12. November 2021
Wir müssen die Mittelschicht für eine Politik der Arbeiterklasse gewinnen. Leicht wird das nicht.
Das schärfste Schimpfwort in der Geschichte der sozialistischen Bewegung ist nicht »Klassenverräter«, »Konterrevolutionär« oder gar »Renegat«. Es ist »Zahnarzt«.
Als der US-amerikanische Sozialist und Literaturwissenschaftler Irving Howe in den 1960er Jahren an der Stanford University lehrte, machte ihm einmal ein junger Linksradikaler den Vorwurf, die Revolution verraten zu haben. Howe war außer sich – denkwürdig war an seinem Ausraster vor allem seine Wortwahl: »Weißt du, was aus dir einmal wird? Aus dir wird einmal ein Zahnarzt.«
Einige Jahrzehnte zuvor hatte Leo Trotzki den damaligen Anführer der Socialist Party of America, Morris Hillquit, als »den idealen Sozialisten für erfolgreiche Zahnärzte« abgetan. Und auch Josef Stalin mochte keine Zahnärzte: Nachdem die Assistentin von Adolf Hitlers Zahnarzt die verbrannten sterblichen Überreste des Führers identifiziert hatte, ließ Stalin sie für mehrere Jahre inhaftieren.
»Zahnarzt« ist für Sozialistinnen und Sozialisten so ein handliches Schimpfwort, weil dieser Beruf vielleicht mehr als jeder andere die Mittelschicht verkörpert. Zahnärzte sind gebildet, haben aber einen niedrigeren Status als Ärzte. Sie sind in vielen Fällen kleine Arbeitgeber, die auch selbst in ihren Praxen arbeiten. Und sie sind in der Regel recht wohlhabend.
Der Hauptgegner der sozialistischen Bewegung ist selbstverständlich das Kapital; die Mittelschicht sorgt aber auch für nicht wenig Anstoß. Doch so oft man über die Mittelschicht hergezogen ist, hat man zugleich sehr viel Zeit damit verbracht, zu diskutieren, wie man diejenigen, die mit den Zielen des Sozialismus sympathisieren, in die Bewegung integrieren kann.
Die Probleme, die die Mittelschicht für den Sozialismus darstellt, lassen sich in drei Kategorien einteilen: es gibt das genealogische, das politische und das theoretische Problem.
Das genealogische Problem betrifft die überraschend kleinbürgerlichen Ursprünge des Sozialismus selbst. Schließlich ist der Sozialismus älter als die Arbeiterbewegung, die dessen Ideologie für den größten Teil des 20. Jahrhunderts getragen hat. Die modernen Ursprünge des Sozialismus liegen bei kleinbürgerlichen Reformern wie Henri de Saint-Simon und Charles Fourier. Wladimir Lenin vertrat bekanntermaßen die Ansicht, der Sozialismus würde von außen an die Arbeiterklasse herantreten – und historisch gesehen hatte er damit mehr Recht als Unrecht. Für eine sozialistische Bewegung, die sich um ihre Glaubwürdigkeit in der arbeitenden Klasse sorgt, war das stets peinlich.
Das zweite Problem ist politischer Natur. Als Sozialistinnen und Sozialisten in demokratischen Ländern an Einfluss gewannen, begannen sie unweigerlich, politische Parteien zu gründen, um bei Wahlen anzutreten. In ihrem Bemühen, Mehrheiten für den Sozialismus zu gewinnen, strebten diese Parteien danach, über ihre Basis in der arbeitenden Klasse hinaus auch Teile der Bauernschaft und der Mittelschicht für sich zu gewinnen. Das machte aus ihnen eher Massenparteien als Klassenparteien. Indem sie aufhörten, die Klassenzugehörigkeit als die wichtigste politische Identität ihrer Mitglieder zu behandeln, büßten sie ihre besondere Verbindung zu der Arbeiterklasse ein. Der Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat es so ausgedrückt: »Der Prozess der Organisation von Massen desorganisiert die Arbeiter.«
Das dritte Problem, das die Mittelschicht für den Sozialismus darstellt, ist ein Definitionsproblem. Wer – abgesehen von Zahnärzten – gehört wirklich zur Mittelschicht? Diese Frage geht an den Kern der sozialistischen Theorie. Seit Karl Marx besteht der Grundgedanke des Sozialismus darin, dass kapitalistische Gesellschaften aus zwei sich gegenüberstehenden Klassen bestehen: der kapitalistischen und der arbeitenden Klasse. Die Existenz der Mittelschicht bringt dieses Schema in Verlegenheit – und das gilt heute umso mehr, wenn man sich die reichen Länder ansieht. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist die Mittelschicht in den kapitalistischen Gesellschaften deutlich angewachsen und entspricht in ihrer Form nicht mehr dem Modell des kleinen Ladenbesitzers, dem Marx in seinen Ausführungen zu diesem Thema die meiste Aufmerksamkeit schenkte.
