08. Februar 2023
Moderate Umverteilung, Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit und ein investitionsfreundliches Klima waren lange das Erfolgsrezept rechter Regierungen in Polen und Ungarn. Jetzt bedroht die Inflation dieses Modell – und damit auch den Erfolg der Rechten.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán und der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki bei einem Treffen in Kattowitz, 30. Juni 2021.
IMAGO / NurPhotoSeit 2010 ist Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán der Anführer einer »illiberalen Wende« der Europäischen Union. Nachdem Deutschland unter Bundeskanzler Olaf Scholz eine »Zeitenwende« vollzogen und auch Frankreich seine eher versöhnliche Haltung gegenüber Russland aufgegeben hat, nutzt Budapest diese neue Einheitsfront gegen den großen Nachbarn im Osten als Chance für sich. Orbán drohte, ein Veto gegen neue EU-Gelder für die Ukraine einzulegen, wenn nicht 5,8 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbauprogramm für Ungarn freigegeben würden, die aufgrund von Korruption aktuell eingefroren sind.
Orbáns Aggressivität wäre vielleicht kein sonderlich großes Problem, wenn er der Einzige wäre, der eine illiberale Politik verfolgt. Innenpolitisch hat sich jedoch auch die rechte Regierung Polens unter der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) – die ihrerseits wiederum entschieden für die Ukraine eintritt – als ebenso unwillig erwiesen, den Forderungen aus Brüssel nachzugeben. Ebenso wie Budapest benötigt auch Warschau dringend EU-Gelder. Vordergründig geht es in dem Konflikt um politische Werte: ein kosmopolitisches und liberales Kerneuropa auf der einen Seite und die nationalistischen Regierungen an der Peripherie auf der anderen Seite. Hinter den wachsenden Spannungen steckt aber mehr als die Angst vor einem Demokratieabbau in Polen und Ungarn. Im Grunde geht es um das Spannungsverhältnis zwischen einer Wirtschaft, die auf enge Beziehungen zum europäischen Zentrum angewiesen ist, und einer Innenpolitik, die den vermeintlichen Idealen dieses Zentrums eher feindlich gegenübersteht.
Bislang war die Wirtschaftspolitik der illiberalen Regierungen in Osteuropa bemerkenswert widerstandsfähig gegenüber externen Schocks, internationalem Druck und Wahlkontroversen. Das liegt vor allem daran, dass beide Regierungen eine geschickte Mischung aus Nachwende-Neoliberalismus und guter, alter Umverteilungspolitik betreiben. Orbán und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki ernteten die Früchte der Globalisierung und nutzten diese wiederum, um ihre negativen Auswirkungen zu mildern.
Doch die aktuelle Krise gefährdet dieses Modell, weshalb der Zugang zun EU-Rettungsfonds von entscheidender Bedeutung ist. Ob Polen und Ungarn in diesem Wirtschaftsklima bestehen können, hat aber auch weltweit Auswirkungen. Denn letztlich geht es darum, ob ähnliche rechte Projekte erfolgreich eine Politik betreiben können, bei der sie wirtschaftlich mit dem Westen verflochten sind und gleichzeitig politisch vom Westen unabhängig sind.
Seitdem Fidesz (2010) und PiS (2015) damit begonnen haben, die politischen Institutionen ihrer Länder auszuhöhlen, lautete die wichtigste »wirtschaftspolitische« Kritik der liberalen Opposition folgendermaßen: Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit werden ausländische Investoren abschrecken, und die werden wiederum gebraucht, um kontinuierliches Wachstum zu sichern. Das Argument erschien zunächst nachvollziehbar: Polen und Ungarn verfolgen tatsächlich ein Wachstumsmodell, das auf ausländischen Direktinvestitionen transnationaler Konzerne beruht. Das sozialistische Erbe – gut ausgebildete Arbeitskräften und eine leistungsfähige Industriestruktur – bot westlichen Unternehmen in den 1990er Jahren ein attraktives Umfeld, um ihre Produktionskosten angesichts der wachsenden Konkurrenz aus Ostasien zu senken. Mit diesen Investitionen aus dem Ausland galten Polen und Ungarn als Vorzeigebeispiele für eine erfolgreiche kapitalistische Transformation – im Gegensatz zu postsowjetischen Nachbarländern wie der Ukraine, die schon vor dem Angriffskrieg Russlands zu den ärmsten Ländern der Region gehörte.
