10. April 2025
Die Hochrüstung, die durch den Politikwechsel in den USA beschleunigt wurde, trifft die Linke unvorbereitet. In Deutschland wie in anderen EU-Staaten hat sie keine klare Position zu Krieg und Militarisierung gefunden. Vier Vorschläge für die Suche nach strategischen Antworten.
Soldaten verlassen einen Truppen-Helikopter bei einem NATO-Manöver in Neumarkt, 3. Juni 2024.
Der Großangriff Russlands auf die Ukraine markierte für die deutsche und europäische Linke eine Zeitenwende – nicht, weil es zuvor keine Kriege in Europa und seinen Nachbarregionen gab, sondern weil die über drei Jahrzehnte geführten und zugleich verdrängten Kriege in den Mittelpunkt der Politik der Bundesrepublik und der EU rückten und in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger zurückkehrten – bis hin zur berechtigten Furcht vor der Vernichtung durch Atomwaffen. Europa ist zu einem Ort der Hochrüstung und Militarisierung geworden. Die Militärausgaben der EU-Staaten stiegen von 240 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 326 Milliarden Euro im Jahr 2024 – ein Anstieg um mehr als ein Drittel. Auch in Russland stiegen die Militärausgaben auf etwa 100 Milliarden Euro im Jahr 2024.
Die Linke war weder in Deutschland noch den anderen Staaten der Europäischen Union fähig, sich mit klaren Positionen und durchdachten strategischen Konzepten dieser neuen Situation zu stellen, in der von Krieg und Aufrüstung die Tagesordnung bestimmten. Sie hatte verlernt, sich Krieg als existentieller Bedrohung zu stellen und die herrschende Politik, die dies verursacht hatte, herauszufordern. Dafür gibt es zwei Ursachen.
Erstens erschienen die Jahre nach 1990 vielen als eine Zeit des Friedens, zumindest in der Bundesrepublik und der Europäischen Union. Dies war vorher anders. Während des Kalten Krieges nach 1945 war die Kriegsgefahr für die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West, im Warschauer Vertrag und in den europäischen NATO-Staaten, allgegenwärtig – obwohl zwischen den beiden Blöcken nie ein Schuss fiel und kein einziger Soldat der Gegenseite getötet wurde. Fast täglich wurde darüber diskutiert, wie ein Krieg vermieden werden könnte, von dem alle wussten, dass er der letzte große Krieg sein würde. Es gab eine starke Friedensbewegung im Westen und eine große Friedensbereitschaft der Menschen im Osten.
Doch mit der Auflösung des Warschauer Vertrags und später der Sowjetunion brach keineswegs eine Ära des Friedens an, sondern eine der Kriege – und dies in unmittelbarer Nähe zur Europäischen Union. Es begann sofort mit dem Krieg einer von den USA geführten Allianz aus 34 Ländern. Im Januar 1991 wurde eine Armada von fast 1 Million Soldaten gegen den Irak mobilisiert. Es folgten Kriege auf dem Balkan, im Kaukasus, in Nordafrika und im Nahen Osten. Allein zwischen 1991 und 2001 gab es fünf Kriege im ehemaligen Jugoslawien, drei im Kaukasus, dazu seit 2014 der Krieg in der Ukraine und zwischen der Ukraine und Russland. In Nordafrika waren es fünf Kriege, und im Nahen und Mittleren Osten – eine Bezeichnung, die noch aus der Zeit stammt, als Westeuropa die Weltsicht prägte – waren es zehn. Viele dieser Kriege wurden unter direkter Beteiligung der USA, von NATO-Staaten und auch der Bundesrepublik geführt. Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union wähnten sich in Frieden, waren aber mehr als je zuvor seit 1945 in Kriege verstrickt. Auch viele in der gesellschaftlichen und politischen Linken waren der Illusion eines friedlichen Europas zum Opfer gefallen.
Die zweite Ursache dafür, dass die Linke in der Europäischen Union bisher keine gemeinsame Position in den Fragen von Krieg und Frieden, Verteidigung und gemeinsamer Sicherheit, USA und NATO, dem Verhältnis zu Russland und China entwickeln konnte, liegt im Verlust einer eigenen ideologischen Identität jenseits des Liberalismus. Die Kriege, die die USA gemeinsam mit vielen europäischen Verbündeten seit 1990 geführt haben, wurden im Namen von Menschenrechten, des Kampfes gegen den Terrorismus und Fundamentalismus und autoritäre Regime geführt. Als es um die Ausdehnung der NATO ging, berief man sich auf das Selbstbestimmungsrecht von Staaten. Blickt man aber vom globalen Süden und Osten auf diese Entwicklung, so zeigt sich: Europa und seine Nachbarn waren und sind der wichtigste Schauplatz von Kriegen nach 1990. Die NATO wurde zu einem Bündnis militärischer Interventionen mit einer Kette von »out-of-area«-Einsätzen. Unter Berufung auf die »regelbasierte Ordnung« wurden ständig die Regeln des Völkerrechts gebrochen.
