23. Februar 2023
Es reicht nicht, die vielen Probleme des Kapitalismus nur zu benennen – wir brauchen auch ein Ideal von Gerechtigkeit und eine positive Vision für die Zukunft.
Wandgemälde »California Life« (1934) von Victor Arnautoff, das im Zuge der Works Progress Administration entstand, die nach der Großen Depression Millionen Arbeitslose zu einer Beschäftigung verhalf.
Public DomainNach Jahrzehnten am Rand des politischen Lebens hat der Sozialismus in den letzten Jahren ein Comeback als Gegenstand ernsthafter Auseinandersetzung gemacht. Unter zeitgenössischen politischen Theoretikerinnen und Theoretikern reift zur Zeit eine Debatte darüber heran, ob Marktsozialismus, Eigentumsdemokratie, Rätekommunismus oder eine Post-Arbeitsgesellschaft unsere Vision für eine Zukunft nach dem Kapitalismus sein sollte. Aber diese Debatte ist zu selten in politischer Philosophie verankert.
Mit politischer Philosophie meine ich eine Theorie der Gerechtigkeit, eine systematische Ethik oder eine breit geteilte Vorstellung menschlicher Freiheit. Politische Philosophinnen entwickeln Konzepte, die uns helfen, richtig von falsch, gut von schlecht und gerecht von ungerecht zu unterscheiden. Sozialisten hatten historisch immer ein kompliziertes Verhältnis zu diesem Projekt. Wir haben den Verdacht, dass es den Status quo verhärtet, dass es bourgeois oder einfach reformistisch ist.
Es ist Zeit, diesen Verdacht zu überwinden. Es reicht nicht, dass wir systematische Ungerechtigkeiten diagnostizieren, wir müssen auch Rezepte für Gerechtigkeit, Freiheit und das gute Leben anbieten. Diese dürfen nicht sektiererisch, sondern müssen universalistisch, für Außenstehende einladend und hoffnungsvoll sein. Wir müssen außerdem unsere eigene Zuversicht wiedererlangen, dass der Sozialismus möglich, wünschenswert und gerecht ist.
Die erste Sorge, dass Gerechtigkeit ein bürgerliches Ideal sei, ist durchaus begründet. Aussagen über Gerechtigkeit finden auf einem sozialen Terrain statt, auf dem große soziale Verwerfungen existieren, und liberale Ideale wie Freiheit und Gleichheit helfen dabei, diese zu verschleiern. Es ist nicht einfach, dieselben Ideale, die soziale Spaltungen verschleiern, zu nutzen, um für eine grundlegende Transformation der Gesellschaft zu argumentieren.
Zweitens tendieren Aussagen über Gerechtigkeit aus diesem Grund dazu, den Status quo zu bestätigen. Es reicht nicht, einfach die Intuitionen der Menschen bezüglich Gerechtigkeit zu übernehmen. Der Markt formt unsere Werte, Empfindungen und moralischen Intuitionen auf eine Art, bei der eine ganze Reihe sozialer Probleme mystifiziert wird. In diesem Kontext ist es nicht glaubwürdig, sich auf bestehende Normen oder die tatsächlichen Wünsche und Präferenzen der Menschen im Verhältnis zu diesen Normen zu berufen, um sozialistische Ideale zu legitimieren.
Der dritte Einwand ist, dass der bourgeoise Charakter dieses Ideals und seine vielen ideologischen Verzerrungen eine hoffnungslos reformistische politische Strategie befördern. Die Idee der Gerechtigkeit legitimiert im Kapitalismus die Dominanz der Kapitalisten durch das Gesetz, die Gerichte und das parlamentarische System; sich auf eine politische Struktur einzulassen, die die Unterstützung für solche Institutionen bestärkt, macht es beinahe unmöglich, ihre gesellschaftliche Basis auf grundsätzliche Art anzugreifen. Radikale Veränderungen setzen voraus, einige der grundlegenden Werte infrage zu stellen, die Menschen im Hier und Jetzt vertreten.
Aber wir als Sozialistinnen sollten beachten, wie unsere politischen Gegner das Problem des Verhältnisses von Sozialismus und Gerechtigkeit darstellen. Liberale argumentieren nämlich auch, dass Sozialismus und Gerechtigkeit inkompatibel seien – wenn auch aus anderen Gründen.
