07. November 2022
Linke Proteste gegen die Verarmungspolitik der Bundesregierung werden nur erfolgreich sein, wenn sie mit der Friedensfrage verbunden werden. Passiert das nicht, überlässt man den Rechten das Feld.
Ein bisschen mehr Umverteilung, ein bisschen schnellere Energiewende: Die Linke darf die Kriegsfrage nicht länger ausparen, Berlin, 22. Oktober 2022.
IMAGO / IPONEs sollte ein »heißer Herbst« werden, die Chance für ein linkes Comeback. Die herbe Wahlniederlage, die die Partei DIE LINKE kürzlich in Niedersachsen mit einem Ergebnis von 2,7 Prozent einfuhr, hat diese Hoffnungen gehörig gedämpft. Die Partei verkommt immer mehr zum sozialen Korrektiv der Ampel-Parteien – eine potenzielle Proteststimme für linkere SPD- oder Grünen-Wählerinnen und -wähler aus dem wohlhabenden Bildungsbürgertum, keinesfalls aber ein stabiler Ankerpunkt für eine konsequent linke Opposition im Land.
»Die Benennung der Verstrickungen zwischen Verarmung im Inneren und Militarisierung im Äußeren gilt in weiten Teilen der Linken hierzulande als Affront gegen den gesunden Menschenverstand.«
Gleichzeitig mobilisieren AfD und andere Rechte gegen die aktuelle Politik der Bundesregierung im Ukrainekonflikt. Das Narrativ ist eindeutig: Deutschland habe durch die Sanktionierung Russlands seine eigenen Interessen vernachlässigt und folge den USA blind. Daraus entstünden für die Mehrheit der Bevölkerung enorme Kosten. Die herrschende Politik habe wieder einmal versagt. All das wird mit offenen Sympathien für Putins autoritäres Wertesystem sowie dessen Ablehnung von »Multikulturalismus« und »Genderwahn« garniert.
Was sagt es über die herrschende Politik hierzulande aus, wenn die Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, ausgerechnet den Trash-Entertainer Dieter Bohlen als »moralisch verkommen« bezeichnet, weil dieser mit seiner Forderung nach Gesprächen und der Aufhebung der Sanktionen gegen Russland – die bei vielen Haushalten tatsächlich für Existenzkrisen sorgen werden – angeblich »diesen entsetzlichen Krieg« ausblende? Während SPD und Grüne wie gewöhnlich moralisieren, sind die Konservativen durchaus ehrlicher. Denn laut Wolfgang Schäuble sollten sich die Menschen dieser »verwöhnten Gesellschaft« einfach einen Pulli anziehen und aufhören zu meckern. Der ehemalige Finanzminister weiß, wovon er spricht. Schließlich fungierte er als Scharfmacher der Verarmungspolitik der Troika gegen Griechenland, die das Land ins Elend stürzte.
Kürzlich sprach Bundeskanzler Olaf Scholz von einem »Kreuzzug« Putins gegen die »liberalen Demokratien«. Das sei laut Scholz auch der Grund, warum der Westen und insbesondere seine Regierung die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen werde, bis das Regime in Kiew sich behaupten kann. Ob der Kanzler an diese Floskeln tatsächlich selbst glaubt, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass dieses Narrativ durchaus wirksam ist, um in Deutschland eine effektive linke Opposition gegen einen Krieg – der längst zum Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland geworden ist – kleinzuhalten. Über den himmelschreienden Widerspruch, diesen »entsetzlichen Krieg« abzulehnen, ihn aber gleichzeitig mit weiteren Waffenlieferungen zu befeuern, wird hinweg geschwiegen.
An der Erzählung, bei diesem Krieg gehe es auch darum, die Rechte in Europa kleinzukriegen, dürften auch einige innerhalb der breiten gesellschaftlichen Linken insgeheim festhalten. Seit den großen, durch die Wirtschaftskrise ausgelösten politischen Umwälzungen in Europa und Nordamerika, fungierte Putins Russland als monokausale Erklärung für die strukturellen Probleme westlicher Demokratien. Ob im Falle von Trumps Wahl zum US-Präsidenten 2016 oder dem Zuwachs rechtspopulistischer Parteien wie der italienischen Lega, dem französischen Rassemblement National oder der AfD hierzulande – Schuld waren nicht die von Eliten betriebene Bankenrettungs- und Austeritätspolitik bei gleichzeitiger Normalisierung rechter Positionen in den Bereichen Migration und Sicherheit, sondern hauptsächlich die dunklen Machenschaften der Neoreaktionären im Kreml.