Gleichzeitig expandierte die NATO weit nach Osten und Südosten und musste daher nicht nur von Russland als Bedrohung wahrgenommen werden. Mittlerweile plant die NATO sogar Aktivitäten im Pazifik und im Südchinesischen Meer. All dies untergräbt das UN-Gebot gemeinsamer Sicherheit und wird weitere Kriege auslösen. Die Linke hat zu großen Teilen vergessen, dass der Liberalismus die Verteidigung individueller Freiheitsrechte organisch mit der Legitimation von Ausbeutung, Enteignung und imperialistischer Unterdrückung verbindet und es die Aufgabe linker Positionen ist, Freiheit auf der Grundlage der demokratischen Kontrolle über die Wirtschaft und die soziale und ökologische Reproduktion sozialistisch herzustellen.
Die oft beschworene und durch den Politikwechsel in den USA beschleunigte Zeitenwende traf auf eine gespaltene, ideologisch unter der Hegemonie des Liberalismus verwirrte und auf Krieg völlig unvorbereitete Linke. Dies betrifft nicht nur die parteipolitischen Kräfte, sondern auch Bewegungen, Gewerkschaften und das intellektuelle Feld. Die Konflikte durchziehen alle Bereiche und werden hochemotional aufgeladen. Die eigene Identität steht auf dem Spiel und ist meist nicht verhandelbar. Dahinter stehen zudem die bekannten Differenzen großer soziokultureller Milieus zu »Triggerpunkten« wie Ökologie und Migration. Dieses Knäuel von Widersprüchen lässt sich nicht mit einem Schlag auflösen, sondern nur mühsam entwirren. Im Folgenden werden vier Vorschläge für die Suche nach strategischen Antworten in diesen Zeiten von Imperialismus und Krieg unterbreitet.
Lange galt die Forderung nach einem NATO-Austritt als illusorisch oder naiv. Doch heute zeigt sich die NATO als das, was sie immer war: ein Instrument imperialer Kontrolle der USA über Europa unter Ausschluss Russlands. Ihr erster Generalsekretär, Lord Ismay, beschrieb ihre Aufgabe treffend: »Keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down!« Nach 1990 wurde die NATO entgegen aller Beteuerungen zu einem offensiven Mittel der Expansion US-amerikanischer Vorherrschaft. Der Weg hin zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands wurde blockiert. Die NATO-Truppen wurden jenseits des Verteidigungsauftrags gegen andere Staaten eingesetzt. Die Osterweiterung der NATO provozierte eine Konfrontation mit Russland, die im Ukraine-Krieg gipfelte. Und genau zu diesem Zeitpunkt extremer Zuspitzung des Konflikts mit Russland erweist sich, dass auf die USA kein Verlass ist. Zum einen sehen sich ihre Herrschenden vor allem durch den Aufstieg Chinas herausgefordert und verlagern ihr militärisches Engagement nach Asien, zum anderen verlieren sie auch das Interesse daran, globaler imperialer Polizist zu sein, wenn es ihnen nicht unmittelbar nützt. Die Linke muss sich einsetzen für die Emanzipation der EU von der NATO, ohne deshalb in den Fehler zu verfallen, eine Politik zu unterstützen, die EU zu einer eigenen offensiven Militärmacht auszubauen.
Die Sicherheitspolitik darf man nicht den Bellizisten überlassen. Die Stationierung von amerikanischen weitreichenden, hochpräzisen Mittelstreckenraketen in Deutschland, die Atomwaffen tragen können, muss offensiv bekämpft werden. Die Linke sollte sich für neue Abrüstungsverträge, Verträge über den Rückzug von Streitkräften von den Grenzen, vertrauensbildende Maßnahmen einsetzen, wie sie in den 1970er Jahren und während der Perestroika schon einmal durchgesetzt wurden. Dazu braucht es neue Vorschläge und Kampagnen für eine friedensfähige EU.
