01. April 2022
Unter #IchBinHanna berichten unzählige Forschende über schlechte Arbeitsbedingungen und Perspektivlosigkeit in der Wissenschaft. Die Ampel hat darauf mit Reformvorschlägen reagiert – doch was es tatsächlich braucht, ist ein Systemwandel.
Wer eine Karriere in der Wissenschaft anstrebt, muss die nötigen Reserven mitbringen.
Die Erfahrungsberichte, die unzählige Forschende unter dem Hashtag #IchBinHanna teilten, zeugen davon, wie prekär die Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft sind. Die Aktion, die im Juni 2021 auf Twitter viral ging, hat eine breite Diskussion angestoßen und wurde auch von der Presse aufmerksam verfolgt. Bereits im Herbst 2020 hatten wir in Anlehnung an den Reformationstag 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) gesammelt, das für die prekären Beschäftigungsverhältnisse in der Forschung wesentlich mitverantwortlich ist (die Thesen liegen inzwischen auch als Buch vor).
Ein Dreivierteljahr später geriet ein inzwischen gelöschtes Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahr 2018 zu eben diesem Gesetz in Umlauf: Anhand einer fiktiven Doktorandin namens Hanna wurde hier die Befristungspraxis in der Wissenschaft erklärt – oder vielmehr propagiert. Mit dem WissZeitVG wurde im Jahr 2007 ein Sonderbefristungsrecht für die Wissenschaft etabliert. Zwar erfolgte 2016 eine Novellierung des Gesetzes, unverändert blieb jedoch, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bis zu sechs Jahre vor der Promotion und weitere sechs Jahre nach der Promotion befristet angestellt werden können. In allen anderen Bereichen des Arbeitsmarktes gilt das sehr viel strengere Teilzeit- und Befristungsgesetz, um sicherzustellen, dass der bundesrepublikanische Normalfall das unbefristete Arbeitsverhältnis bleibt. Doch das WissZeitVG ermöglicht im Gegensatz dazu jahrelange Befristungsketten.
In der deutschen Wissenschaft sind befristete Arbeitsverhältnisse inzwischen gang und gäbe. Aufgrund des Mangels an unbefristeten Stellen findet die wissenschaftliche »Karriere« von Unzähligen im mittleren Lebensalter ein ungewolltes Ende: Die zwölf Jahre Qualifikationsbefristung können zwar noch ausgeweitet werden, etwa durch »Härtefallregelungen« bei Kinderbetreuung oder über die Corona-Verlängerung. Der überwiegende Teil des wissenschaftlichen Personals hangelt sich jedoch über Jahrzehnte von Zeitvertrag zu Zeitvertrag – nur um am Ende aus dem System zu fliegen, weil keine unbefristete Stelle in Aussicht ist.
Ein weiterer Faktor, der die exzessive Befristungspraxis weiter anheizt, ist die inzwischen sehr hohe Drittmittelabhängigkeit der Hochschulen. Denn die projektabhängige Forschungsfinanzierung führt ihrerseits ebenso zu einem massiven Anstieg von Zeitverträgen. In der Folge sind 92 Prozent aller Beschäftigten in der Wissenschaft unter 45 Jahren ohne Professur befristet angestellt und gelten als »Nachwuchs«, der sich noch zu bewähren hat. Sicherheit bringt nur die Professur auf Lebenszeit oder eine der wenigen unbefristeten Stellen, die aber wegen der hohen Lehrverpflichtung in der Regel kaum Zeit für die eigene Forschung lassen.