Angesichts der bedrohten Rechtsstaatlichkeit hofften die europäischen Liberalen, diejenigen Unternehmen, die die wirtschaftliche Entwicklung Polens und Ungarns vorangetrieben hatten, würden sich aus so einem rechtlich und politisch unsicheren Umfeld zurückziehen. Die Abwanderung der Firmen würde die jeweilige Regierung zum Einlenken veranlassen.
Ein Jahrzehnt nach der »illiberalen Wende« hat sich diese Einschätzung allerdings nicht bewahrheitet. Polen und Ungarn haben ihr hohes Wachstum beibehalten und ziehen weiterhin ausländische Investitionen an, vor allem im verarbeitenden Gewerbe und bei den Dienstleistungen. Die Gründe für diese Kontinuität liegen in einem hybriden ökonomischen Ansatz und einem unausgesprochenen Konsens zwischen Politik und Wirtschaft, den die Rechte geschickt steuert: In einigen Bereichen wird den Märkten freie Hand gelassen, während in anderen konsequent eingegriffen und reguliert wird.
Auf den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 folgte eine scharfe Wende hin zu einem neoliberalen Wirtschaftsmodell. Der sogenannte Washington Consensus zielte darauf ab, die sozialistischen Volkswirtschaften schnellstmöglich zu zerlegen und die in Mittel- und Osteuropa wütende Krise durch die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Liberalisierung des Außenhandels zu bändigen. Aktuell wird sowohl in Polen als auch in Ungarn diese bekannte neoliberale Politik fortgesetzt und weder die PiS noch Fidesz scheinen sich ernsthaft dagegen zu wehren.
Polen und Ungarn haben niedrige Einkommenssteuern und hohe Mehrwertsteuersätze sowie überaus regressive Steuersysteme, um Investitionen anzuziehen. Transnationale Konzerne werden nach wie vor mit dem Versprechen von »Sonderwirtschaftszonen« angelockt, ein Codewort für eine niedrige Besteuerung von Unternehmen. Flexible Arbeitsmärkte und ein schwacher Arbeitsschutz machen beide Länder zu attraktiven Zielen für ausländische Direktinvestitionen. Obwohl in Polen einst die einflussreiche Gewerkschaftsbewegung Solidarność entstand und beide Länder über eine große Industrie-Arbeiterschaft verfügen, sind die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften heute äußerst niedrig. In der großen Politik sind sie praktisch irrelevant.
Im Jahr 2021 unternahm die PiS einen Versuch, das Steuerrecht zu reformieren und Steuersätze stärker an das Einkommen zu koppeln, gab aber letztlich dem Druck der Kapitaleigner nach. Die Reform wurde deutlich abgeschwächt. Als Fidesz in Ungarn an die Macht kam, führte die Partei zügig eine beispiellose Steuersenkung durch. Sie schaffte die progressive Besteuerung ab und senkte die Körperschaftssteuersätze so sehr, dass sie in Ungarn nun auf dem niedrigsten Niveau in der gesamten EU sind. Im Jahr 2018 setzte Orbáns Regierung trotz der Proteste das sogenannte »Sklavengesetz« um. Dieses Gesetz erlaubt es Unternehmen, die Beschäftigten zu bis zu vierhundert Überstunden pro Jahr zu verpflichten.
Regressive Steuermodelle und laxer Arbeitsschutz sollten Auslandsdirektinvestitionen und Exporte ankurbeln, von denen das Wachstum nach dem EU-Beitritt abhängig geworden war. Die Fidesz- und die PiS-Regierungen konnten zum ersten Mal seit den frühen 1990er Jahren eine positive Leistungsbilanz vorweisen und sorgten dafür, dass der Anteil der Exporte am polnischen und ungarischen BIP rasant anstieg. Beide Länder nutzten die Nähe zum wichtigen Industriestandort Deutschland und dessen Lieferketten und spezialisierten sich (in unterschiedlichem Maße) auf die Herstellung und Zulieferung von Autos und Elektronik. Inzwischen durchlaufen Polens und Ungarns Industriebranchen einen Prozess der technologischen Aufrüstung und besetzen zunehmend Hightech-Nischen in den Lieferketten. Besonders zu erwähnen ist an dieser Stelle die ungarische Stadt Debrecen, die ein neues europäisches Zentrum für die Herstellung von Batterien für E-Autos geworden ist.
Auch wenn weder Morawiecki noch Orbán von der wirtschaftlichen Konkurrenz durch reiche Länder wie Deutschland begeistert sind, akzeptieren sie diesen Kompromiss, den die Globalisierung für das Wachstum ihrer Länder bietet. Der Hauptgrund dafür liegt auf der Hand: Wachstum ermöglicht es ihnen, ihre konservativen, aber auch stark umverteilenden sozialpolitischen Programme voranzutreiben.
