23. Mai 2023
Bei der Stichwahl in der Türkei könnte der Autokrat Erdoğan von seinem bürgerlichen Kontrahenten Kılıçdaroğlu verdrängt werden – der wiederum geht gerade auf Tuchfühlung mit Rechtsnationalisten. Was das für die türkische Linke bedeutet, erklärt Perihan Koca im JACOBIN-Interview.
Perihan Koca von der TÖP wurde auf der Liste der Grünen Linkspartei in der Provinz Mersin zur Parlamentsabgeordneten gewählt.
Die türkischen Parlamentswahlen vom 14. Mai wurden weithin als die wichtigsten in der jüngeren Geschichte des Landes betrachtet – denn abgestimmt wurde nicht nur über die künftige Regierung. Die Türkei gab gleichzeitig auch ihr Votum über das aktuelle politische System und seinen Architekten ab, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der seit zwei Jahrzehnten an der Macht ist. Nach einem ungewöhnlichen kurzen Wahlkampf, der von Repression und staatlicher Zensur geprägt war, lag die Wahlbeteiligung bei nahezu 90 Prozent.
Erdoğan erhielt 49,5 Prozent der Stimmen, während sein Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), der für eine Gewaltenteilung, ein Ende der Autokratie, eine Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit und einem parlamentarischen System eintrat, nur 44,9 Prozent erhielt und damit hinter den Prognosen zurückblieb. Dies verschafft Erdoğan eine günstige Ausgangsposition für die bevorstehende Stichwahl, die für den 28. Mai angesetzt ist.
Darüber hinaus erhielt die Volksallianz, eine Koalition aus Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und rechtsextremen nationalistischen und religiösen Parteien, eine parlamentarische Mehrheit. Das fortschrittliche Bündnis für Arbeit und Gerechtigkeit unter Führung der Grünen Linkspartei (YSP), die als Ersatz für die vom Parteienverbot bedrohte Demokratische Partei der Völker (HDP) einstand, konnte hingegen nur 10 Prozent der Stimmen für sich gewinnen.
Doch auch wenn Erdoğans Ergebnis besser als erwartet ausfiel, bedeutet sein Scheitern an der 50-Prozent-Marke, dass die türkische Opposition am kommenden Wochenende eine weitere Chance hat, ihn zu stürzen. Was bedeutet das für die sozialistischen Parteien im Land?
Perihan Koca, ein führendes Mitglied der Partei für soziale Freiheit (TÖP), die auf der Liste der Grünen Linkspartei zur Parlamentsabgeordneten der südlichen Provinz Mersin gewählt wurde, sprach mit JACOBIN über die Stellung des Linksbündnisses in der kommenden Stichwahl und Perspektiven für die Linke in der Zeit danach – mit oder ohne Erdoğan.
Zunächst würde mich Deine Einschätzung des Wahlergebnisses interessieren. Welches Bild zeichnet sich bei den Präsidentschaftswahlen und den Parlamentswahlen ab?
Zuerst müssen wir festhalten, dass das keine freien und fairen Wahlen gewesen sind, so wie auch alle anderen Wahlen in der Türkei in den letzten Jahren. Abgesehen von der völlig ungleichen Verteilung von Möglichkeiten und den Mitteln des Staatsapparates sowie der Tatsache, dass die HDP wegen eines drohenden Parteienverbots quasi unter anderem Namen antreten musste und dergleichen, gab es auch am Wahltag und an den Urnen zahlreiche Unregelmäßigkeiten. Vielfach wurde Einspruch eingelegt und gefordert, die Wahl müsse wiederholt werden.
Die Realität ist: unter dem bestehenden Regime wird es keine ansatzweise freien und fairen Wahlen geben. Gleichzeitig dürfen uns diese Unregelmäßigkeiten auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das despotische Regime noch immer Rückhalt innerhalb der Bevölkerung hat.