Erstens sagen sie, der Sozialismus setze eine singuläre Vorstellung des guten Lebens voraus und sei damit illiberal. Der Sozialismus zwinge jedes Individuum, sich dem Projekt des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft zu verschreiben, das zum Ziel habe, individuelle Interessen zu einem Ideal des Gemeinwohls zu harmonisieren. Liberale sagen, die sozialistische Position würde den Pluralismus der Ideale guten Lebens, der für die Demokratie notwendig ist, effektiv zunichtemachen. Mit der Forderung, dass Individuen sich vollends mit einer größeren sozialen Mission identifizieren müssen, leugne der Sozialismus den Fakt der unauflösbaren Diversität menschlichen Lebens. Mit ihrer klassenlosen Gesellschaft fantasieren Sozialistinnen und Sozialisten demnach den gesamten Bereich menschlicher Auseinandersetzung, Kommunikation und Diversität hinweg. Diese imaginäre Welt löscht folglich soziale Differenzen aus, indem sie den Fakt des Pluralismus leugnet, den der Liberalismus bewahrt.
Der zweite liberale Einwand ist einer, den Sozialistinnen und Sozialisten aus den USA besonders oft hören. Er lautet dann etwa wie folgt: »Ihr habt da drüben wirklich einen schlimmen Fall von Kapitalismus, aber es gibt verschiedene Spielarten des Kapitalismus, verstehst du? Deine Einwände gegen den Kapitalismus treffen nur auf seine entfesselte Variante zu, die du gewohnt bist und die tatsächlich lebensfeindlich ist.« Der Philosoph Karl Popper argumentierte in diesem Sinne, es gäbe nicht nur zwei Möglichkeiten – Kapitalismus oder Sozialismus –, sondern viele Möglichkeiten innerhalb des Kapitalismus (zum Beispiel den humaneren Kapitalismus der nordischen Länder). Im Gegensatz dazu habe der Sozialismus kaum Varianten. Er bedeute die ultimative Rationalisierung der Gesellschaft, die Wertepluralismus und ideologische Diversität aus dem Bereich des Politischen ausschließt.
Der dritte Einwand der Liberalen lautet, dass der Missbrauch politischer Macht in einem kapitalistischen System einfacher zu verhindern sei als in einem sozialistischen. Der Sozialismus, verstanden als öffentliches Eigentum an den Produktionsmitteln und zentrale Planwirtschaft, habe Korruption direkt in die staatlichen Institutionen eingebaut. Eine staatliche Struktur, die – anders als der Markt – keine unabhängigen und konkurrierenden Machtzentren erlaubt, unterwirft also die Menschen einer herrschenden Clique, die den Staat nutzen kann, um sich völlig unkontrolliert zu bereichern.
Auf der anderen Seite, sagen sie Liberalen, können sich Wählerinnen und Wähler in einer kapitalistischen Demokratie zwischen besseren und schlechteren Antworten auf wirtschaftliche Probleme entscheiden, was staatliche Funktionäre für die Ansprüche der Öffentlichkeit empfänglicher macht. Und diese politische Freiheit wird untermauert von größerer Auswahl, was Güter, Dienstleistungen und Arbeitsplätze angeht. Wenn man nicht gezwungen ist, einfach anzunehmen, was auch immer der Staat einem vorsetzt, dann ist dieser stärker auf öffentliche Unterstützung angewiesen, und das macht es unwahrscheinlicher, dass sich Korruption ausbreiten und halten kann. Der Sozialismus dagegen schaffe eine große, undurchsichtige Bürokratie, die niemandem rechenschaftspflichtig ist und jeglicher Kritik feindselig gegenübersteht.
Was all diese Einwände vereint, ist die Vorstellung, dass sozialistische Politik inhärent illiberal sei, weil sie den Wert einer Idee von Gerechtigkeit, die Dissens, demokratischen Austausch und Bürgerrechte einschließt, nicht zur Kenntnis nehmen würde.
Sozialistinnen und Sozialisten müssen aus zwei Gründen ihre zögerliche Haltung beim Thema Gerechtigkeit ablegen und geradeheraus erklären, warum Sozialismus durchaus mit liberalen Werten kompatibel ist.