Diese Situation wurde nun im Video von 2018 als notwendige Bedingung für wissenschaftliche Innovation bezeichnet. Demnach sei eine hohe Personalfluktuation wichtig, um das System nicht zu »verstopfen«. Außerdem wolle man schließlich auch allen Generationen die gleichen »Chancen« auf einen Platz in der Wissenschaft einräumen. Diese zynische Darstellung des befristeten wissenschaftlichen Personals als reine Verbrauchsmasse ist unter den Betroffenen auf Empörung gestoßen. Mit dem Hashtag #IchBinHanna haben wir der Cartoon-Figur ein reales Gesicht gegeben – Tausende Menschen schilderten eindrücklich ihre Situation unter ihrem Klarnamen. Sie machten deutlich, wie sehr sie die jahrelange berufliche Unsicherheit belastet, wie sie tatsächliche Innovation und Chancengleichheit unterbindet und hierarchische Strukturen, Machtmissbrauch und wissenschaftliches Fehlverhalten fördert.
Was in vielen der Tweets deutlich wird: Forschende sind zur Zeit mehr mit dem Schreiben von Bewerbungen und Anträgen beschäftigt als mit der Forschung selbst. Lehre und Wissenschaftskommunikation spielen unter solchen Bedingungen kaum eine Rolle, da sie für die Bewerbung auf Professuren kaum relevant sind. Dementsprechend sind Forschende gezwungen, sich in ihren Forschungsprojekten nach dem zu richten, was Vorgesetzte und Gutachterkommissionen für gut und notwendig befinden. Forschung wird somit nicht nur in kleine projektförmige Häppchen zerteilt, sondern zunehmend auch davon geprägt, was die Geldgeber wünschen.
Um die eigene Weiterbeschäftigung zu sichern, muss man viel und an hochrangiger Stelle publizieren. Wenn aber die Quantität der Publikationen mehr zählt als die Qualität, führt dies dazu, dass häufig die immer gleichen Inhalte neu aufbereitet oder unfertige Studien zu steilen Thesen zugespitzt und aus strategischen Gründen renommierte Beitragende angegeben werden, die eigentlich gar nicht am Projekt beteiligt waren.
Wer nur befristete Verträge hat und auf das Wohlwollen etablierter, (entfristeter) Professorinnen und Professoren angewiesen ist, wird kaum die Rechte einfordern, die Beschäftigen in Deutschland gesetzlich zustehen. Ein System, in dem durchschnittlich 10 bis 13 unvergütete Überstunden pro Woche gemacht werden, würde sich andernfalls kaum halten. Auch häufen sich Berichte über Machtmissbrauch in der Wissenschaft, nachdem viele Betroffene lange Zeit aus Angst vor dem Ende der eigenen »Karriere« geschwiegen haben.
In der Wissenschaft herrscht vielerorts eine Arbeitskultur, die dem Bild von den sicheren Beschäftigungsverhältnissen des öffentlichen Dienstes, das noch größtenteils in der Öffentlichkeit vorherrscht, zuwiderläuft. Zwar gibt es einige wenige Forschende, die zu besseren Bedingungen arbeiten – aber sie bilden eine klein gehaltene Elite, deren Sonderstatus mit der Ausbeutung der Arbeitsleistung der vielen erkauft wird. Das Versprechen, zu dieser kleinen Gruppe aufzusteigen, ist das Motiv, mit dem die Mehrheit dazu gebracht wird, alles der Karriere unterzuordnen: Vor allem Frauen in der Wissenschaft bleiben ungewollt kinderlos oder beenden ihre Karriere, weshalb sich auf der Leitungsebene weiterhin unverhältnismäßig wenige Professorinnen finden, während das Geschlechterverhältnis bei den Studierenden längst ausgeglichen ist.
Der Weg zur Professur ist in der Regel mit Phasen der Arbeitslosigkeit, vielen Umzügen oder langen Pendelstrecken verbunden. Die Wissenschaft ist damit ein Beruf für die bereits Privilegierten, die die nötigen Reserven mitbringen, um sich das überhaupt leisten zu können. Wer sich um Kinder oder Angehörige kümmert oder gesundheitliche Einschränkungen hat, ist im Konkurrenzkampf mit gesunden Mitbewerbenden ohne familiäre Verpflichtungen schnell abgeschlagen – wer nicht maximal flexibel ist, hat kaum eine Chance.