Wenn wir die offiziellen Ergebnisse als Analysegrundlage heranziehen, dann sehen wir, dass die Stimmen von Erdoğans AKP im Vergleich zu den Wahlen 2018 um 7 Prozentpunkte gesunken sind. Das hat zwei wesentliche Gründe: die Wirtschaftskrise und die Auswirkungen des Erdbebens vom 6. Februar. Gemäß den neuesten Daten leben 18 Millionen von 85 Millionen Menschen in unserem Land unterhalb der Armutsgrenze. Wir sehen, dass die Inflation und besonders der Anstieg der Lebensmittelpreise erschreckende Ausmaße erreicht haben, dass Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, vor allem unter jungen Menschen, grassieren. Das neoliberale Akkumulationsmodell der Türkei ist seit Jahren in einer tiefen Krise, was auch innerhalb unterschiedlicher Fraktionen innerhalb des Staates sowie auf Kapitalseite Konflikte provoziert. Das führte eben auch zu den Verlusten der AKP.
Andererseits sehen wir auch, dass diese Abnutzungserscheinungen des Regimes und die sozialen Krisen sich nicht direkt in eine Stärkung der sozialistischen Linken und der demokratischen Kräfte übersetzt hat. Die Krise der sozialistischen Linken hält an und das kann dann eben dazu führen, dass die Wut und Frustration der Menschen in eine faschistische Richtung kanalisiert wird. Ich sage bewusst »kann«, weil es noch keinen vollständig konsolidierten Faschismus gibt.
Wie hat die politische Rechte bei der Wahl abgeschnitten?
Während wir uns in den letzten Jahren vor allem auf die Faschisierung des reaktionär-konservativen Regimes um Erdoğan konzentrierten, mussten wir feststellen, dass diverse türkisch-nationalistische und faschistische Gruppierungen, deren Ursprünge viel weiter zurückreichen, bei dieser Wahl zugelegt haben. Es gibt einen Block von etwa 25 Prozent, der jedoch auf mehrere Parteien verteilt ist – sogar über die verschiedenen Blöcke des Regimes und der bürgerlichen Opposition hinweg. Im Moment sind sie noch gespalten und können daher nicht vereint und damit gestärkt auftreten. Möglich ist jedoch, dass sich die türkisch-nationalistische Bewegungen unter dem Einfluss der wirtschaftlichen und politischen Krisen und ihrem relativen Wahlerfolg zu einer einheitlichen Bewegung zusammenschließen könnten.
Bei den Präsidentschaftswahlen haben viele erwartet, dass Erdoğan deutlich geschwächt hervorgehen würde. Doch er erhielt 49,5 Prozent der Stimmen – wie ihm das gelungen ist, ist immer noch nicht ganz klar. Noch ein halber Prozentpunkt mehr und er wäre schon im ersten Wahlgang wiedergewählt worden. Man hatte angenommen, dass Kemal Kılıçdaroğlu, der Kandidat der bürgerlichen Opposition, zumindest im ersten Wahlgang vorne liegen würde. Dies sagten auch die meisten Meinungsforschungsinstitute.
Es ist jedoch offensichtlich, dass in der Wahlnacht und den folgenden Tagen eine ganze Reihe von Verhandlungen zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Parteien und Staatsfraktionen stattgefunden haben. In der Wahlnacht brach ein regelrechter psychologisch-politischer Krieg darüber aus, wer die moralische Überlegenheit und die Deutungshoheit gewinnt. Oppositionelle linke Kräfte wie wir sitzen bei diesen Verhandlungen der Herrschenden natürlich nicht mit am Tisch. Und in despotischen, undemokratischen Regimen wie dem unseren können solche Verhandlungen den Ausgang von Wahlen maßgeblich bestimmen.
Nun geht es in die zweite Runde. Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen zur Wahl gehen und trotz aller Unzulänglichkeiten den Oppositionskandidaten wählen. Entscheidend ist aber, dass wir unsere programmatische und organisatorische Eigenständigkeit stärken und uns für die kommende Periode rüsten.
Ihr seid als Bündnis für Arbeit und Freiheit angetreten. Auf den Listen der YSP fanden sich auch sozialistische Kandidierende aus anderen Parteien. Die Arbeiterinnenpartei der Türkei (TIP) ist vielerorts mit einer eigenen Liste im Bündnis angetreten. Wie bewertest Du die Bündnisarbeit?
