29. September 2020
Die Planung der Zentralbanken bevorteilt die private Finanzwirtschaft. Das ist nicht nur ungerecht und ineffizient, sondern auch undemokratisch. Die Alternative: ein gemeinwohlorientiertes Finanzsystem.
Demonstration für Klimaschutz vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt, 24. Mai 2019.
Kapitalismus und Demokratie, so das Lehrbuch-Narrativ, gingen nach anfänglichen Schwierigkeiten schließlich eine Ehe ein. Diese Ehe verlief während des sogenannten »Goldenen Zeitalters« des Nachkriegskapitalismus überaus harmonisch, bevor die Beziehung im Kontext von Globalisierung und Finanzialisierung zu kriseln begann. Aus globaler Perspektive ist diese Erzählung natürlich längst widerlegt – der Wohlstand und die Freiheit im Globalen Norden gingen mit Ausbeutung und Unterdrückung im Globalen Süden einher. Ich möchte das Lehrbuch-Narrativ jedoch vor allem unter innenpolitischen Gesichtspunkten hinterfragen: Anstatt als Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus sollten wir uns die Nachkriegszeit als eine angespannte Dreiecksbeziehung zwischen Kapitalismus, Demokratie und Technokratie vorstellen.
Die drei Seiten dieses Dreiecks repräsentieren unterschiedliche institutionelle Lösungen für das Problem der Koordinierung und Organisation wirtschaftlicher Aktivitäten (wobei sich diese Lösungen in der Realität oft überschneiden). In der Zeit zwischen den sozialen und ökonomischen Reformen des New Deal unter Präsident Franklin D. Roosevelt und dem Beginn der Globalisierung gelang es dem globalen Nordwesten unter Bedingungen des Bretton-Woods-Systems (von Kriegsende bis 1971) und im Rahmen einer weitgehend keynesianischen Politik – auch »Sozialdemokratie« genannt –, den Kapitalismus erfolgreich mit der Demokratie zu vermählen. Die Globalisierung des Finanzwesens ließ dieses Arrangement nach und nach erodieren. Als sich die Sozialdemokratie in den 1990er Jahren dem durch die Regierungen von Tony Blair in Großbritannien und Bill Clinton in den USA verkörperten »Dritten Weg« zuwandte, trieb sie eine Politik der Austerität und der Unabhängigkeit der Zentralbanken voran, die den fiskalischen und demokratischen Entscheidungsspielraum verkleinerte. Diese Verschiebung in Richtung der Kapitalismus-Technokratie-Achse wurde durch die globale Finanzkrise von 2008 noch untermauert – am dramatischsten in der Eurozone, wo die Europäische Zentralbank den nationalen Regierungen Anweisungen erteilte. Um den Verlust demokratischer Entscheidungsgewalt und Selbstbestimmung zu markieren, bezeichneten Kritikerinnen und Kritiker diesen neuen Zustand als »autoritären (Neo-)Liberalismus«.
Wirklich interessant wird es aber erst, wenn Demokratie und Technokratie aufeinandertreffen – nennen wir es »demokratischen Sozialismus«. Um zu verstehen, warum eine Rückkehr zur Sozialdemokratie schwierig sein dürfte, müssen wir uns die veränderten historischen Bedingungen ansehen. Der sozialdemokratische Kompromiss entsprang einer Situation, in der eine Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege die globale Wirtschaft in einen »Zustand finanzieller Unterentwicklung« versetzte, wie es der Ökonom Perry Mehrling einmal formulierte. Infolge des Zweiten Weltkriegs verfügte der Staat über erheblichen Einfluss auf die Schlüsselsektoren der Wirtschaft, die Gewerkschaften waren gestärkt und die Unternehmensleitungen großer, finanziell unabhängiger, aber im Inland ansässiger Konzerne vertrauten auf das fordistische Wachstumsmodell einer Erhöhung des Konsums durch die Erhöhung der Löhne. In dieser Mischwirtschaft waren Kapital und demokratisch gewählte Regierungen aufeinander angewiesen.