Im Anschluss an Marx folgten alle sozialistischen Definitionsversuche zur Mittelschicht einem von zwei Ansätzen. Gemäß dem ersten gehört so gut wie jeder zur Mittelschicht. Dieser Ansatz wurde etwa vom marxistischen Theoretiker Nicos Poulantzas vertreten, der argumentierte, dass nur diejenigen zur Arbeiterklasse gehören, die von Mehrwert produzierender, manueller Arbeit leben. Dieser Definition zufolge würde sich die Arbeiterklasse zum Beispiel in den USA auf lediglich 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung belaufen. Ironischerweise stimmt Poulantzas also mit jenen Darstellungen überein, wonach die USA im Wesentlichen eine Mittelschichtgesellschaft seien.
Der andere Ansatz leugnet, dass die Mittelschicht für den Sozialismus ein theoretisches Problem darstellt, und besteht darauf, dass Professorinnen, Ingenieure und Juristinnen im Grunde Arbeiter sind, einfach weil sie für einen Lohn arbeiten. Auch wenn man die Bereitschaft, die bittere Pille zu schlucken, bewundern muss, ist diese Position nicht haltbar. Das Problem besteht nicht darin, dass Menschen in diesen Berufen höhere Lebensstandards genießen als die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter. (Es lässt sich nicht bestreiten, dass es auch eine Reihe von Arbeiterklassen-Berufen gibt, sie sehr gut bezahlt werden – vor allem aufgrund starker Gewerkschaften in bestimmten Sektoren.) Bei der Kategorie Klasse geht es nämlich nicht einfach darum, wie viel Geld man für seine Arbeit bekommt, und auch nicht einfach darum, dass man von seinem Lohn lebt und nicht von Einkommen aus Kapitaleigentum.
Diese gegensätzlichen Ansätze zur Definition der Mittelschicht sind beide unbefriedigend. In der Praxis scheint man oft nach der Regel zu verfahren, die einst ein Richter des Obersten Gerichtshofs der USA auf Pornographie anwandte: »I know it when I see it« – wir erkennen die Mittelschicht, wenn wir sie sehen. So mangelt es auch nicht an Sozialistinnen und Sozialisten, die jede Politik, die sie nicht mögen, einfach als »bürgerlich« bezeichnen.
Es gibt jedoch noch einen gründlicheren Erklärungsansatz: die von dem marxistischen Soziologen Eric Olin Wright entwickelte Analyse widersprüchlicher Klassenlagen. Wrights große Einsicht war, dass Klasse eine multidimensionale Kategorie ist. Sie definiert sich nicht über ein einzelnes Merkmal – wie zum Beispiel den Erhalt eines Lohns –, sondern betrifft zwei wichtige Dimensionen: Eigentum und Autorität.
»Eigentum« meint dabei den Besitz von Produktionsmitteln im traditionellen marxistischen Sinne: Kapitalisten sind deshalb Kapitalisten, weil sie Investitionen kontrollieren und entscheiden, wofür die Produktionsmittel eingesetzt werden sollen. Offensichtlich treffen solche Entscheidungen auch Topmanagerinnen in Unternehmen – daher sollte Eigentum nicht im engen, rechtlichen Sinne, sondern im Sinne von Kontrolle über die Produktionsmittel verstanden werden.
