02. Mai 2020
Vom gescheiterten Widerstand gegen Hitler bis zum Antikommunismus des Kalten Kriegs: Das Leben des Juristen Wolfgang Abendroth war gezeichnet von den Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch als sozialistischer Intellektueller lebte er vor, was es heißt, akademische Arbeit und politischen Kampf unlösbar zu verbinden.
Wolfgang Abendroth spricht vor einer Studentenversammlung im Audimax der Universität Marburg, 1972.
Ein Partisanen-Professor im Land der Mitläufer«, diesen ehrenvollen Titel erhielt Wolfgang Abendroth Mitte der 1960er Jahre von Jürgen Habermas. Er bringt Abendroths außergewöhnlichen Charakter auf den Punkt – und seine Bedeutung für ein Jahrhundert der Kämpfe gegen die kapitalistischen Eliten in drei deutschen Staaten.
Vor allem in der westdeutschen Bundesrepublik war Abendroth der bedeutendste linke Intellektuelle. Geboren wurde er 1906 als Sohn eines sozialdemokratischen Lehrers im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Frankfurt am Main. Früh engagierte er sich in der Jugend der Kommunistischen Partei (KPD) und las neben dem Kommunistischen Manifest Schriften der linkskommunistischen niederländischen Theoretiker Hermann Gorter und Anton Pannekoek. Bald wurde er vor allem von August Thalheimer und Heinrich Brandler, den Protagonisten einer »Einheitsfrontpolitik« der KPD, beeinflusst. Diese Strategie, die – im Gegensatz zur ultralinken Strömung innerhalb der Partei – für gemeinsame Aktionen von Kommunisten und Sozialdemokraten warb, diente Abendroth zeit seines Lebens als politischer Kompass.
Ab 1924 studierte er in Frankfurt Jura, keineswegs aus Neigung, sondern um später als Funktionär in der Arbeiterbewegung zu wirken. Richtungweisend für sein staats- und verfassungsrechtliches Denken wurden die Auffassungen des Querdenkers Hermann Heller, der den Zusammenhang zwischen ökonomischer Struktur und Rechtsformen der Gesellschaft erkannte. Heller schrieb dem Sozialstaat die Funktion zu, die Übermacht der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zugunsten der breiten Bevölkerungsmehrheit einzudämmen.
Die Aufgaben des Sozialstaats blieben für Abendroth auch zukünftig ein zentrales Thema des Kampfes der Arbeiterbewegung. Seit Mitte der 1920er Jahre war Abendroth in der nur wenige hundert Mitglieder zählenden »Roten Studentengruppe« aktiv. Dazu gehörte einiger Mut, wenn man bedenkt, dass die deutschen Universitäten – und zwar sowohl auf der Seite der Professoren als auch der Studenten – damals eine Bastion reaktionären, nationalistischen und antisemitischen Denkens waren.
Während aus dem gebildeten Bürgertum stammende, mit den realen Problemen der Arbeiterinnen und Arbeiter oft nur wenig vertraute kommunistische Intellektuelle wie Ruth Fischer, Werner Scholem und Franz Borkenau innerhalb der KPD ultralinke Positionen bezogen, trat der mit der politischen Arbeiterjugend verbundene Abendroth für die Einheit von Kommunisten und Sozialdemokraten ein und lehnte die »Sozialfaschismus«-These der Parteiführung ab. Die These war, dass die Krisenpolitik der SPD bereits faschistisch und die Sozialdemokratie der unmittelbare Hauptfeind der KPD seien, was dazu beitrug, die Spaltung der beiden Arbeiterparteien zu vertiefen und den Nazis die Machtübernahme zu erleichtern.
1928 wurde der inzwischen in die KPD eingetretene Abendroth wegen seiner Kritik an deren ultralinkem Kurs aus der Partei ausgeschlossen. Er schloss sich der »rechten« kommunistischen Opposition, der KPO, an und stellte außerdem sein juristisches Wissen der »Roten Hilfe« zur Verfügung, die politisch verfolgte Linke unterstützte. Seine juristische Ausbildung konnte er noch in Deutschland abschließen, die Nazis untersagten ihm danach jedoch jede weitere juristische Tätigkeit. Abendroth war gezwungen, seine begonnene Dissertation über Betriebsräte abzubrechen und danach in der neutralen Schweiz, in Bern, mit einer Arbeit über ein völkerrechtliches Thema zu promovieren. Seine Dissertation wurde in Deutschland umgehend beschlagnahmt und Abendroth 1937 wegen seiner Tätigkeit im antifaschistischen Widerstand in Berlin verhaftet. Vier Jahre Zuchthaus lautete das Urteil, Anklage: »Vorbereitung zum Hochverrat«.