Forschenden aus dem Ausland, die um ihre Aufenthaltsgenehmigung bangen müssen, wenn ein neuer Arbeitsvertrag auf sich warten lässt, werden weitere Steine in den Weg gelegt. Der von Reyhan Şahin gestartete Hashtag #IchBinReyhan zeigt eindrücklich, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus marginaliserten Gruppen zusätzliche Nachteile erleiden. Nichts davon ist im Interesse der Studierenden, die verlässliche Lehrende und wissenschaftliche Betreuung benötigen – nicht Menschen, die die Lehre noch schnell neben ihren zahllosen anderen Aufgaben erledigen.
#IchBinHanna hat eine Gemeinschaft geschaffen und dafür gesorgt, dass Betroffene Systemfehler erkennen, wo sie sich vorher eigenes Versagen unterstellt haben. Sie hat aber auch Druck auf Politik und Wissenschaft ausgeübt: Schon zwei Wochen nach dem ersten Tweet wurde über die Arbeitsbedingungen anlässlich von #IchBinHanna in einer Aktuellen Stunde im Bundestag diskutiert und im Koalitionsvertrag sind die zentralen Forderungen inzwischen ebenfalls angekommen: in einem eigenen Abschnitt zu Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft. Eine Reform des WissZeitVG auf Basis der noch ausstehenden (weil von der Vorgängerregierung verschleppten) Evaluation ist explizit ankündigt. Außerdem spricht man sich für »Dauerstellen für Daueraufgaben« aus und will die Promotionsbedingungen verbessern. Das klingt zunächst vielversprechend.
Doch die grundlegenden Missstände des Wissenschaftsbetriebs werden sich nur mit einer Reform des gesamten Wissenschaftssystems beheben lassen. Das ist eine überaus anspruchsvolle Aufgabe, weil die Zuständigkeit nicht nur beim Bund, sondern auch bei den Ländern und den wissenschaftlichen Einrichtungen liegt und diverse Interessenskonflikte zu berücksichtigen sind. Eine solche Reform muss jedoch kommen, da die Wissenschaft als Beruf für viele schon lange nicht mehr attraktiv ist. Gutes Personal zieht es daher zunehmend in außerwissenschaftliche Berufsfelder.
Die Formulierungen im Koalitionsvertrag sind recht unpräzise. Diese Offenheit birgt das Risiko, dass Reformen zu zaghaft ausfallen oder einzelne Zielsetzungen die möglichen Erfolge an anderer Stelle verhindern. Die angekündigte Verlängerung der Exzellenzstrategie und Erhöhung der Drittmittel weisen zumindest in die falsche Richtung, da beide Faktoren für die derzeitig desolate Situation mitverantwortlich sind. Mit einer bloßen Fortsetzung des Status quo ist es also nicht getan. Somit bleibt #IchBinHanna eine wichtige Stimme, die Einblicke in die gelebte Berufspraxis gibt, und sich auch weiterhin Gehör verschaffen wird.
Das Buch zur Aktion #IchbinHanna ist am 27. März 2022 in der edition suhrkamp erschienen.
Amrei Bahr ist Juniorprofessorin für Philosophie der Technik und Information an der Universität Stuttgart und forscht u.a. zu Kopierethik und Ethik der Abfallentsorgung.
Kristin Eichhorn vertritt zur Zeit eine Professur für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart.
Sebastian Kubon ist promovierter Mediävist und beschäftigt sich vorwiegend mit Public History. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg.
Amrei Bahr ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und forscht zur Kopierethik und zur Ethik der Abfallentsorgung.
Kristin Eichhorn ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn.
Sebastian Kubon ist promovierter Mediävist und beschäftigt sich vorwiegend mit Public History. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg und gerade in Elternzeit.