»Autorität« bezieht sich auf die Beziehungen innerhalb des Unternehmens. Kapitalistinnen (und Topmanager) zeichnen sich dadurch aus, dass sie Anweisungen erteilen, die in letzter Konsequenz in der Androhung von Entlassung fundiert sind. Arbeiterinnen und Arbeiter auf der anderen Seite zeichnen sich dadurch aus, dass sie Anweisungen befolgen.
Anhand dieser beiden Dimensionen von Klasse lässt sich recht einfach verstehen, wodurch sich Kapitalistinnen und Arbeiter jeweils auszeichnen. Kapitalisten besitzen (beziehungsweise kontrollieren) produktives Eigentum und geben Anweisungen, während Arbeiterinnen nicht über produktives Eigentum verfügen und Anweisungen befolgen.
Es gibt jedoch gesellschaftliche Gruppen, die sich diesen beiden Dimensionen nicht so klar zuordnen lassen. Zum Beispiel haben Ärztinnen in einem Krankenhaus, sofern sie nicht zugleich dem Management angehören, keine Entscheidungsbefugnis über größere Investitionen. Jedoch genießen sie in ihrer Arbeit ein erhöhtes Maß an Autonomie, sodass ihre Tätigkeit kaum als Befolgen von Befehlen beschrieben werden kann. Sie entscheiden zwar nicht direkt über Einstellungen und Entlassungen; aber sie erteilen ständig Anweisungen, etwa an das Pflegepersonal. Aus diesem Grund bezeichnet Wright ihre Klassenlage als widersprüchlich: Sie vereint Eigenschaften beider großer gesellschaftlicher Klassen.
Wrights Theorie gelingt es, die Besonderheiten der Klassenlage der Mittelschicht einzufangen, ohne dabei das grundsätzliche marxistische Verständnis einer polarisierten Klassenstruktur aufzugeben. Ihr politischer Nutzen liegt darin, dass sie ein Grundkonzept für das Denken von Klassenallianzen liefert. Wright selbst formuliert es so: »Die Möglichkeit einer tragfähigen sozialistischen Bewegung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften hängt unter anderem von der Fähigkeit der Arbeiterorganisationen ab, die politischen und ideologischen Bedingungen zu schaffen, die diese widersprüchlichen Positionen in ein engeres Bündnis mit der Arbeiterklasse bringen.«
Diese Frage stellt sich heute mit besonderer Dringlichkeit. Die politische Polarisierung entlang des Bildungsgrads hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt. Menschen mit Hochschulbildung sind heute liberaler als je zuvor. Und dieser Liberalismus beschränkt sich nicht, wie manche Linke gern unterstellen, auf die Unterstützung von Kämpfen gegen Rassismus oder Sexismus im Gegensatz zu Klassenkämpfen. Vielmehr hat auch die Unterstützung für Umverteilungsmaßnahmen unter Menschen mit Hochschulbildung stetig zugenommen.
Das heißt aber nicht, dass daher alles glatt laufen wird. Wrights Analyse verdeutlicht sowohl die Chancen als auch die Gefahren, die eine solche Situation für die Linke mit sich bringt. Aufgrund der widersprüchlichen Position eines Großteils der Mittelschicht kann der Bildungshintergrund eine überragende Rolle bei der Formierung ihrer politischen Präferenzen spielen. Das unterscheidet sie insbesondere von Kapitalistinnen.
Mögen an Elitehochschulen ausgebildete Kapitalisten auch tadellos liberale Vorstellungen haben, was Race und Gender anbelangt – als Gruppe werden sie niemals einen großzügigen Wohlfahrtsstaat und starke Gewerkschaften befürworten, ganz gleich, was ihre Professorinnen oder Kommilitonen ihnen an der Hochschule erzählt haben. Aber für einen Großteil der neuen Mittelschicht sind ihre politischen Präferenzen nicht annähernd so sehr von der Klassenzugehörigkeit bestimmt. Bei ihr kommen die gut dokumentierten liberalisierenden Effekte von Bildung in vollem Umfang zum Tragen.