Zur Sicherheitspolitik gehört auch die Verteidigungspolitik. Die Linke sollte gemeinsam Vorschläge erarbeiten, wie das berechtigte Interesse der Bürgerinnen und Bürger der EU an Schutz vor militärischen und terroristischen Angriffen gewährleistet werden kann. Welche militärische Verteidigungsstruktur auf der Basis struktureller Nichtangriffsfähigkeit ist sinnvoll, und welcher Zivilschutz wird benötigt? Schon in der SPD zu Zeiten von August Bebel und Wilhelm Liebknecht, beraten durch Friedrich Engels, gab es dazu Ideen. Heute aber wird vor allem darüber diskutiert, wie stark die Rüstungsausgaben noch steigen sollen – dabei geben die EU-Staaten bereits jetzt übermäßig viel aus. Expertinnen und Experten in Parlamenten, Stiftungen, Gewerkschaften, Bewegungen und Universitäten sollten ernstzunehmende Alternativen zur Sicherheitslogik der Hochrüstung liefern, die auf Kriegsfähigkeit zielt.
Die Vorstellung, dass Sicherheit ohne gemeinsame Sicherheit möglich sei, muss überwunden werden – besonders im Zeitalter modernster Waffensysteme und Atomwaffen. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, zwischen der Hamas und Israel zeigen dies deutlich. Ohne gemeinsame Sicherheit wird Abschreckung zur Illusion. Der frühere israelische Außenminister Moshe Dayan, einer der Architekten des Camp-David-Abkommens mit Ägypten, sagte: »Wenn du Frieden willst, redest du nicht mit deinen Freunden. Du redest mit deinen ›Feinden‹.« Die einzige Ausnahme: wenn der Gegner die Vernichtung des anderen anstrebt. Ansonsten gibt es keine Alternative zur Koexistenz, die schmerzhafte Kompromisse erfordert. Dies bedeutet auch, gemeinsam mit Ländern der BRICS sich dafür einzusetzen, dass die entstehende multipolare Ordnung eine Ordnung des Friedens wird.
Die Linke muss begreifen, dass Koexistenz nur möglich ist, wenn die Verschiedenartigkeit politischer und gesellschaftlicher Systeme anderer Staaten anerkannt und jene roten Linien respektiert werden, die andere Staaten als existenziell betrachten. Es geht um den von Willy Brandt formulierten Mindeststandard: »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.« Dies erfordert, Ziele wie Demokratie und Freiheitsrechte ins Verhältnis zur Friedensfrage zu setzen – nicht im Sinne einer Geringschätzung, sondern als Priorisierung. Wer alles und sofort will, riskiert und legitimiert den totalen Krieg.
Eine Linke in der EU, die mit den Angriffskriegen und Menschenrechtsverletzungen der eigenen Staaten oder ihrer Verbündeten konfrontiert ist, muss sich gegen die ideologische Verklärung konfrontativer Strategien immunisieren. Andernfalls wird sie zum Handlanger imperialistischer und militaristischer Politik. Die Alternative ist revolutionäre Realpolitik: für ein System gemeinsamer Sicherheit eintreten, auf der Basis von Abrüstung Verteidigungsfähigkeit wahren, dies mit sozialökologischer Transformation verbinden und solidarisch nach innen wie außen handeln. Wenn heute Aufrüstung als Projekt der Wirtschaftsbelebung gefeiert wird, ist dies antisoziale und antiökologische Perversion. Wie schrieb Rosa Luxemburg 1915: »Die Profite steigen und die Proletarier fallen.« Die europäische Linke muss sich darauf konzentrieren, dem Wahn von Hochrüstung und Militarisierung zu widerstehen und die Politik im eigenen Land und in der EU zu verändern. Dies ist das Hauptfeld des Kampfes. Dazu braucht sie eigenständige sozialistische Positionen, die auf Kritik von Kapitalismus und Imperialismus basieren.
Die Linke in Deutschland und der EU muss begreifen, dass Sicherheit zunächst die Beendigung des Ukraine-Kriegs erfordert. So schwer es fällt: Auch die Linke darf der Rückkehr zum Status quo vor dem Krieg nicht das Wort reden. Wer das versucht, wird dazu beitragen, dass das Morden kein Ende findet. Dann aber beginnt die eigentliche Herausforderung. Sie liegt darin, gemeinsam mit den Nachbarregionen Eurasiens und Nordafrikas an umfassender Sicherheit, gemeinsamer Entwicklung, ökologischem Umbau und Perspektiven für Hunderte Millionen – ja, für 1 Milliarde Menschen und mehr zu arbeiten. Nur so kann Europa, heute ein kriegerischer Hotspot, zu einer Region des Friedens werden, die solidarische Entwicklung und ökologischen Umbau ins Zentrum der Politik stellt.
Philosoph und Sozialwissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkten sind Theorie und Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, sozialökologische Transformation und revolutionäre Realpolitik.