12. Dezember 2025
Die Wohnungslosigkeit in Deutschland ist innerhalb eines Jahres um 11 Prozent angestiegen. Das ist die Folge einer Politik, die Menschen in die Prekarität drängt und Wohnungslose lieber aus Innenstädten räumt, als ihnen aus der Misere zu helfen.

Ein Wohnungsloser schläft unter dem Wandbild eines schlafenden Löwen.
Die neue Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe markiert einen politischen Offenbarungseid. Mehr als eine Million Menschen waren im Jahr 2024 in Deutschland wohnungslos, darunter 264.000 Kinder und Jugendliche. 56.000 Menschen lebten dauerhaft auf der Straße, ohne Unterkunft, Schutz oder Perspektive. Diese Zahlen sind kein statistischer Ausreißer, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen, die Wohnraum zur Ware gemacht und Millionen Menschen in Unsicherheit gestürzt haben.
Der Anstieg der Wohnungslosigkeit um 11 Prozent innerhalb eines Jahres reiht sich ein in eine jahrelange dramatische Entwicklung. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Wohnungslosen nahezu kontinuierlich gestiegen. Allein in den Jahren 2021 bis 2023 hat sich die Zahl wohnungsloser Menschen mehr als verdoppelt. Stetig steigende Mieten, der Rückgang günstiger Wohnungen, Privatisierungen kommunaler Bestände, zunehmende Niedriglohnbeschäftigung und wachsende rechtliche Unsicherheit für viele EU-Arbeitsmigrantinnen und -migranten verstärkten den Trend.
Wohnungslosigkeit ist im Kapitalismus kein Ausnahmezustand, sondern Bestandteil eines Systems, das das elementare Bedürfnis nach einem Zuhause dem Renditedruck unterordnet. Für die einen ist eine Wohnung Lebensmittelpunkt, für die anderen ein Anlageprodukt.
»Verdrängung produziert keine Ordnung, sondern unsichtbares Leid.«
Deutschland leidet seit Jahren unter einem strukturellen Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Diese Knappheit ist politisch organisiert: Der soziale Wohnungsbestand ist seit den 1990er Jahren dramatisch geschrumpft. 1990 gab es rund 2,9 Millionen Sozialwohnungen, bis 2020 sank der Bestand auf 1,1 Millionen. Anfang 2025 lag er nur noch bei etwa 1,05 Millionen – ein historisches Tief. Grund dafür ist nicht nur der mangelnde Neubau, sondern auch das systematische Auslaufen der Mietpreisbindungen sowie politische Prioritäten der 1990er und 2000er Jahre, die öffentliche Wohnungsbestände privatisierten, statt sie auszubauen. Die Folgen sind explodierende Mieten, zunehmende Verdrängung und ein Alltag, der für immer mehr Menschen vom Kampf gegen die Prekarität geprägt ist.
Die Wohnungsfrage ist eine Klassenfrage. Wer wenig besitzt, keine Rücklagen hat und keinen Einfluss auf Bodenpreise ausüben kann, ist den Marktmechanismen ausgeliefert. Während Eigentümer von steigenden Mieten und Bodenwerten profitieren, werden Mieterinnen und Mieter zu Renditequellen. Soziale Sicherheit wird zur Verhandlungssache – abhängig von Einkommen, Aufenthaltsstatus, Gesundheit und Zufall.
Ein genauer Blick auf die aktuellen Daten zeigt zudem, wie stark Wohnungslosigkeit entlang sozialer und rechtlicher Linien verläuft. Rund 80 Prozent der wohnungslosen Menschen in Deutschland hatten 2024 keine deutsche Staatsbürgerschaft. Diese enorme Quote ist kein Hinweis auf »kulturelle« Unterschiede, sondern Ausdruck struktureller Benachteiligung. Viele Menschen kamen aus Osteuropa – unter anderem aus Polen, Bulgarien und Rumänien – für einfache, schlecht bezahlte Jobs nach Deutschland. Wer diese Arbeit verliert, hat häufig keinen Anspruch auf Hilfesysteme.
»Wer monate- oder jahrelang auf der Straße lebt, entwickelt häufig schwere depressive Episoden, Psychosen oder Traumafolgen und viele versuchen, Schlafmangel, Kälte, Gewalt und sozialen Stress mit immer stärkeren Substanzen zu betäuben.«
EU-Bürgerinnen und -Bürger mit Meldeadresse im Herkunftsland, die ihre wirtschaftliche Grundlage verlieren, gelten formal schnell als »freiwillig obdachlos«, sodass Notunterkünfte sich für sie nicht zuständig fühlen. Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger wiederum tauchen in der Statistik oft gar nicht erst als wohnungslos auf. Wer keinen regulären Aufenthaltsstatus hat, erhält im besten Fall ein Angebot zur Ausreise, aber keine Unterkunft. Diese Trennlinie entscheidet real darüber, wer einen Schlafplatz bekommt und wer auf der Straße landet.