Dies stellt für die Linke eine Chance dar, insbesondere im Wahlkampf. Am Beispiel der USA lässt sich nicht leugnen, dass die Mittelschicht für den Vormarsch der Linken seit 2016 eine wichtige Rolle gespielt hat. Das Wahlverhalten von Menschen mit Hochschulbildung war in den letzten Jahren für viele Erfolge ausschlaggebend – vom Aufstieg von Alexandria Ocasio-Cortez bis hin zu den Erweiterungen von Medicaid (Anm. d. Red.: Gesundheitsförderprogramm für Menschen mit geringem Einkommen), die in Referenden auf bundesstaatlicher Ebene erzielt wurden.
Dass diese Bildungssozialisierung eine so entscheidende Rolle spielt, ist für die Linke aber auch eine Gefahr. Schließlich ist die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung von ihr ausgeschlossen. Aktivistinnen und Aktivisten, die immerzu über »Körper und Räume« sprechen, mögen die richtige Einstellung haben, was Umverteilung angeht – ihr Vokabular und ihre Umgangsformen strahlen jedoch ein Privileg aus, zu dem die meisten Arbeitenden keinen Zugang haben. Eine Linke, deren Politik in einer an Universitäten erworbenen Ideologie verwurzelt ist, wird Arbeiterinnen und Arbeiter zwangsläufig entfremden – insbesondere, wenn sie noch nicht stark genug ist, um echte materielle Verbesserungen bieten zu können.
Das Wort »Hegemonie« wird heute genau mit diesem Milieu gebildeter Radikaler assoziiert. Doch bevor dieser Begriff zu akademischem Jargon verkam, beschrieb er vor allem, wie bestimmte Klassen andere Klassen politisch anführen. Lenin und Trotzki nutzten ihn, um zu darzulegen, wie die russische Arbeiterklasse die Bauernschaft in einem revolutionären Kampf gegen den Zarismus führen konnte – und es war dieser Wortsinn, von dem Antonio Gramsci in seinen berühmten Gefängnisheften ausging.
Gramscis Denken über Hegemonie drehte sich nicht in erster Linie darum, dass die Kapitalisten die Arbeitenden mithilfe von Kultur überlisten. Vielmehr war er daran interessiert, wie die proletarische Bewegung eine Politik entwickeln kann, die in der Lage ist, andere Klassen – vor allem die Bauernschaft – in einem Kampf gegen die herrschende Klasse zusammenzuführen. Und diese Führungsrolle hing letztlich von der Position der Arbeiterklasse im »entscheidenden Kern der ökonomischen Aktivität« ab.
Dies wirft ein Licht auf die Aufgaben, denen sich Sozialistinnen und Sozialisten von heute in Bezug auf die Mittelschicht stellen müssen. Für eine sozialistische Bewegung, die versucht, Mehrheiten für Wahlen aufzubauen, ist es unabdinglich, Teile der Mittelschicht zu gewinnen. Es mag daher in vielen Fällen befriedigend sein, sie einfach abzuschreiben – in Wirklichkeit ist das aber politisch hinderlich.
Stattdessen müssen wir versuchen, Teile der Mittelschicht für eine Politik der Arbeiterklasse zu gewinnen, die auf der Stärke und Kampfkraft von Arbeiterorganisationen basiert. Mit anderen Worten: Wir müssen nicht der Mittelschicht den Kampf ansagen, sondern Politikkonzepten, die in der Sozialisation, der Sprache und den Gepflogenheiten der Mittelschicht verankert sind, anstatt in der Macht der Arbeiterklasse.
Diesen Moment, in dem die Arbeiterklasse schwach ist und sich die Mittelschicht nach links bewegt, richtig zu navigieren, ist eine Herausforderung. Es wird bestimmt nicht einfach, Teile der Mittelschicht für die Unterstützung der Arbeiterbewegung zu gewinnen – aber es muss nicht so schlimm werden wie Zähneziehen.
Paul Heideman promovierte an der Rutgers University in Amerikanistik.