»Die von der Ampel-Regierung betriebene Sanktionspolitik gegen Russland führt objektiv gesehen zu einem Prozess der schleichenden Deindustrialisierung.«
Hier kann von einem »linksliberalen Wutbürger« gesprochen werden, der ähnlich wie dessen konservativer Gegenpart, in den eher wohlsituierten, gebildeten, aber dennoch krisenverunsicherten Mittelschichten anzutreffen ist. Während letzterer jedoch gegen »political correctness« und »cancel culture« wettert, sind für ersteren »Massenmörder Putin« oder »China« an allem Schuld. Beide Seiten neigen zu Personalisierung, Ausblendung komplexerer Sachverhalte und Kontexte sowie zu irrationalen Denkweisen. Kein Wunder, dass laut Umfragen, die Forderung nach einem »entschlosseneren Agieren gegen Russland« auch angesichts der damit einhergehenden Gefahren – etwa einer Dauerfortsetzung des Krieges und möglicher Eskalation bis hin zu einer atomaren Auseinandersetzung – unter Segmenten der Bevölkerung populär ist, die allgemein als »Gewinner« wahrgenommen werden, nämlich bei den Wählerinnen und Wählern der Grünen.
Tatsächlich profilieren sich heute viele rechte Kräfte als Unterstützer von Friedensverhandlungen mit Moskau und Befürworter der Aufhebung von Sanktionen. Das gilt vor allem für Rechtspopulisten mit auffallenden Putin-Sympathien, wie etwa Marine Le Pen in Frankreich, Viktor Orbán in Ungarn, Silvio Berlusconi und Matteo Salvini in Italien oder hierzulande die AfD. In einer von russischen Rohstoffen besonders abhängigen Volkswirtschaft wie Deutschland stößt die Botschaft der Rechten auf Resonanz. Die von der Ampel-Regierung betriebene Sanktionspolitik gegen Russland führt objektiv gesehen zu einem Prozess der schleichenden Deindustrialisierung, der mit Abstiegsängsten sowie mit der Gefahr eines Zusammenbruchs von sozialem Zusammenhalt einhergeht. Insofern setzt die AfD auf die altbekannte Strategie, real existierende Probleme und Missstände aufzugreifen und diese reaktionär umzudeuten. Dabei wird die Ablehnung einer Eskalation des Ukrainekrieges an einen Verweis auf »unsere Interessen« gekoppelt, während das Interesse der Menschheit an Frieden sowie einer Absicherung vor Hungersnot und Armut ausgeklammert wird.
Dass die Rechten dabei wie üblich Partikularinteressen des Mittelstandes als das allgemeingesellschaftliche Interesse darstellen, führt auch nicht dazu, dass rechte Kräfte bei vielen Werktätigen – die mit der unmittelbaren Gefahr von Betriebsschließungen konfrontiert sind – einen Imageverlust erleiden. Im Gegenteil, deren Dominanz in der Frage steht unmissverständlich in Zusammenhang mit dem Schweigen der LINKEN. Das ist besonders tragisch, da die Friedensfrage im Gegensatz zu Einwanderung oder Kriminalität ein linkes und kein rechtes Standardthema darstellt.
Der »Pazifismus« der AfD und anderer Rechter ist nur eine Seite der Medaille. In diesem Krieg setzt die europäische Rechte nämlich auf zwei Pferde. So stellt sich die Neofaschistin Giorgia Meloni in Italien demonstrativ auf die Seite des ukrainischen Präsidenten Selenskyi. Als sich während der Debatte um russische Kriegsdeserteure einige Länder Osteuropas weigerten, diese aufzunehmen, hat kaum jemand auf die Verbindungslinie zwischen dieser Ablehnung einerseits und der rassistischen Migrationspolitik dieser Regierungen andererseits verwiesen. Lettland, wo russischstämmige Menschen Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse sind und wo regelmäßig Märsche zu Ehren der SS stattfinden, ist dafür ein Paradebeispiel.