Doch Wohnungslosigkeit entsteht nicht allein aus ökonomischer Prekarität. Sie hat vielfältige soziale Ursachen, die in einer Gesellschaft, die den Wert eines Menschen an seine Leistungsfähigkeit knüpft, oft übersehen werden. Psychische Erkrankungen, Suchtprobleme oder akute Lebenskrisen sind selten isolierte Schicksale, sondern häufig Ausdruck enormen gesellschaftlichen Drucks. Abstiegsängste, Überforderung und fehlende Unterstützung führen viele Menschen in Situationen, in denen sie den Halt verlieren.
Nicht alle Wohnungslosen sind suchtkrank oder psychisch schwer belastet, doch immer mehr entwickeln diese Probleme erst durch das Leben auf der Straße. Die Stigmatisierung dieser Menschen verschärft das Problem zusätzlich: Ihnen wird die alleinige Verantwortung für eine Situation zugeschrieben, die nicht zuletzt strukturell produziert wurde. Gleichzeitig verlangt das Hilfesystem oft bürokratische Stabilität wie Terminzuverlässigkeit, Bindungsfähigkeit oder Papierarbeit, die Menschen in akuten Krisen schlicht nicht leisten können.
Die Verelendung, die mit Wohnungslosigkeit einhergeht, ist inzwischen selbst ein struktureller Faktor der Krise. Psychische Erkrankungen und Substanzkonsum treten dabei immer häufiger kombiniert auf. Wer monate- oder jahrelang auf der Straße lebt, entwickelt häufig schwere depressive Episoden, Psychosen oder Traumafolgen und viele versuchen, Schlafmangel, Kälte, Gewalt und sozialen Stress mit immer stärkeren Substanzen zu betäuben.
In vielen Städten verbreiten sich billig verfügbare, hochwirksame synthetische Drogen, die schnell abhängig machen und die körperliche und psychische Gesundheit weiter zerstören. Der öffentliche Raum spiegelt diese Dynamik wider: Für immer mehr Menschen ist der Substanzkonsum nicht Ursache, sondern Folge der Wohnungslosigkeit und zugleich ein weiterer Treiber der Verelendung, weil er Hilfszugänge erschwert, Stigmatisierung verstärkt und das soziale Umfeld noch instabiler macht.
»Wenn Drogenkonsum und Sexarbeit in immer abgelegenere oder unsichere Räume gedrängt werden, steigen die Risiken massiv: Gewalt, sexuelle Übergriffe, Erpressung und Abhängigkeiten nehmen zu, während der Zugang zu medizinischer Hilfe, Beratung und Schutz sinkt.«
Statt diese Prozesse sozialpolitisch abzufedern, reagieren viele Städte mit Kriminalisierung und Verdrängung. Straßenszenen werden geräumt, Menschen aus Innenstadtbereichen verdrängt, konsumierende Wohnungslose verfolgt oder mit Ordnungspolitik traktiert. Doch diese Maßnahmen verschärfen die Lage. Wer versteckt konsumieren muss, ist für Hilfsangebote schwieriger erreichbar und für Gewalt, Überdosierungen oder Ausbeutung deutlich anfälliger. Besonders dramatisch ist die Situation für wohnungslose Menschen, die in der Prostitution überleben. Wenn Drogenkonsum und Sexarbeit in immer abgelegenere oder unsichere Räume gedrängt werden, steigen die Risiken massiv: Gewalt, sexuelle Übergriffe, Erpressung und Abhängigkeiten nehmen zu, während der Zugang zu medizinischer Hilfe, Beratung und Schutz sinkt. Verdrängung produziert keine Ordnung, sondern unsichtbares Leid.
Das Hilfesystem selbst versagt strukturell. Viele Angebote sind hochschwellig und setzen eine Stabilität voraus, die Menschen ohne Wohnung nicht haben. Psychiatrische Kliniken und Krankenhäuser entlassen Betroffene aufgrund des Drucks der Krankenkassen nach kurzer Behandlung wieder auf die Straße. So entsteht ein Drehtür-Effekt: kurze Behandlung, Rückkehr auf die Straße, nächste Krise, erneute Aufnahme. Armut und Elend werden verwaltet, nicht überwunden. Selbst wer in eine Notunterkunft kommt, findet dort häufig menschenunwürdige Bedingungen vor: Überfüllung, Gewalt, Suchtprobleme, fehlender Schutz. Die Lebenserwartung wohnungsloser Menschen liegt teils dreißig Jahre unter dem Durchschnitt. Diese Entwicklung wird in der Regel politisch in Kauf genommen.