Eine Institution, die die marktwirtschaftlichen Revolutionen der 1990er Jahre überlebt hat, ist der Sozialstaat. Beide Länder haben hohe Sozialversicherungsausgaben beibehalten, die sich insbesondere auf die Renten konzentrieren. In der Zeit nach der Wende wurden ältere Arbeiterinnen und Arbeiter oft frühzeitig in den Ruhestand versetzt, um so die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der Politikwissenschaftler Pieter Vanhuysse bezeichnete diese Strategie als den »großen abnormalen Rentenboom«, da er zum Aufbau einer beträchtlichen Wählerbasis unter den Rentnerinnen und Rentnern führte. Bis heute erfahren rechtspopulistische Parteien von dieser Gruppe die stärkste Unterstützung und das sorgt dafür, dass der Sozialstaat in den jeweiligen Ländern in seiner bisherigen Form bestehen bleibt.
Sowohl Morawiecki als auch Orbán haben dieses starke sozialstaatliche Erbe erfolgreich genutzt. Mit umfangreichen finanziellen Zuwendungen für die pensionierte Kernwählerschaft konnte die politische Unterstützung dieser großen Gruppe gesichert werden.
Seit 2015 hat die PiS die Einführung der sogenannten dreizehnten und vierzehnten Rente (ein jährlicher, pauschal gezahlter »Rentenbonus«) durchgesetzt, das Renteneintrittsalter gesenkt und gute Rentenanpassungsraten gesichert. Außerdem führte die Regierung ein großzügig bemessenes Kindergeld von monatlich rund 110 Euro pro Kind ein. Es war die erste umfassende und universell gezahlte Familienleistung seit der Wende.
Die Fidesz-Regierung in Ungarn, die kurz nach der Finanzkrise 2008 an die Macht kam, war zunächst zurückhaltender, hat in den vergangenen Jahren aber ebenfalls großzügigere Zuwendungen ausgezahlt. Vor den Wahlen 2022 gab Orbán einen Rentenbonus nach polnischem Vorbild in Auftrag, der sich zusammen mit weiteren Steuersenkungen auf einen Umfang von 5 Milliarden Euro belief. Die Maßnahmen folgten auf eine Renationalisierung der zuvor privatisierten Rentenpflichtversicherung und eine beträchtliche Anhebung des Leistungssatzes. Neben der Rentenpolitik konzentrierte sich die ungarische Regierung im Allgemeinen auf die Familie: Steuersenkungen, Sozialleistungen und vergünstigte Zinsen für Baukredite werden Familien mit Kindern in Aussicht gestellt.
Insgesamt verfolgt diese illiberale politische Agenda zwei Ziele: die Förderung einer sozial-konservativen Politik und den Aufbau einer breiten Basis für die Rechte. Die Sozialleistungen, die häufig ohne Bedürftigkeitsprüfung gewährt werden, richten sich vor allem an Familien mit Kindern oder ältere Menschen. Da die Empfängerinnen und Empfänger dieser Leistungen so zahlreich sind, ist es der Rechten gelungen, eine Basis in einem breiten Teil der Gesellschaft aufzubauen. In Polen haben beispielsweise mehr als 3,5 Millionen Kinder Anspruch auf das eingeführte Kindergeld, das wiederum die Kinderarmut bereits im ersten Jahr um drei Viertel gesenkt hat. In den »aufstrebenden« Volkswirtschaften im Osten, in denen die Politik sozialpolitische Nachhaltigkeit oft als Hindernis für das wirtschaftliche Wachstum betrachtete, waren die Programme der PiS und Fidesz somit echte »Game Changer«.
Gegen diese sozialpolitische Agenda formierte sich eine Allianz aus Liberalen und Kapital, die auf die Staatsverschuldung verwies. Bis zur COVID-Krise haben beide Länder ihre Schulden im Verhältnis zum BIP allerdings kontinuierlich gesenkt und das Defizit unter 3 Prozent des BIP gehalten. Wie war das angesichts der lockeren Finanzpolitik beider Länder möglich? Die Wirtschaftsleistung war sowohl in Polen als auch in Ungarn so stark, dass die zusätzlichen Sozialausgaben durch die steigenden Staatseinnahmen wirkungsvoll aufgefangen werden konnten. Das ununterbrochene, von ausländischen Direktinvestitionen und Exporten getragene Wachstum verschaffte den Regierungen genügend finanziellen Spielraum, um ihre weitreichenden sozialpolitischen Programme umzusetzen. Dieses Wachstum hatte auch direkte Auswirkungen auf die Finanzpolitik: Niedrige Zinsen bedeuteten billige Schuldenaufnahme und lockere Haushaltsbeschränkungen.
