22. Juni 2020
Die Lockdowns enden, die Zentralbanken pumpen Geld in die Wirtschaft und die Aktienmärkte erholen sich. Das heißt aber nicht, dass die Wirtschaft auf dem Weg der Besserung ist – im Gegenteil.
Superreiche können sich sicher sein: Egal wie tief die Realwirtschaft fällt – der Staat wird da sein, um die Finanzmärkte wieder anzukurbeln.
Die Aktienmärkte haben sich in den letzten Wochen überall auf der Welt erholt. Das ist nicht zuletzt auf die beispiellosen Maßnahmen der weltgrößten Zentralbanken zurückzuführen. In den USA hat der Aktienindex S&P 500 nun wieder den Stand vom Jahresanfang erreicht. Zusammen mit den derzeit vielerorts stattfindenden Lockerungen der Corona-Schutzvorkehrungen sorgt das bei Marktbeobachterinnen und -beobachtern für Optimismus. Doch leider sind die Aussichten nicht ganz so rosig, wie es scheint.
Die Erholung der Aktienmärkte verdankt sich in erster Linie den Maßnahmen der Zentralbanken – und insbesondere der US-amerikanischen Federal Reserve. Diese hat versprochen, unbegrenzt quantitative Lockerungen durchzuführen – mit anderen Worten: Sie wird solange nicht aufhören, mit neu geschöpftem Zentralbankgeld Vermögenswerte anzukaufen, bis sie überzeugt ist, dass die Gefahr für die Finanzmärkte vorüber ist.
Dazu gibt es eine regelrechte Buchstabensuppe neuer Programme zum Kauf von Vermögenswerten und zur Gewährleistung der Liquidität von Unternehmen, mit der die US-Regierung eine Reihe weiterer Märke aufpäppeln will: Für den Wertpapiermarkt im Allgemeinen gibt es die CPFF; für den Primärmarkt (auf dem neu ausgegebene Finanzprodukte angeboten werden) zusätzlich die PMCCF; und komplementär die SMCCF für den Sekundärmarkt (wo mit bereits in Umlauf befindlichen Finanzprodukten gehandelt wird). Über diese Programme kauft die Federal Reserve nun die Schulden privater Unternehmen auf – ohne dabei deren Kreditwürdigkeit hinreichend zu überprüfen, geschweige denn ihre Einhaltung von Standards in Sachen Umweltschutz und Arbeitsrecht. Außerdem unterstützen die Regierungsprogramme TALF, PDCF und MLF die Märkte für Autokredite, Studiendarlehen und Kommunalanleihen.
Wichtiger, als zu verstehen, wofür genau diese Kürzel stehen und wie diese Programme im Detail aussehen, ist zu verstehen, was das Ganze bedeutet: Die US-Regierung demonstriert damit ihre Bereitschaft, die Schulden von Haushalten, Unternehmen und Staaten aufzukaufen, um Insolvenzen zu verhindern und die Preise von Vermögenswerten zu erhöhen.
Einerseits macht das den Eindruck einer begrüßenswerten kurzfristigen Maßnahme – niemand sagt, die Federal Reserve sollte es einfach so zulassen, dass die Privat-, Unternehmens-, Staats- und Kommunalinsolvenzen durch die Decke gehen. Allerdings bedeutet dieses Vorgehen einen tiefgreifenden Wandel im Wesen des modernen Kapitalismus. Der Staat gibt damit den Unternehmen zu verstehen, dass sie, egal wie viele Schulden sie während eines Wirtschaftsaufschwungs aufnehmen – und egal, zu welchem Zweck sie das tun – von ihm freigekauft werden, wenn dann der Abschwung kommt.
Die Implikationen dieser Botschaft – die auch von vielen anderen Zentralbanken auf der ganzen Welt ausgegeben wird – sind weitreichend. Während die Gewinne in privater Hand verbleiben, werden die Risiken der Unternehmensführung sozialisiert. Es steht den Unternehmen frei, in ihrem Streben nach Profit die Umwelt zu verschmutzen, die Löhne zu senken und Steuern zu vermeiden – mit einer Rettungsaktion des Staates können sie in Krisenzeiten trotzdem rechnen. Die Investorinnen und Investoren sind geschützt – und die Öffentlichkeit und der Planet zahlen dafür den Preis. Langfristig werden die unbegrenzten quantitativen Lockerungen einfach die Preise für Vermögenswerte – einschließlich der Immobilienpreise – in die Höhe treiben und damit die Vermögensungleichheit verschärfen.