Gleichzeitig verschärft die Bundesregierung die Lage aktiv. Die geplante Reform im Bürgergeld setzt genau dort an, wo Menschen am verletzlichsten sind. Sie sieht vor, Leistungen schneller und drastischer zu kürzen und im Extremfall sogar die Kosten der Unterkunft zu streichen. Damit wird das Dach über dem Kopf zu einer Art Disziplinierungsinstrument. Wer inmitten psychischer Krisen, Suchterkrankungen, instabiler Arbeitsverhältnisse oder schierer Erschöpfung einen Termin versäumt, soll seine Wohnung verlieren, ungeachtet der Umstände.
Diese Form der Sanktionspolitik setzt auf Abschreckung statt auf soziale Sicherheit und blendet systematisch aus, warum Menschen in Krisen überhaupt Termine versäumen: weil sie im Alltag ums Überleben kämpfen und das Hilfesystem sie mit Anforderungen konfrontiert, die in ihrer Situation kaum erfüllbar sind. Eine solche Politik individualisiert Armut und macht Menschen erpressbar. Sie schützt nicht vor dem Absturz, sie erzeugt ihn, indem sie die existenzielle Unsicherheit steigert, die Wohnungslosigkeit überhaupt erst hervorbringt.
Dass es anders geht, belegen internationale Beispiele eindrücklich. Finnlands »Housing-First«-Ansatz hat Wohnungslosigkeit fast vollständig zurückgedrängt, weil er das Verhältnis von Wohnung und Hilfe umkehrt: Erst kommt die Wohnung, dann alles Weitere – und zwar freiwillig. Wer eine stabile Wohnsituation hat, kann überhaupt erst Therapien beginnen, Arbeit aufnehmen oder sich von Sucht und Verletzung erholen.
Wien zeigt seit Jahrzehnten, dass ein gemeinnütziger, nicht renditeorientierter Wohnungssektor Mieten dauerhaft stabil halten kann und gleichzeitig gesellschaftlich integriert. Und in Berlin hat die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« deutlich gemacht, was passiert, wenn Mieterinnen und Mieter beginnen, die Eigentumsfrage selbst zu stellen: Die Kräfteverhältnisse verschieben sich und plötzlich wird sichtbar, dass demokratische Kontrolle über Wohnraum kein utopisches Konzept, sondern eine realistische Option ist. Diese Beispiele widerlegen den Mythos, Wohnungslosigkeit sei ein Naturphänomen. Sie ist das Ergebnis politischer Entscheidungen – und kann genauso gut durch politische Entscheidungen beendet werden.
»Eine Lösung der Wohnungsfrage ist möglich, aber nur, wenn der Markt als Leitmechanismus ausgeschaltet wird.«
Die Politik in Deutschland geht stattdessen den umgekehrten Weg: Die Notversorgung ist vielerorts ein System der Verwahrung, nicht der Hilfe, und Präventionsstrukturen sind chronisch unterfinanziert. Hilfseinrichtungen arbeiten seit Jahren an der Belastungsgrenze, während die Politik Reformen vorantreibt, die Menschen noch schneller in Wohnungslosigkeit treiben.
Eine Lösung der Wohnungsfrage ist möglich, aber nur, wenn der Markt als Leitmechanismus ausgeschaltet wird. Dazu gehören ein massiver Ausbau des öffentlichen und gemeinnützigen Wohnungsbaus, der Ankauf privater Bestände durch Kommunen, strikte Mietregulierungen, ein Ende von Energiesperren und ein Sicherungssystem, das Menschen vor dem Absturz schützt. Vor allem aber braucht es die politische Entscheidung, Wohnraum als öffentliches Gut und Menschenrecht zu behandeln.
Wohnungslosigkeit ist kein Naturereignis. Sie ist das Ergebnis politischer Prioritäten, wirtschaftlicher Interessen und einer Eigentumsordnung, die Sicherheit für wenige und Unsicherheit für viele schafft. Eine sozial gerechte Gesellschaft wäre eine, in der niemand seine Wohnung verlieren kann und in der das Recht auf Wohnen nicht verhandelt, sondern garantiert wird.
Thorben Peters ist Landesvorsitzender der Linken Niedersachsen und arbeitet als Leiter der Obdachlosenunterkunft »HerbergePlus« in Lüneburg.