Gemäß dem Motto »Wer Faschist ist, bestimme ich«, sind sich führende Kommentatorinnen und Kommentatoren des westlichen Establishments bereits darüber einig, dass der Faschismus des 21. Jahrhunderts in Moskau anzutreffen sei – eine recht gefährliche Verharmlosung in Zeiten von zunehmendem Rechtsterrorismus. Gleichzeitig setzt die rechte griechische Regierung im Auftrag der EU das Morden von Geflüchteten auf See fort, während der Premierminister Mitsotakis schon den Hauptschuldigen für die rasant steigende Inflation in seinem Land ausgemacht hat – es ist natürlich Putin. Während Ungarns Premier Orbán aufgrund seiner weiterhin bestehenden Beziehungen zu Moskau in die Schmuddelecke der EU verbannt wird, hat sich die ebenfalls rechtspopulistische und frauenfeindliche polnische Regierung dank ihrer eifrigen Unterstützung für die Ukraine in den Augen der europäischen liberalen Öffentlichkeit längst rehabilitiert. Die Verklärung des eindeutig neonazistischen Charakters des Azow-Regiments in der Ukraine sowie dessen mediale Umwandlung in eine heroische Bande von Freiheitskämpfern musste dazu nicht einmal näher kommentiert werden.
»Viele Linke stellen ihre Solidarität mit der Ukraine dem Standortnationalismus der AfD gegenüber und verwischen dabei die realen Klassengegensätze, die auch innerhalb der Ukraine selbst existieren.«
Im Gegensatz zur Linken waren Demagogie und Doppelzüngigkeit schon immer historische Merkmale der Rechten. Dementsprechend trägt die auffallende Widersprüchlichkeit von Rechtspopulisten und Neofaschisten in Bezug auf den Ukrainekrieg keineswegs zu deren Schwächung bei. Ihre Strategie dabei zielt einerseits darauf ab, sich als Repräsentanten des »kleinen Mannes« zu inszenieren und andererseits ihre abscheuliche Ideologie zu normalisieren. Während ersteres die Ängste der Bevölkerung um Arbeitsplätze, Heizkosten und Inflation bedient, lässt sich zweiteres im Kriegsnebel und mittels eines inflationären Faschismusbegriffes leichter erreichen. Ähnlich wie zu Beginn des Kalten Krieges, als die Gefahr aus Moskau zur Rehabilitierung ehemaliger Nazis führte, so können sich auch heute rechte Kräfte – und insbesondere diejenigen mit einem tiefsitzenden neonazistischen Weltbild – in ihrer »Ukrainesolidarität« als Teil des Mainstreams fühlen.
Viele Linke in Deutschland, inklusive der Führung der Linkspartei, versuchen im Namen eines falsch verstandenen Internationalismus keinen Zweifel über ihre Solidarität mit »der Ukraine« aufkommen zu lassen. Sie stellen diese »Solidarität« dem Standortnationalismus der AfD gegenüber und verwischen dabei die realen Klassengegensätze, die auch innerhalb der Ukraine selbst existieren. Mit Internationalismus hat diese Haltung genauso wenig zu tun wie Putins Angriffskrieg mit »Denazifizierung«.
Die Hintergründe hinter Russlands Einmarsch am 24. Februar sind vielschichtig und sicherlich nicht auf eine einfache Erklärung reduzierbar. Dennoch können drei Tatsachen festgehalten werden. Erstens war das russische Unbehagen über die Ostexpansion der NATO wohlbekannt und eine aggressive Reaktion Moskaus absehbar. Für den Westen stellt die dauerhafte Schwächung Russlands nach dem Debakel in Afghanistan eine einzigartige Chance dar und der Ukrainekrieg fällt in ein günstiges Zeitfenster, um dieses Ziel zu erreichen. Die Bekundungen Washingtons, über Verhandlungen könne nur Kiew selbst entscheiden, klingen hohl, wenn man bedenkt, dass die ukrainische Kriegsführung nicht nur mittels westlichem Militärgerät stattfindet, sondern auch mit westlicher geheimdienstlicher Unterstützung geplant wird. Die NATO ist, faktisch gesehen, bereits Kriegspartei.
Zweitens handelt Putin nicht allein, sondern im Auftrag der gesamten russischen herrschenden Klasse, die im dauerhaften Verlust der Ukraine mittels ihrer Westintegration eine Gefahr für ihre besondere Spielart von »politischem Kapitalismus« erkennt. Der Begriff beschreibt die eigenartige Form kapitalistischer Entwicklung im postsowjetischen Raum, die maßgeblich auf die Massenplünderung von Staatseigentum nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Bildung einer staatsverbundenen Oligarchenklassen basiert. Diese verlagert ihre Profite lieber ins Ausland, anstatt sie produktiv im Inland zu investieren.