Öffentlich hat er nie über die Torturen gesprochen, die er in den vier Jahren Gestapo-Haft erlitt. Doch als er später in Marburg Vorlesungen hielt, geschah manchmal etwas Unerwartetes und Bedrückendes: Abendroth, der frei und leidenschaftlich sprach, brach plötzlich mitten im Satz ab und verstummte. An seinem Gesicht konnte man ablesen, dass es in ihm arbeitete, er darum rang, seine Sprachfähigkeit wieder zu erlangen. Es vergingen Minuten, ohne dass er auch nur ein einziges Wort herausbrachte. Im Auditorium herrschte währenddessen Totenstille, kein Wort, kein Räuspern, keine Bewegung, bevor er den Satz, den er hatte unterbrechen müssen, wieder aufnehmen konnte. Später wurde uns klar, dass er diese Aphasien seinen Nazi-Peinigern zu verdanken hatte.
Schon bald nach der Entlassung aus dem Zuchthaus zogen ihn die Nazis in die berüchtigte »Strafdivision 999« ein, ein »Himmelfahrtskommando« mit extrem hohem Todesrisiko. Aber es gelang ihm, 1944 zu den griechischen Partisanen der ELAS überzulaufen. Noch im selben Jahr wurde er von den (dem griechischen Widerstand feindlichen) Briten gefangen genommen und nach Ägypten gebracht, wo er – teils zusammen mit Nazis – fast noch ein Jahr im Lager verbringen musste.
Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft (einige Wochen war er noch in einem Gefangenencamp in der Nähe von London) und der Rückkehr nach Deutschland heiratete er Lisa Hörmeyer, eine Historikerin. Er arbeitete für die Justiz in damaligen ostdeutschen Sowjetischen Besatzungszone, die im Begriff war eine antifaschistische Verwaltung aufzubauen, und wurde 1948 zum Professor für Völkerrecht und dann für Öffentliches Recht an die Universität Jena berufen.
Wegen seiner Mitgliedschaft in der von der Sowjetischen Militäradministration verbotenen SPD musste Abendroth 1948 mit seiner Frau und der kleinen Tochter Elisabeth nach Westdeutschland fliehen, wo er als Professor für Öffentliches Recht und Politik an die Hochschule Wilhelmshaven berufen wurde. Die Berufung als Professor für »wissenschaftliche Politik« – eine im Zuge der Demokratisierung nach 1945 neu eingeführte Fachrichtung – an die traditionsreiche Philipps-Universität Marburg erfolgte 1950. Sie wäre ohne Unterstützung durch führende Sozialdemokraten im »roten Hessen« kaum möglich gewesen.
Von 1951 bis 1972 arbeitete und lehrte Abendroth im provinziellen und konservativen Marburg, wo vor 1933 der vom Faschismus begeisterte Philosoph Martin Heidegger gelehrt und Hannah Arendt studiert hatte. Trotz heftiger Anfeindungen innerhalb und außerhalb der Universität – er war neben Max Horkheimer und Theodor Adorno in Frankfurt der einzige sich auf Marx berufende Ordinarius in der Bundesrepublik – wuchs seine intellektuelle und politische Anziehungskraft ständig.
Inzwischen aus pragmatischen Gründen in die SPD eingetreten, deren systemkonformen Wandel von einer Arbeiterpartei zu einer »Volkspartei« (Godesberger Programm, 1959) er allerdings kritisierte, solidarisierte er sich mit dem linken Studierendenverband SDS. Das brachte ihm zusammen mit anderen Professoren den Ausschluss aus der Partei ein.