Heute ist die Lage anders. Der finanzialisierte Kapitalismus stellt ein ungleich größeres Hindernis für Verteilungsgerechtigkeit, politische Gleichberechtigung und – ganz entscheidend – ökologische Nachhaltigkeit dar. Auf der Suche nach den niedrigsten Löhnen und Steuerquoten sowie dem optimalen Finanz- und Rechtsrahmen haben sich die Konzerne überall auf der Welt verstreut. Unternehmen – und zunehmend auch unser Wohnraum und unsere Infrastrukturen – befinden sich im Besitz von Finanzinvestoren, die das Kapital der Vermögenden verwalten. Im Gegensatz zu den fordistischen Managerinnen und Managern der Vergangenheit, ist dieses finanzialisierte Kapital nicht mehr auf stabile Beziehungen zu anderen lokalen Interessengruppen angewiesen, sondern nur noch auf unabhängige Zentralbanken und Schiedsgerichte, die sie gegen die lokalen Demokratien absichern sollen. Unter diesen Bedingungen ist es fraglich, ob es noch einen direkten Weg zurück zum sozialdemokratischen Kapitalismus alter Tage geben kann.
Können wir uns einen neuen Weg in eine gerechte und nachhaltige Zukunft bahnen? Die »real existierende Technokratie« wird von Progressiven zurecht als eine Form der Regierungsführung angesehen, die darauf abzielt, den finanzialisierten Kapitalismus gegen demokratische Mehrheiten abzuschirmen. Daher sollten wir im Rahmen der heutigen institutionellen Ordnung skeptisch gegenüber Vorstellungen einer »fortschrittlichen Technokratie« sein. Gleichzeitig muss gesagt werden, dass die Wiederaneignung der steuer- und geldpolitischen Macht des Staates sowie ihre Mobilisierung im Dienst fortschrittlicher Ziele unweigerlich auch ein technokratisches – und nicht nur ein politisches – Projekt sein wird.
Technokraten besitzen eine besondere Expertise und besetzen – anders als Technikerinnen – Machtpositionen im Regierungsapparat. Die Technokratie ist nach Miguel Angel Centeno »ein System der Regierungsführung, in dem technisch ausgebildete Expertinnen und Experten regieren, Kraft ihres Spezialwissens und ihrer Position in den entscheidenden politischen und wirtschaftlichen Institutionen«. Sowohl autoritäre als auch demokratische Staaten verlassen sich stark auf technokratisches Regieren. Prominente Beispiele sind der autoritäre Neoliberalismus in Chile, der autoritäre Staatskapitalismus in China oder der Staatsinterventionismus in Ostasien.
In den meisten anderen Ländern hielt sich die Technokratie eher im Hintergrund: Für den Westen ist hier zum Beispiel die eher unauffällige Inflationssteuerung durch unabhängige Zentralbanken zu nennen, wohingegen im Globalen Süden die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds eine entscheidende Rolle spielten.
Wie Robert Dahl einst bemerkte, können demokratische Gesellschaften in die Lage geraten, zwischen »Systemeffektivität und demokratischer Partizipation« abwägen zu müssen. In einem Klima des konservativen Triumphes und der linken Kapitulation nach dem Kalten Krieg bildete sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine optimistische Sicht auf die Technokratie heraus. Der Konsens in den Politikwissenschaften besagte, dass die durch effektivere Politik erzeugte »Output-Legitimität« Verluste bei der »Input-Legitimität«, die sich aus geringerer demokratischer Partizipation ergaben, kompensieren könnte. Aber die Zeiten haben sich geändert.
Der Bereich der technokratischen Regierungsführung, der den größten Machtzuwachs verzeichnete, war ohne Zweifel das Zentralbankwesen. Das Beispiel der Deutschen Bundesbank machte in den 1990er Jahren weltweit Schule, als Regierungen ihren Zentralbanken weitgehende Unabhängigkeit in der Geldpolitik zusprachen. Durch die Begrenzung dieser Unabhängigkeit auf ein relativ eng gefasstes Mandat der Preisstabilität – so das Argument – würde dieser institutionelle Rahmen ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen des finanzialisierten Kapitalismus und den Erfordernissen der Demokratie schaffen. Die Unabhängigkeit der Zentralbanken wurde als eine politisch neutrale und den Wohlstand maximierende Form des volkswirtschaftlichen Managements verkauft. Tatsächlich jedoch erwarben die Zentralbanken außerordentliche Macht über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die globale Finanzkrise von 2008 offenbarte das Ausmaß dieser Macht. Mit unbegrenzter Liquidität unterstützen die Zentralbanken die Preise von Wertpapieren und damit die Stabilität von Finanzmärkten, während sie weitgehend von demokratischer Kontrolle unbehelligt blieben.