Wie US-Präsident Biden neulich einräumte, ist Putin kein Irrer, sondern ein rationaler Akteur, der sich verkalkuliert hat. Selbst wenn Putin es wollte: Russland ist nicht in der Lage die Ukraine einzunehmen, geschweige denn in Richtung Helsinki oder Prag zu marschieren. Mit einer Wirtschaft, die ungefähr so groß ist wie die von Italien, und einem Militärbudget, das weit niedriger ist als das der NATO-Staaten, ist Russland nicht die alte Sowjetunion, sondern eine sich im Niedergang befindende Regionalmacht. Die russische herrschende Klasse besitzt angesichts des desolaten Zustands der konventionellen Streitkräfte jedoch noch eine wichtige Trumpfkarte: Atomwaffen. Die Annahme, Russland würde diese unter keinen Umständen einsetzen, basiert auf einem fundamentalen Missverständnis über den Charakter zwischenstaatlicher Konkurrenz im Kapitalismus.
Drittens basiert die Bereitschaft, den Krieg fortzuführen, auch auf den inneren Widersprüchen der Ukraine selbst. Die Wahrnehmung, dass sich das Land in einem Verteidigungskrieg gegen Moskau befindet, hat die ökonomisch, sprachlich, politisch und kulturell heterogene ukrainische Bevölkerung unter einem Banner vereint. Daraus ist jedoch keinesfalls abzuleiten, dass die gesamte Bevölkerung gleichermaßen bereit ist, diesen Krieg mit all seinen Konsequenzen auf Dauer weiterzuführen.
Während des Krieges setzte sich der Prozess der Neoliberalisierung der ukrainischen Wirtschaft noch rasanter fort, und der Oligarchenkumpel Selenskyi ist alles andere als ein Freund der ukrainischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Wird die politische Souveränität im Schlachtfeld von der russischen Besatzungsmacht angegriffen, so wird die ökonomische Souveränität im Inneren von den internationalen Kreditinstitutionen ausgehöhlt. Selenskyis Dekret, das Verhandlungen mit Putin verbietet, ebenso wie seine Forderung nach »Präventivschlägen« gegen Russland (die er später zurückruderte) müssen vor demKontext einer abhängigen kapitalistischen Klasse betrachtet werden, die ein Interesse an einem permanenten Kriegszustand hat. Auch in der Ukraine gibt es Klassenwidersprüche.
Aus diesen Beobachtungen können einige Schlüsse gezogen werden. Der Glaube, dass weitere durch den Westen ermöglichte Siege der ukrainischen Armee Russland zur Anerkennung der Niederlage zwingen und gar zum Sturz des Putin-Systems beitragen würden, ist durchaus naiv. Denn Putin ist bei weitem nicht der Hauptextremist im Kreml. Falls immer mehr russische Soldaten durch westliche Waffen getötet werden, könnten sich andere im Zweifel auch gegen Putin dazu berufen fühlen, die Interessen der russischen herrschenden Klasse durch ein noch aggressiveres Vorhaben zu verteidigen. Weder Russland noch die Ukraine sind in der Lage ihre Ziele zu erreichen. Jedes Vordringen in die eine oder andere Richtung wird zwangsläufig eine eskalierende Antwort Russlands oder der NATO-Staaten hervorrufen, und könnte unvorhersehbaren Folgen, wie auch den Einsatz »taktischer« Nuklearwaffen nach sich ziehen.
Die strukturelle Unvereinbarkeit russischer und ukrainischer/westlicher Interessen ist symptomatisch für eine Weltordnung, in der kriegerische Auseinandersetzungen zunehmend zur Norm werden. Während Kriege im »goldenen Zeitalter der Globalisierung« hauptsächlich in der Peripherie des Weltsystems stattfanden, so dringen sie allmählich ins Zentrum. Gemeint ist nicht nur das Säbelrasseln zwischen den USA und China um Taiwan. Zum ersten Mal nach 1974 wird sogar die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen den NATO-Partnern Griechenland und Türkei ernsthaft in Erwägung gezogen.