Das Ergebnis unseres Bündnisses liegt deutlich unter unserem Potenzial. Wir werden das gemeinsam bewerten und diskutieren. Nichtsdestotrotz ist ein Stimmenanteil von 10 Prozent nicht wertlos und hilft uns dabei, die brennenden Anliegen der Menschen im Parlament vertreten zu können. Zusammen mit vielen unserer sozialistischen und demokratischen Genossinnen und Genossen werden wir die Stimme des Volkes im Parlament, der politischen Arena der herrschenden Klasse, sein. Wir werden die Menschen auf keinen Fall allein lassen.
Die Debatte darüber, dass die TIP mit eigenen Kandidatinnen und Kandidaten unter dem Dach unseres Bündnisses zu den Wahlen angetreten ist, haben wir hinter uns gelassen. Wir haben sie wissen lassen, dass wir das in der Form für falsch gehalten haben. Allerdings ist das keine Debatte, mit der wir uns weiter aufhalten sollten und es wäre gut, wenn sich alle Bündnispartnerinnen und Bündnispartner zurückhalten. Wir sind froh, dass die TIP mit vier Abgeordneten ins Parlament einziehen wird. Wir werden gemeinsam kämpfen. Als Bündnis war es unser Ziel, hundert Abgeordnete in das 600-köpfige Parlament zu bekommen. Das war ein hoch gestecktes, aber kein unmögliches Ziel. Die Aussichten für uns schienen nicht schlecht zu sein. Aber die Kürze des Wahlkampfes und die internen Debatten im Bündnis haben dazu geführt, dass wir unter unseren Möglichkeiten geblieben sind.
Die Präsidentschaftswahl geht nun in die zweite Runde. Welche Strategie hat das Bündnis für Arbeit und Freiheit und Eure Partei TÖP?
Als Bündnis haben wir keinen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Wir haben die taktische Entscheidung getroffen, den Kandidaten der restaurativen Bourgeoisie zu unterstützen, um Erdoğan bei der Wahl zu besiegen. Wir haben offen dazu aufgerufen, für Kemal Kılıçdaroğlu zu stimmen. Wir sind in vielen Fragen nicht auf derselben Seite und klassenpolitisch ist er sicher nicht unser Freund. Aber besondere Umstände erfordern solche taktischen Entscheidungen.
Wäre ein Boykott eine Option gewesen? Die Niederlage des Regimes um Erdoğan ist für die Arbeiterklasse und die Völker der Türkei von entscheidender Bedeutung. Aufgrund unserer politischen Verantwortung und des derzeitigen Kräfteverhältnisses hielten wir einen Boykott nicht für richtig und haben Kemal Kılıçdaroğlu unterstützt. Diese Haltung werden wir natürlich auch im zweiten Wahlgang beibehalten.
Es wäre keine revolutionäre Haltung angesichts der gegenwärtigen Situation bei den Menschen die Hoffnungen zu wecken, dass Wahlen uns sehr weit bringen werden. Kılıçdaroğlu wird es im zweiten Wahlgang noch schwerer haben und eventuell neue Bündnisse mit nationalistischen Kräften schmieden, die ihn noch weiter von uns entfernen. Dennoch werden wir dazu aufrufen, bei der Stichwahl für ihn abzustimmen.
Es ist wichtig festzuhalten, dass auch eine Wahlniederlage nicht das Ende der Welt bedeutet. Auch das werden wir den Menschen erklären. Der wahre Kampf findet auf der Straße, in den Vierteln, in den Betrieben statt. Und genau diesen Kampf müssen wir in der kommenden Periode noch mehr forcieren, egal wie die politischen Kräfteverhältnisse im Parlament und den Institutionen aussehen. Das heißt aber nicht, dass wir die Möglichkeiten der politischen Vertretung in bürgerlichen Institutionen geringschätzen und ich werde als Abgeordnete versuchen, alles zu tun, um nicht nur die Interessen der Menschen zu vertreten, sondern auch ihre Selbstorganisation zu stärken.