Doch die Fokussierung auf finanzielle Leistungen für die Kernwählerschaft war nicht in jeder Hinsicht erfolgreich. Das Ziel, mit den familienfreundlichen Maßnahmen die Geburtenrate zu erhöhen, wurde beispielsweise nicht erreicht: Die demografischen Aussichten für Polen und Ungarn sind so düster wie eh und je. Die rechten Regierungen haben außerdem einige staatliche Dienstleistungen vernachlässigt, was zu einer Privatisierung des Gesundheitswesens und einer überaus dürftigen Finanzierung des Bildungswesens geführt hat. Die unterbezahlten Lehrkräfte, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte im öffentlichen Dienst streiken regelmäßig, aber sowohl die Gehälter als auch die staatlichen Ausgaben für diese Branchen folgen dem Wirtschaftswachstum in der Regel nur sehr schleppend.
Trotz dieser Misserfolge war die hybride Wirtschaftspolitik der Illiberalen insgesamt bisher ein Erfolg, was sich zum einen in Wahlergebnissen als auch in den ökonomischen Eurostat-Ländervergleichen zeigt. Fidesz hat die ungarischen Parlamentswahlen 2022 mit einem veritablen Erdrutschsieg gewonnen; die PiS hat ihre Spitzenposition in der polnischen Politik seit 2015 gehalten. In den vergangenen zehn Jahren verzeichneten sowohl Polen als auch Ungarn ein solides BIP-Wachstum und einige der niedrigsten Arbeitslosenquoten in der EU. Selbst die Corona-Lockdowns konnten dem bisherigen Wirtschaftsstil nichts anhaben: Es wurden großzügige Notfallpakete geschnürt, und der Aufschwung nach den Lockdowns verlief zunächst reibungslos.
Doch in den vergangenen zwölf Monaten haben sich die Dinge gewandelt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Schwachstellen des osteuropäischen Wachstumsmodells aufgezeigt, insbesondere in Bezug auf die Zusammenarbeit mit dem deutschen Industriekomplex, dessen wichtigste Industrien von den billigen Ölexporten aus Russland abhängig sind. Während die Exporte nach Deutschland in Polen und Ungarn in der Vergangenheit als Stabilisatoren bei der Bewältigung der Krisen dienten, scheint die Wirtschaft dieses Mal weniger widerstandsfähig gegenüber den globalen Turbulenzen zu sein. Wie sich der Verzicht auf russisches Gas langfristig auf die Industrieproduktion auswirken wird, lässt sich jetzt noch nicht klar sagen, aber aktuell sieht es so aus, als könnte der drohende Wirtschaftsabschwung bald auch an der östlichen Peripherie der EU stärker zu spüren sein.
Dabei sind die Probleme der deutschen Industrie nicht einmal die größte Bedrohung für die Wirtschaftspolitik von Morawiecki und Orbán. Das Hauptproblem ist die Inflation. Der Osten der EU steht bei den Inflationsraten ganz oben. In Ungarn liegt die Rate seit einiger Zeit bei über 20 Prozent, Polen folgt dicht dahinter. In früheren Krisen, insbesondere während der Pandemie, haben beide Volkswirtschaften von ihren nationalen Währungen und damit von ihrer unabhängigen Geldpolitik profitieren können. Dass sie nicht zur Eurozone gehören, scheint dieses Mal aber eher eine Belastung zu sein, weil Unsicherheit und Wechselkursschwankungen zunehmen. Die Instabilität von Lieferketten lässt sich maßgeblich auf die Inflation zurückführen. In Reaktion haben die polnische und die ungarische Zentralbank ihre Zinssätze auf ein Niveau angehoben, das es sonst nirgendwo in der EU gibt – und das, obwohl die Auswirkungen solcher Zinserhöhungen auf die Inflation umstritten sind.
Wenn die deutsche Wirtschaft einbricht, wird sich das also negativ auf das Wachstum in Polen und Ungarn auswirken. Die hohen Zinsen sorgen derweil für weniger Binnenkonsum, was den heimischen Wirtschaften einen weiteren Schlag versetzt. Darüber hinaus schränkt die plötzlich deutlich teurere Kreditaufnahme die finanzpolitischen Möglichkeiten und Mittel ein, die in der Vergangenheit eingesetzt wurden. Stehen die Volkswirtschaften Polens und Ungarns also kurz vor der Katastrophe? Nicht unbedingt. Ihre Industrieproduktion und der wachsende Dienstleistungssektor sind immer noch relativ solide und werden den Ländern helfen, den kommenden Abschwung wirtschaftlich zu meistern. Die Katastrophe könnte allerdings von anderer Seite kommen.