»Inmitten einer solchen Situation wäre es fatal, wenn die gesellschaftliche Linke das herrschende Narrativ eines grundsätzlichen Widerspruches zwischen liberalen und autoritären Staaten übernimmt.«
Hauptursache für diesen Zustand ist nicht ein Generalangriff »autoritärer Staaten« auf die »liberalen Demokratien«, sondern der dauerhafte Krisenzustand des kapitalistischen Systems seit 2008. Dieser Zustand – geprägt von mangelnden Investitionen, niedrigem Wachstum sowie explodierender ökonomischer Ungleichheit – wurde durch die Corona-Krise und die darauffolgenden Lieferengpässe nur verschärft. Nicht nur die USA und Russland, sondern mehrere Staaten weltweit sehen sich dazu veranlasst, ihre ökonomischen und politischen Widersprüche durch die Demonstration militärischer Stärke zu bewältigen.
Inmitten einer solchen Situation wäre es fatal, wenn die gesellschaftliche Linke das herrschende Narrativ eines grundsätzlichen Widerspruches zwischen »liberalen« und »autoritären« Staaten übernimmt und lediglich Hoffnungen nach ein bisschen mehr Umverteilung und ein paar mehr Investitionen in erneuerbaren Energien artikuliert. Eine Politik, die verzweifelte Menschen an der EU-Außengrenze sterben lässt, die Fossildiktaturen wie Saudi-Arabien und Katar hofiert, während sie mit der Einfuhr von besonders umweltschädlichem Fracking-Erdgas aus den USA liebäugelt, ist nicht »wertebasiert« – sie ist genauso interessengeleitet und in ihren Menschenrechtsbefindlichkeiten selektiv wie die von »autoritären Staaten«.
Doch die Benennung der Verstrickungen zwischen Verarmung im Inneren und Militarisierung im Äußeren gilt in weiten Teilen der Linken hierzulande als Affront gegen den gesunden Menschenverstand. So finden sich im Aufruf des unter anderem von Campact, Ver.di, GEW und Attac mitgetragenen Bündnisses »Solidarischer Herbst« auch Solidaritätsbekundungen zur »Ukraine«, während die Krise wie eine Naturkatastrophe dargestellt wird, für die die Bundesregierung nicht die geringste politische Verantwortung trägt. Besonders bedenklich ist, dass das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr – das sowohl atlantische Grüne wie auch »putinverstehende« Rechtspopulisten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, im Bundestag unterstützen – mit keinem Wort erwähnt wird.
Die Rede Sahra Wagenknechts im Bundestag am 8. September, indem sie von einem »Wirtschaftskrieg« gegen Russland sprach, provozierte eine Menge feindseliger Reaktionen, sowohl außerhalb als auch innerhalb der LINKEN. So schrieb der ehemalige Parteivorsitzende Bernd Riexinger, es gäbe keinen Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern nur einen russischen Krieg gegen die Ukraine.
»Die blinden Flecken der Linken schlachtet die marktextremistische AfD gnadenlos aus.«
An der Rede Wagenknechts gibt es sicherlich einiges zu kritisieren. Die Betonung der Interessen des Mittelstands (zu dem in Deutschland etliche Großunternehmen zählen) bei gleichzeitiger Ausblendung von Klassengegensätzen ist längst zum fragwürdigen Merkmal von Sahra Wagenknechts Rhetorik geworden. Doch die negativen Reaktionen bezogen sich weniger darauf, sondern auf die Vermutung, Wagenknecht relativiere mit ihrer Rede die russische Schuld am Krieg. Es ist jedoch kaum abzustreiten, dass Deutschland einen Wirtschaftskrieg gegen Russland führt. Robert Habeck hat Wagenknechts Behauptung selbst bestätigt, während Annalena Baerbock zu Kriegsbeginn von Sanktionen sprach, die Russland »ruinieren werden«. In einem Krieg nutzen beide Parteien alle zur Verfügung stehenden Mittel. Russland hat diesen Krieg begonnen, doch die Entscheidung sich von Russland wirtschaftlich abzukoppeln, geht auf das Konto der Ampel und anderer westlicher Regierungen. Unter diesem Blickwinkel betrachtet sind die Kosten, die auch hierzulande durch diesen Krieg entstehen, nicht ausschließlich auf Putins Angriffskrieg zurückzuführen, sondern entspringen vor allem einer bewussten politischen Entscheidung der Bundesregierung im Rahmen einer langfristig angelegten geopolitischen Konkurrenz.