»Die Erholung der Aktienmärkte sagt nicht viel über das Schicksal der Realwirtschaft aus.«
Die Erkenntnis, dass die Zentralbanken fast alles zu tun bereit sind, um ihre einheimischen Unternehmen aufzufangen und Privatvermögen zu schützen, hat die Erholung der Aktienmärkte angetrieben. Die Reichen und Mächtigen können sich sicher sein: Egal wie tief die Realwirtschaft fällt – der Staat wird da sein, um die Finanzmärkte wieder anzukurbeln.
Währenddessen wurden die gewöhnlichen Verbraucherinnen und Verbraucher – und ebenso viele kleine Unternehmen – im Regen stehen gelassen. Zuletzt fielen die Beschäftigungszahlen in den USA zwar überraschend positiv aus – allerdings stellte man schnell fest, dass das an einem eklatanten Fehler in der Statistik lag. Man ist sich nun weitgehend einig, dass in Wirklichkeit rund 20 Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent – der höchsten, die es jemals in den USA gegeben hat. In Großbritannien wird die Beschäftigung derzeit noch durch ein System subventionierter Beurlaubung aufrechterhalten. Die meisten Prognosen gehen jedoch davon aus, dass die Arbeitslosigkeit mittelfristig ähnliche Ausmaße annehmen könnte wie in den USA.
Es sind zwar auch kleinen Unternehmen Zuschüsse und Darlehen gewährt worden – diese werden aber erstens nicht ewig halten und sind zweitens ohnehin nicht mehr als ein kleines Pflaster auf einem viel tieferen strukturellen Problem: der massiven Zunahme der Unternehmensverschuldung, die in den letzten zwölf Jahren in vielen Teilen der Welt stattgefunden hat.
Schon vor dem Ausbruch der Krise sahen viele Beobachterinnen und Beobachter die steigende Unternehmensverschuldung in den USA als eine Blase an, die leicht platzen könnte – und auch Großbritannien war nicht weit davon entfernt. Jetzt haben die Banken die britische Regierung davor gewarnt, dass nach dem Auslaufen der so genannten »Bounceback«-Kredite, die den Unternehmen nach Corona schnell wieder auf die Beine helfen sollten, zwischen 40 und 50 Prozent von ihnen in Zahlungsverzug geraten könnten.
Kurz: Die Erholung der Aktienmärkte sagt nicht viel über das Schicksal der Realwirtschaft aus. Denn diese Erholung bezieht ihre Kraft nicht unwesentlich aus den konzertierten Aktionen der Zentralbanken auf der ganzen Welt, die den Preisabsturz der Vermögenswerte auffangen sollen. Auch ist es überhaupt nichts ungewöhnliches, inmitten einer Krise eine solche Erholung zu sehen: So erholten sich die Aktienmärkte auch Mitte 2007, als die Politikerinnen und Politiker die Gefahr kleinredeten, die von der Zunahme an Ausfällen bei Subprime-Hypothekenkrediten ausging.
Die Bombe, die heute zu explodieren droht, ist nicht die Hypothekenschuld, sondern die Unternehmensverschuldung. Selbst die Federal Reserve wird die Weltwirtschaft nicht vor dem Zusammenbruch retten können, wenn ein erheblicher Teil der Unternehmen in den USA – und, in der Tat, der ganzen Welt – auf einmal ausfällt. Aber das bedeutet nicht, dass sie es nicht trotzdem versuchen wird.
Wenn die Corona-Krise endlich zu Ende geht – was allerdings erst in neun bis zwölf Monaten der Fall sein dürfte – werden die Staaten wahrscheinlich einen beträchtlichen Teil der Vermögenswerte ihrer Volkswirtschaften besitzen. Dann werden sie vor der Frage stehen, was sie mit dieser Macht anfangen sollen: Werden sie sie dafür nutzen, den Status quo wieder zusammenzuflicken – oder dafür, eine gerechtere, widerstandsfähigere und nachhaltigere Wirtschaft aufzubauen?
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.