Erstens ist nicht klar, wie eine rein negative Sozialkritik die nötige Hoffnung erzeugen könnte. Mit »negativ« meine ich eine kritische Haltung, die Missstände diagnostiziert, sich aber weigert, positive Vorstellungen anzubieten. Karl Marx weigerte sich bekanntlich, »Rezepte für die Garküche der Zukunft« zu schreiben: Er lehnte die Idee ab, dass wir versuchen sollten, im Detail zu beschreiben, wie eine zukünftige sozialistische Gesellschaft aussehen würde. Diese Einstellung sollte eine Art politischen Realismus und Raum für demokratische Auseinandersetzung innerhalb sich Entwickelnder revolutionärer Bewegungen schaffen, sodass wir beim Aufbau des Sozialismus selbst herausfinden, wie er aussehen wird.
Aber ist es für eine Linke im Jahr 2022 nicht merkwürdig, an dieser Position festzuhalten? Viele von uns haben einen fast schon apokalyptischen Ausblick, was die sich vermehrenden Krisen des Klimawandels, der globalen Stagnation und der Flucht und Vertreibung angeht, aber eine greifbare, klare Idee von einer sozialistischen Alternative zu der weltweiten, kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die diese Krisen verursacht, fehlt bisher.
Wenn die politische Lage so schlecht ist, wie viele glauben, kann es sich die Linke dann wirklich erlauben, keine Köchinnen und Köche zu beschäftigen? Wenn wir sogar die Fähigkeit verloren haben, vorauszudenken, sehe ich nicht, was das historische Verbot für das Entwickeln von Rezepten zur Diskussion beiträgt außer Demoralisierung, Depolitisierung und letztlich Fatalismus.
Zweitens haben Sozialistinnen und Sozialisten immer versucht, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Hegemonie zu erreichen. Das bedeutet, die Mehrheit der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die politische Führungsrolle der Arbeiterklasse allen zugutekommt. Sogar wenn man selbst keine Arbeiterin ist, sollte man den Sozialismus wünschenswert finden. Ohne eine überzeugende Idee der Gerechtigkeit gibt es nicht viel Hoffnung, Mehrheiten für sozialistische Politik zu gewinnen.
Das bedeutet nicht, das Individuum über die Gemeinschaft zu stellen (also in »Individualismus« zu verfallen). Vielmehr müssen Sozialistinnen und Sozialisten zeigen, dass sich Individuen in einer anderen Sozialstruktur genauso gut entfalten können. Die Beweislast liegt bei uns, zu zeigen, dass Leute etwas reicheres und wärmeres von einer Konzeption menschlicher Freiheit erwarten können und sollten, als was der Kapitalismus ihnen bietet.
Viele der liberalen Argumente gegen den Sozialismus fußen auf der Annahme, dass dieser von oben bis unten eine zentrale Planwirtschaft sein müsste. Das Argument, dass der Sozialismus homogenisierend wirkt, soziale Differenzierung untergräbt und somit Politik unterbindet, ist nicht mehr so überzeugend, wenn man die Politik des Sozialismus einmal ernster nimmt. Der Wirtschaftshistoriker Aaron Benanav fragte vor kurzen richtig, ob der Sozialismus der Zukunft nicht ebenso gut »aus überlappenden Teilplänen, die notwendige und freie Aktivitäten miteinander verbinden, anstatt aus einem einzigen, zentralen Plan« bestehen könnte. Planung könnte etwas ganz anderes bedeuten als in der Vergangenheit. Sie könnte Märkten eine gewisse, im Vergleich zu heute beschränktere Rolle einräumen, während sie andere Werte in den Mainstream des ökonomischen Lebens einbezieht. Man könnte Pläne für technologische Entwicklungen machen, die die Arbeitsproduktivität erhöhen, Zeit sparen und einen Überschuss schaffen. Würden Investitionsentscheidungen demokratisiert, könnte man diesen Plan zudem mit anderen kombinieren. Zum Beispiel könnten Bürgerinnen und Bürger vorschlagen, mehr öffentliche Investitionen in die Künste oder in die Versorgung von Kindern und alten Menschen zu leiten. Der Sozialismus wird eine demokratische politische Struktur benötigen, die diese Art massiver sozialer Veränderungen herbeiführen kann, und das setzt voraus, dass das politische Leben grundlegend pluralistisch ist.