Du wurdest in Mersin zur Abgeordneten gewählt. Wie war der Wahlkampf vor Ort?
Mersin ist eine der Städte in der Türkei mit einer großen proletarischen Bevölkerung, Industrie-, Hafen- und Landwirtschaftsgebieten und einem großen Dienstleistungssektor. Sie ist die elftgrößte Stadt des Landes. Darüber hinaus ist die Bevölkerung tendenziell sehr jung und es gibt seit Jahren eine anhaltende Migration aus den kurdischen Regionen. Außerdem machen Alevitinnen und arabische Aleviten einen wichtigen Teil der Bevölkerung aus.
Dieses Gesamtbild macht Mersin zu einer sehr wichtigen Stadt für Sozialistinnen und Sozialisten. Während unserer Kampagne haben wir häufig Landarbeiterinnen und Arbeiter in Industriegebieten, im Hafen oder im Dienstleistungssektor besucht und uns mit ihnen ausgetauscht. Wir waren in den kurdischen und alevitischen Vierteln. Wir kamen mit Frauen und mit jungen Leuten zusammen. Ich kann aus vollem Herzen sagen: Diese Zusammenkünfte haben unsere Moral und Motivation jedes Mal gesteigert. Wir haben Kraft aus diesen Treffen gezogen. Alle Teile der Bevölkerung hatten große Erwartungen. Die Krisen haben ihr Leben wirklich zur Hölle gemacht. Das haben wir vor Ort gesehen. Aber wir haben auch den Willen zur Veränderung und die Wut wahrgenommen. Wir werden weiterhin alles tun, um die Stimme dieser Veränderung zu sein.
Was wird Deine Strategie als Abgeordnete sein? Welche Themen wirst Du betonen und welche Ziele hast Du?
Wir als Partei für soziale Freiheit basieren unsere politische Strategie auf dem Konzept einer demokratischen Republik. Wir sind der Meinung, dass die demokratische Umgestaltung, die von der türkischen Bourgeoisie unvollendet gelassen und immer wieder unterlassen wurden, nur durch eine politische Kraft realisiert werden kann, die von der Arbeiterklasse und von den Unterdrückten gestützt wird.
Anstelle des despotischen türkischen bürgerlichen Staates, der als Restauration des osmanischen Staates entstanden ist, befürworten wir die Macht der Räte, also der direkten demokratischen Beteiligungsorgane des Volkes. Um diese Strategie herum gibt es viele Reformen, die von den aktuellen sozialen Kämpfen gefordert werden – Arbeitszeitverkürzung, Organisationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Streikrecht, Verbot von Aussperrungen, Gleichberechtigung der Frauen, Kampf gegen die ökologische Krise und den kapitalistischen Raubbau an der Natur, die Durchsetzung einer wirksamen Kinderpolitik, verfassungsmäßige Garantie aller existenziellen Rechte der Kurdinnen und Kurden, die Durchsetzung eines Laizismus, der seinen Namen verdient und vieles mehr.
Wir treten dafür ein, dass all diese Rechte und Fortschritte durch eine populare Verfassung gesichert werden. Wir glauben, dass das den Kampf für den Sozialismus voranbringen wird, weil wir dadurch die Kräfteverhältnisse von Kapital und Arbeit verschieben können und den Menschen die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln, sich selbst zu organisieren und ihre Interessen zu stärken. Diese Veränderung darf nicht nur rhetorisch sein, sie muss materiell werden.
Das Parlament werden wir nutzen, um den Forderungen und Sorgen der Menschen eine Stimme zu geben und gleichzeitig die Organisation der Arbeiterklasse und der Unterdrückten zu stärken.
Perihan Koca wurde auf der Liste der Grünen Linkspartei (YSP) in der Provinz Mersin zur Parlamentsabgeordneten gewählt. Sie ist seit ihrer Jugend in sozialistischen und feministischen Organisationen aktiv und Mitglied des Sprecherrates der Partei für soziale Freiheit (TÖP).