Für sich allein genommen könnte das langsamere Wachstum durch eine weitere Strategie zur Einkommenssteigerung der Haushalte kompensiert werden: Es könnte (weitere) effektive Geldtransfers zum Schutz der Schwächsten geben. Langfristig wird es dabei aber schwer, mit der zweistelligen Inflationsrate mitzuhalten. Die realen Kaufkraftverluste sind bereits jetzt spürbar. Andererseits wäre ein plötzlicher Stopp der bisherigen Strategie, die zum Markenzeichen der Illiberalen wurde, eine Gefahr für ihre Popularität. Die zahlreichen Menschen, deren Lebensumstände sich im Laufe der illiberalen Regierungszeiten deutlich verbessert haben, werden die ersten sein, die unter den plötzlich steigenden Lebenshaltungskosten leiden.
Auch die Mittelschicht hat Grund zur Sorge. In beiden Ländern ist der Immobilien- und Hypothekenmarkt, der jahrelang boomte, durch die Zinserhöhungen praktisch zum Erliegen gekommen. Viele Schuldner kommen den ständig steigenden Darlehenszahlungen kaum hinterher. Darüber hinaus hat die jahrelange Vernachlässigung des öffentlichen Dienstes dazu geführt, dass die Bevölkerung zunehmend auf private Schulen und eine privatisierte Gesundheitsversorgung angewiesen ist; das soziale Sicherheitsnetz wurde effektiv zusammengeschrumpft.
Politisch sind diese Probleme für Orbán weit weniger gravierend: Fidesz hat die Wahlen erst kürzlich deutlich gewonnen, sodass der ungarische Ministerpräsident viel Zeit hat, um sich die nächsten Schritte zu überlegen, bevor er seine Wählerinnen und Wähler erneut mobilisieren muss. Die Aussichten für die PiS sind hingegen weniger rosig. Die Parlamentswahlen 2023 stehen bald an, und obwohl die Partei in den Umfragen immer noch vorne liegt, scheint sie im Moment auf dem besten Weg zu sein, ihre Mehrheit an eine potenzielle Koalition zahlreicher Oppositionsparteien zu verlieren. Vor diesem Hintergrund könnten die EU-Konjunkturmittel sowohl eine Erleichterung für die polnische Wirtschaft als auch ein dringend benötigtes Wahlkampfmittel für die PiS werden. Das Geld würde die Wirtschaft ankurbeln und damit die Einkommen schützen, aber auch zum grünen Wandel beitragen, bei dem sowohl Polen als auch Ungarn stark hinterherhinken.
Die gegenwärtige und zukünftige Krise einer illiberalen Wirtschaft und Politik geht jedoch über die Personalien Orbán und Morawiecki hinaus. Eine Transformation des hybriden, halb-abhängigen Wirtschaftsmodells, das viele Länder außerhalb des westeuropäischen »Kerns« entwickelt haben, wird immer dringender. Das sollte man besonders im Auge behalten. Wir brauchen sozialistische Impulse, um uns in diesen Aktualisierungsprozess einzuschalten.
Westeuropa sollte aber auch aus einem anderen Grund genau hinschauen. Die neue italienische Regierung unter der Führung von Giorgia Meloni stützt sich zwar auf ihre Wählerschaft im wohlhabenden und unternehmerfreundlichen Norden des Landes, muss aber auch Italiens umfangreichen Sozialstaat verwalten und die große Wählerschaft der Rentnerinnen und Rentner in ihren politischen Entscheidungen berücksichtigen. Marine Le Pen strebt in Frankreich die Präsidentschaft im Jahr 2026 an und ist dafür bekannt, dass sie sowohl mit der polnischen als auch mit der ungarischen Regierung freundschaftliche Beziehungen pflegt. Insgesamt zeigt sich: Polen und Ungarn setzen das illiberale Modell schon seit mehreren Jahren mit (bisher) großem Erfolg um. Die Frage, wie sie nun handeln werden – und wie erfolgreich ihr Vorgehen ist –, könnte entweder als Vorbild oder als Abschreckung für die Entstehung illiberaler Regierungen im Westen dienen.
Jan Boguslawski promoviert an der Sciences Po Paris. Er forscht zur Transformation des Wohlfahrtsstaats in Zentral- und Osteuropa.