Am Ende kann es nämlich doch verschiedene Spielarten des Sozialismus geben, die davon abhängen, wie Menschen die bestehenden institutionellen Strukturen transformieren. Es kann sein, dass ein nordamerikanischer Sozialismus anders aussehen wird als ein europäischer Sozialismus und dieser wiederum anders als ein südamerikanischer Sozialismus, weil ihre staatlichen Institutionen und Entwicklungsbedürfnisse sehr unterschiedlich sind. Zum Beispiel könnte ich mir für die USA als ein Großprojekt vorstellen, elektrische Bahninfrastruktur durch die Great Plains zu bauen, wo die Farmer einen Rat haben, der den Preis von Getreide mit den Ranchern im Südwesten koordiniert, die Vieh nach Chicago schicken. Ich kann mir vorstellen, wie das Mitbestimmungssystem in Deutschland die Führung von Unternehmen vollständig den Beschäftigten überträgt, während Gewerkschaften die Verantwortung für aktive Arbeitsmarktpolitik übernehmen, die sie mit einem Investitionsrat koordinieren.
Es gibt viele Wege, zu einem Sozialismus zu kommen, der nicht auf einer zentralen Autorität aufbaut, die besonders anfällig für Korruption ist. »Checks and Balances« kann es auch im Sozialismus geben. Eine sozialistische politische Theorie, die dieses Potenzial ausfüllt, würde versuchen, Individuen zu befähigen, auszuhandeln, worauf wir als Gesellschaft Wert oder den Fokus legen, wenn es darum geht, den Überschuss zu verteilen, den wir mit unserer kollektiven Arbeit schaffen.
Hoffnungen statt Ängste projizieren
Eine sozialistische Konzeption von Gerechtigkeit muss den Menschen gute Gründe für ein großes existenzielles Wagnis liefern: Warum sollten sie alles auf die Überwindung des Kapitalismus setzen? Sie müssen glauben können, dass ein solcher Übergang Anreize beseitigen würde, uns zum Schlechten zu verändern, und uns stattdessen helfen würde, uns zu bessern. Sie müssen sich zum Beispiel sicher sein können, dass ihnen ihre Bürgerrechte nicht genommen werden.
Ist »Gerechtigkeit« notwendigerweise reformistisch, wie einige Sozialistinnen und Sozialisten behaupten? Vielleicht. Aber ein Übergang zum Sozialismus wird höchstwahrscheinlich viele Reformen brauchen, die die Kapazitäten der Menschen erhöhen, im Hier und Jetzt frei zu handeln, und damit auch mehr Einsatzbereitschaft und Expertise erzeugen, die eine zukünftige befreite Gesellschaft definitiv brauchen wird. Das ist unabdingbar, um einen Bruch mit etwas so ernstem wie den herrschenden Imperativen eines globalen Wirtschaftssystem herbeizuführen. Es führt kein Weg von Reform zu Revolution, der nicht diese Kapazitäten ausbaut und Individuen in die Lage versetzt, sich selbst zu regieren.
Welche Reformen in die Richtung eines Bruchs führen, ist nicht einfach zu sagen. Aber die Menschen müssen in der Lage sein, die Saat des Sozialismus in diesem Prozess wachsen zu sehen. Sie müssen darauf vertrauen können, dass der Boden fruchtbar für Gerechtigkeit ist, sodass sie ihre Horizonte in Richtung Freiheit ausweiten können. Die Bedeutung von Gerechtigkeit in diesem historischen Prozess abzustreiten, bedeutet zu leugnen, dass sich der Sozialismus in den Augen der Mehrheit moralisch legitimieren muss. Sich dem zu verweigern ist selbstentkräftend, denn es verwandelt den Sozialismus in einen leeren Platzhalter, auf den Menschen Angst und Unsicherheit projizieren, anstatt, wie der marxistische Ökonom Otto Neurath einmal schrieb, ihre Sehnsucht nach einem Ort, an dem der freundliche Mensch sich zu Hause fühlen kann.
Lillian Cicerchia arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Ihre Schwerpunkte sind politische Ökonomie, Feminismus und Kritische Theorie.