einen »Warnschuss« auf dünn besiedeltes Gebiet abfeuern oder eine taktische Nuklearwaffe zünden, um zu verhindern, dass die ukrainischen Streitkräfte weiter vordringen. Jedes dieser Szenarien wäre eine Katastrophe.
Auch die Annexion von vier Regionen der Ukraine – von denen Russland keine einzige vollständig kontrolliert – ist ein Zeichen der Verzweiflung. In den vergangenen Wochen hat Putin illegale Scheinrefernden durchgeführt, um Teile der Ukraine an Russland anzugliedern. Während sein Krieg scheitert, versucht er auf diese Weise wahrscheinlich, den Anschein eines Sieges zu erwecken, um den Krieg zu Bedingungen zu beenden, die seinen Wählerinnen und Wählern akzeptabel erscheinen.
Das Risiko des Einsatzes nuklearer Waffen steigt dadurch, weil die annektierten Gebiete als »Teil von Russland« mit solchen Waffen verteidigt werden könnten. Der ehemalige russische Präsident und Putin-Vertraute Dmitri Medwedew, der in letzter Zeit vor allem als nuklearer Scharfmacher der Regierung aufgetreten ist, hat genau das im September öffentlich betont. Medwedews Äußerungen wären weniger alarmierend, hätte Putin in der berüchtigten Rede, in der er die Teilmobilmachung ankündigte, nicht wiederholt unterstrichen, dass er bereit ist, die »territoriale Integrität« Russlands mit »allen zur Verfügung stehenden Waffensystemen« zu verteidigen.
Man muss ganz klar dazu sagen, dass das nicht die offizielle Linie der russischen Politik ist. Diese besagt nach wie vor, dass Atomwaffen nur dann zum Einsatz kommen, wenn der russische Staat (nicht sein Territorium) existenziell bedroht ist. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob sich Putin angesichts der nachlassenden Kriegsanstrengungen absichtlich ambivalent ausdrücken könnte.
Man stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Die ukrainischen Streitkräfte versuchen (zu Recht), einige oder alle von Russland annektierten Regionen zurückzuerobern. Sie gewinnen die Oberhand und drängen die russischen Truppen in eine scheinbar aussichtslose Situation. Würde Putin das als eine Bedrohung der territorialen Integrität Russlands interpretieren? Ausgeschlossen ist das nicht – und er hat bereits im Vorfeld einen Vorwand für den Einsatz von Atomwaffen konstruiert, was besonders besorgniserregend ist. Damit ist noch nicht gesagt, dass er das auch tun wird – aber es ist nicht gerade beruhigend, dass Putin kürzlich verkündete, die USA hätten mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki 1945 einen »Präzedenzfall« geschaffen.
Ein niedriges, aber steigendes Risiko – das scheint mir eine empirisch fundierte Einschätzung zu sein. Gleichzeitig muss man anerkennen, dass bezüglich der Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs in der Ukraine vieles ungewiss bleibt. Wir können bekannte Entwicklungen danach bewerten, ob sie das Risiko steigern oder senken – das ist schön und gut. Aber wir sollten uns unserer Prognosen nicht zu sicher sein und anerkennen, dass es daneben auch »bekannte Unbekannte« gibt.
Zum einen ist die Theorie der nuklearen Abschreckung teilweise spekulativ. Zur Wahrheit gehört, dass wir kaum Datenpunkte haben, die Aufschluss darüber geben, was einen Staat oder eine Person dazu treiben könnte, in einem Krieg Atomwaffen einzusetzen. Die Abschreckungstheorie ist damit nicht hinfällig – aber ein akademisches Gedankenexperiment wird sich niemals direkt auf einen Konflikt in der realen Welt übertragen lassen. Ebenso wenig wird eine aktuelle Entwicklung ganz analog zu einem historischen Ereignis verlaufen. Wir sollten uns davor hüten, das Quadrat der Gegenwart in den Kreis der Vergangenheit zu zwängen. Nur die Kubakrise ist die Kubakrise.
Zum anderen ist Putin selbst ein ungewisser Faktor. Nach Jahren in der Corona-Isolation, in der er sich nur von einer kleinen Gruppe von Leuten beraten lassen hat, die ihm aller Wahrscheinlichkeit nach alle nach dem Mund reden, ist der Putin von heute vielleicht ein anderer als der Putin von vor fünf oder zehn Jahren. Die Invasion selbst könnte bereits als Beweis für eine Verschiebung gewertet werden. Sie war dürftig geplant, schlecht ausgeführt und – zumindest oberflächlich betrachtet – strategisch dumm. Putin hat die Erweiterung der NATO immer wieder abgelehnt, gleichzeitig hat seine Invasion der Ukraine dazu geführt, dass Schweden und Finnland dem Militärbündnis beigetreten sind. Der Krieg hat Russlands Wirtschaft in eine Rezession gestürzt, die Beziehungen zu seinen Verbündeten belastet und eine inländische Antikriegsbewegung entstehen lassen, die nach der Teilmobilisierung größer zu werden scheint. Die Entscheidung zur Invasion scheint keinen rationalen Erwägungen zu folgen.
Bedeutet das, dass Putin einfach verrückt geworden ist? Ganz und gar nicht. Kommentatoren haben überzeugend dargelegt, welche Logik dieser unmoralischen Invasion zugrunde liegt. Es ist anzunehmen, dass Putin immer noch ein mehr oder weniger rationaler Akteur ist, ähnlich wie Kim Jong-un oder andere Autokraten, die im Besitz von Atomwaffen sind. Aber nur weil jemand im Großen und Ganzen rational agiert, bedeutet das nicht, dass dieselbe Person nicht dennoch (zunehmend) bedenken- und rücksichtslos reagieren könnte. Putins jüngste Aktionen werfen Fragen darüber auf, wie er vorgehen würde, wenn er vor der Entscheidung stünde, sich zurückzunehmen oder weiter zu eskalieren. In einer solchen Situation könnte ein bisschen mehr oder weniger Irrationalität den entscheidenden Unterschied machen.
Die kommenden Jahrzehnten werden eine Zeit wachsender nuklearer Bedrohung sein. Die Streitkräfte werden modernisiert, die Arsenale werden vergrößert, und die Großmächte stehen im Konkurrenzkampf. Der Ukraine-Krieg wird wahrscheinlich nur der erste von vielen Konflikten sein, in denen Atomwaffen eine Rolle spielen.
Es ist richtig, über diese neue Weltordnung beunruhigt – ja sogar verängstigt – zu sein. Mit Angst zu reagieren, ist weitaus logischer, als die realen Risiken zu leugnen. Wenn wir eine andere Zukunft aufbauen wollen, müssen wir uns für die kommenden Jahre wappnen. Sich in Alarmismus zu verausgaben, bringt uns keinen Schritt weiter – und führt am Ende zu politischer Paralyse.
Stattdessen müssen wir die nuklearen Risiken nüchtern und klar bewerten. Wahre Objektivität mag unerreichbar sein, aber eine einigermaßen akkurate Einschätzung der gegenwärtigen Lage ist notwendig, um den Weg zu einem prinzipientreuen Internationalismus und einer atomwaffenfreien Welt zu ebnen.
John Carl Baker ist ein leitender Programmbeauftragter der Stiftung Ploughshares Fund, die sich für die atomare Abrüstung einsetzt. Er hat unter anderem im Bulletin of the Atomic Scientists, in der New Republic und in Defense One publiziert.