Jenseits der Realität eines Wirtschaftskrieges werfen die Reaktionen auf Wagenknechts Rede weitere Fragen auf. Denn wie fortschrittlich oder sozial ist überhaupt die Billigung einer Politik, die Pleiten und darauffolgenden Massenentlassungen mit sich bringt, die wiederum immer mehr Teile der Bevölkerung in die Armut stürzen werden? Und wie sinnvoll für eine Energiewende sind Sanktionen, die lediglich eine Quelle für fossile Rohstoffe durch andere ersetzen, zum Widerauferstehen der Braunkohle sowie zur Laufzeitverlängerung von AKWs führen? Diese blinden Flecken der Linken schlachtet die im Grunde genommen marktextremistische AfD gnadenlos aus, während viele in der LINKEN lieber über die alleinige Schuld Wladimir Putins für alle Übel auf der Welt reden wollen.
Doch es gibt Wege, die berechtigte Wut vieler Menschen über die aktuelle Politik der Bundesregierung weg von standortnationalistischen Deutungsmustern und hin zu einem Politikverständnis zu bewegen, das sowohl sozial und friedensbewegt, aber vor allem auch klassenkämpferisch und internationalistisch ist. Die Mehrheit der Bevölkerung hat den russischen Einmarsch in die Ukraine eindeutig verurteilt, doch eine wachsende Anzahl von Menschen macht sich auch Sorgen über eine mögliche Eskalation des Krieges als auch über Heizkosten, Inflation, und hohe Mieten. Die Aufgabe der Linken besteht darin, Gemeinsamkeiten über Grenzen hinweg in den Vordergrund zu stellen.
Man könnte etwa betonen, wie scheinbar so unterschiedliche Gruppen wie prekäre Pflegekräfte, Fabrikangestellte in Ostdeutschland, Kleinbauern im Globalen Süden sowie Menschen in der Ukraine selbst alle ein Interesse daran haben, diesen blutigen Krieg schnellstmöglich zu beenden – einen Krieg, von dem seit acht Monaten nur ultrarechte Nationalisten auf beiden Seiten, Waffenkonzerne und fossile Rohstoffe profitieren. Weder ein herrschaftskonformer Pseudointernationalismus noch ein Nachahmen des AfD-Standortnationalismus bietet für die Linke eine langfristige Perspektive.
Der unterschwellige Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten ist gleichzeitig ein Klassenkampf von oben, der in allen involvierten Ländern ausgetragen wird. Die milliardenschweren Entlastungspakete der Bundesregierung stellen keinen adäquaten Ersatz für die bereits angezettelten Prozesse explodierender Inflation, der Deindustrialisierung sowie steigender Arbeitslosigkeit dar – und von diesen Konsequenzen sind eben nicht alle gleichermaßen betroffen. Nicht Appelle für eine sozial gerechtere Abwälzung der Kriegskosten sowie ein paar mehr Investitionen in erneuerbare Energien, sondern der Ruf nach Auswegen aus dieser höchst gefährlichen Eskalationsspirale wäre eine kämpferische Lösung, die auch verdeutlicht, dass zwischen der Bevölkerungsmehrheit einerseits und den Kriegsprofiteuren andererseits fundamentale Gegensätze bestehen.
Gerade jetzt, wo sich Moskau in der Defensive befindet und zunehmend unberechenbarer wird, müssten sich Linke die Forderung nach sofortigen und direkten Verhandlungen zwischen Russland und dem Westen auf die Fahnen schreiben. Die Bundesregierung sollte durch gesellschaftlichen Druck, der die soziale Frage mit der Kriegsfrage kombiniert, dazu bewegt werden, ihre bisherige Passivität beiseite zu legen und aktive diplomatische Bemühungen für ein Ende des Konfliktes zu unternehmen – im Zweifel auch gegen die Wünsche Kiews oder Washingtons.
Die Linke darf sich dabei nicht moralisch von Akteuren erpressen lassen, die das Fiasko der Auslandseinsätze in Afghanistan und Mali zu verantworten haben. Denn keine Seite ist in der Lage, diesen Krieg zu gewinnen, während dessen Fortsetzung vor allem den Menschen in der Ukraine schadet, wie die jüngsten russischen Luftangriffe auf Kiew und andere Städte wieder gezeigt haben. Eine nukleare Eskalation dieses Krieges ist in niemandes Interesse. Wenn der Spruch Karl Liebknechts, der Hauptfeind stehe im eigenen Land, nicht endgültig in den Bereich konsequenzloser politischer Folklore verbannt werden soll, dann muss die Linke die Kriegsfrage aufgreifen.