Zu den wissenschaftlichen Highlights seiner Karriere gehörte seine Auseinandersetzung mit dem renommierten, ehemals faschistischen, jetzt sich liberal gebenden Staatsrechtler Ernst Forsthoff (Der totale Staat, 1933) um die verfassungsmäßige Bedeutung des Sozialstaats. Während Forsthoff den Begriff des »sozialen Rechtsstaats« als rechtlich nicht akzeptable Kategorie verwarf, sah Abendroth die Möglichkeit und Notwendigkeit, mit Hilfe einer demokratischen Verfassung sozialstaatliche Ziele durchzusetzen.
In Frankfurt lehnte es bezeichnenderweise Max Horkheimer ab, den ihm als »zu links« erscheinenden Habermas mit seiner glänzenden Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit zu habilitieren, worauf er sich an Abendroth wandte, dessen intellektuelle Courage ihm bekannt war und der das Habilitationsverfahren 1961 in Marburg unter schwierigeren Bedingungen als in Frankfurt zu einem erfolgreichen Ende führte. 1962 beim Suhrkamp Verlag als Buch erschienen, enthält es die Widmung: »Wolfgang Abendroth in Dankbarkeit«.
Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre erreichte Abendroth den Zenit seiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit und damit auch den Status als Intellektueller, der, wie Hans Manfred Bock zutreffend feststellt, mit einer beachtlichen »öffentlichen Deutungsmacht und Initiativfähigkeit verbunden war«. Seine Bemühungen waren vor allem darauf gerichtet, den linken Flügel der Arbeiterbewegung und andere demokratische Akteure zu stärken. Zusammen mit dem Soziologen Heinz Maus, einem ehemaligen Schüler und Assistenten von Horkheimer, und dem Nationalökonomen und Soziologen Werner Hofmann – beide waren ebenfalls Repressalien der Nazis ausgesetzt gewesen – bildete er dann das »Dreigestirn« der marxistischen Marburger Schule, aus der zahlreiche renommierte Sozialwissenschaftler wie Karl Hermann (Kay) Tjaden, Reinhard Kühnl, Frank Deppe, Georg Fülberth und Dieter Boris hervorgingen.
Politisch intervenierte er in alle wesentlichen Probleme der Zeit: die Entwicklung der Gewerkschaften, die Gefahr eines neuen Faschismus, die drohenden Notstandsgesetze, die Hochschulpolitik, das umstrittene Verhältnis zur DDR und die Studentenbewegung. Dabei ließ er sich von einem »operativen« Verständnis marxistischer Theorie leiten. Wie kaum ein anderer hat er die berühmte Formulierung aus den Marxschen Thesen über Feuerbach in seinem intellektuellen Handeln verwirklicht: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.«
Wissenschaftlich trat Abendroth unter anderem mit Studien wie der zum Standardwerk avancierenden Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung hervor, die 1965 bei Suhrkamp erschien. Er lehrte über die Weimarer Republik, über Faschismus, Verfassungsrecht, Arbeiterbewegung, marxistische Theorie und weitere Themen. Auch andere Professoren seiner Zeit verfügten über ein enormes Wissen, aber keiner war so identisch mit dem, was er dachte, sagte und tat, wie er.
Es waren aber nicht nur seine wissenschaftlichen Leistungen und seine politischen Interventionen, die Abendroth zum unbestritten wichtigsten sowohl »organischen« als auch »autonomen« sozialistischen Intellektuellen in der Bundesrepublik avancieren ließen. Mindestens ebenso begründete seine einzigartige Persönlichkeit, egal ob bei Freund oder Feind, seinen Ruf absoluter Integrität und Unbeugsamkeit.
Am Telefon meldete er sich stets mit einem lebhaften, geradezu fröhlichen »Abendroth!«, nicht wissend, ob ihn am anderen Ende der Leitung vielleicht ein erbitterter Gegner erwartete. Seine Freundlichkeit allen gegenüber, die mit ihm in Berührung kamen, sprach sich rasch herum. Dadurch zog er nicht selten auch skurrile Existenzen auf sich, die ihn, seine Sprechstunde belagernd, von ihrem verkannten Genie überzeugen wollten, ihm bunte graphische Darstellungen über den Weg zum sozialen Paradies überreichten oder ihm ein ewiges Wohlbefinden versprechendes Wasser einschenkten. Er hörte sie alle geduldig an, bewunderte den Weg zum sozialen Paradies und trank ohne Zögern das Wasser.
Leichtfüßig sprang er in öffentlichen Veranstaltungen zum Mikrofon, argumentierte ebenso kenntnisreich wie kämpferisch, und zog sein Publikum unwiderstehlich in seinen Bann. Während der Seminare, bei denen er ununterbrochen rauchte und ihm ein Assistent ständig irgendein Gefäß unter die herabzufallen drohende Asche halten musste, folgten die Zuhörer atemlos seinen endlosen Sätzen, bei denen er trotzdem nie den Faden verlor.
Als ich einmal – ich war noch Student – sagte, dass wir Abendroth ja alle bewunderten, wurde ich treffend mit dem Satz korrigiert: »Nein, wir bewundern ihn nicht, sondern wir lieben ihn.« Wir sorgten uns aufrichtig um ihn, weil er ein so miserabler Autofahrer war. Es konnte passieren, dass einem an einem ruhigen Sonntag mitten in Marburg ein VW-Käfer entgegenkam, der merkwürdig schief auf der Straße lag, weil er mit zwei Rädern auf der Bordsteinkante fuhr. Der Fahrer war niemand anderes als Abendroth.
Gegenüber den Studierenden verhielt er sich entgegenkommend und aufgeschlossen. Das war sogar dann der Fall, als wir linke Studierende im Zuge der Studentenbewegung auch das Institut für wissenschaftliche Politik besetzten. Das richtete sich natürlich überhaupt nicht gegen Abendroth, sondern hatte eher rituelle Gründe. Während Adorno in Frankfurt die Polizei holte, um die protestierenden Studenten aus den Räumen des berühmten Instituts für Sozialforschung zu vertreiben, mahnte uns Abendroth nur besorgt, mit unserem Aktionismus – so wörtlich – »nicht den Kontakt zu den Massen zu verlieren«. Die Polizei zu rufen wäre ihm nie eingefallen.
Obwohl alle drei (wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise) von den Nazis verfolgt wurden, kam es zwischen Horkheimer und Adorno einerseits und Abendroth andererseits nie zu einer dauerhaften produktiven Kooperation. Trotz beiderseitiger Berufung auf die Theorie von Marx waren die Axiome ihres Wissenschaftsverständnisses zu gegensätzlich. Die Frankfurter betrieben, um es mit der griffigen Formel der französischen Autoren Luc Boltanski und Eve Chiapello zu sagen, »Künstlerkritik«, also vor allem die Untersuchung der subjektiven Zwänge des Kapitalismus, der Entfremdung und Verdinglichung. Dagegen betrieb Abendroth »Sozialkritik«, also die Analyse der ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen für Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft durch eine mit der linken Intelligenz verbündete sozialistische Arbeiterbewegung.
Sein operatives Wissenschaftsverständnis veranlasste Abendroth auch, sich nach 1968 der neu gegründeten Kommunistischen Partei, der DKP, anzunähern, ohne jedoch seine Autonomie gegenüber dieser Partei aufzugeben und ihr kritiklos in allen Punkten zu folgen. So wandte er sich zum Beispiel 1968 gegen den Einmarsch von Warschauer Pakt-Staaten in die damalige ČSSR, während die DKP diesen Schritt als notwendige Verteidigung des Sozialismus rechtfertigte. Trotz ihrer Defizite verteidigte er aber die DKP als eine Partei, in der sich klassenbewusste Arbeiter organisierten und die deshalb eine wichtige Funktion für eine Linksentwicklung der Arbeiterbewegung wahrnahm.
Abendroth verbrachte die Jahre nach seiner Emeritierung in Frankfurt, hielt dort noch Vorlesungen an der »Akademie der Arbeit«, einer fortschrittlichen Einrichtung der Erwachsenenbildung, meldete sich weiterhin zu Wort und ergriff Partei, wenn er es für notwendig hielt. 1985 berichtete er im Gespräch mit dem Kommunisten und ehemaligen Gestapo-Häftling Josef Schleifstein und dem linken Journalisten Hans Brender über seine Erfahrungen als Intellektueller in der Arbeiterbewegung während der Weimarer Republik, der Nazidiktatur und der Zeit nach 1945. An die Tausend waren in die Frankfurter Universität gekommen und hörten Abendroth zum letzten Mal. Wenige Monate später verstarb der große Sozialist.
Lothar Peter ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Industrie- und Betriebssoziologie und später Allgemeiner Soziologie.