Um es klar zu sagen: Das Problem mit den Reaktionen der Zentralbanken auf die Insolvenz von Lehman Brothers 2008 und auf die Corona-Pandemie 2020 besteht nicht darin, dass sie schnell und in einem nie dagewesenen Umfang gehandelt haben, um weiteren wirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Das Problem ist, dass der Aktivismus der Zentralbanken höchst asymmetrisch ist und ein ungerechtes und ineffizientes privates Finanzsystem am Leben erhält. Das zeigt aber auch: Zentralbankplanung gibt es bereits. Die schlechte Nachricht ist, dass sie ausschließlich der Unterstützung der profitorientierten Planungen der privaten Finanzwirtschaft dient.
Theoretisch gibt es für das makroökonomische Koordinationsproblem zwei »reine« Lösungen. Es kann entweder durch eine zentralistische soziale Planung gelöst werden oder durch Hayeks Spekulanten, deren dezentralisierte Aktivitäten über Marktpreise koordiniert sind. Diese »reinen« Lösungen sind Idealtypen – in Wahrheit leben wir alle in Mischwirtschaften: Nicht marktorientierte Institutionen und der marktbasierte Preismechanismus tragen beide zur Koordination bei. Das Problem ist, dass die verbliebenen Planungskapazitäten dem privaten Finanzsektor zugefallen sind.
Im finanzialisierten Kapitalismus stellt die Zentralbank die wichtigste Institution dar. Zentralbankgeschäfte verfügen immer über ein Element zentraler Planung: Geldpolitik beinhaltet die absichtsvolle Manipulation eines Schlüsselpreises in der Wirtschaft – nämlich des Preises für kurzfristige Liquidität. Aber seit 2008 haben sich Umfang und Tragweite der Zentralbankplanung noch weit darüber hinaus vergrößert. Eines der offensichtlichsten Beispiele ist die Politik der »quantitativen Lockerung«, bei der in großem Stil Vermögenswerte angekauft werden, um auch langfristige Zinsraten zu senken und Vermögenspreise zu stützen. Beispielsweise hielt die japanische Zentralbank bereits vor der Corona-Pandemie 49 Prozent der inländischen Unternehmensanleihen und 65 Prozent der inländischen börsengehandelten Fonds. Die marktgestaltenden Aktivitäten der Zentralbanken sind weniger offensichtlich, aber ebenso folgenreich. Sie haben Geldmärkte ausgebaut und neue Infrastrukturen für Zahlungen und Wertpapiergeschäfte eingerichtet. Durch internationale Währungsswaps, die Regulierung systemischer Risiken und Stresstests haben sie ihre Rolle im Finanzsystem noch weiter vergrößert.
Die Frage ist: Von welcher strategischen Vision werden die Technokratinnen und Technokraten bei der Handhabung dieses mächtigen Instruments der Staatsmacht geleitet? Zu welchem Zweck oder zu wessen Vorteil planen Zentralbanken?
Statt als Korrektiv für die Ineffizienzen und Ungerechtigkeiten dieser Form der Kapitalallokation zu handeln, ist die Zentralbankplanung auf deren Stabilisierung ausgerichtet. Die Finanzkrise von 2008 hat nichts an dem Modell der durch Zentralbanken gestützten Finanzialisierung geändert. Das private System der Abwicklung von Wertpapiergeschäften ist ineffizient und erzeugt Reibungen auf den Kapitalmärkten? Die EZB baut ein besseres, öffentlich geführtes System auf. Anlagemärkte geraten ins Stocken und bedrohen die Expansion des Finanzsektors? Die Zentralbanken schaffen Sicherungssysteme, treten als »Kreditgeber letzter Instanz« auf und garantieren dadurch, dass sich Hedge Fonds und Private Equity Fonds inmitten wirtschaftlicher Desaster Immobilien und Unternehmen einverleiben können.
Zentralbankplanung findet also bereits statt, diese ist jedoch gegenwärtig auf die Stützung eines Systems ausgerichtet, in dem die Investitionsplanung in Wirklichkeit vom privaten Finanzsektor durchgeführt wird. Dieses System ist zugleich ineffizient und zutiefst ungerecht. Die Zentralbanken sind zu den Kreditgebern letzter Instanz eines untragbaren Status quo geworden.
Können Zentralbanken in progressive Institutionen verwandelt werden? Unter Beobachterinnen und Beobachtern quer durch das ideologische Spektrum gilt der Konsens, dass Zentralbanken verkleinert und demokratisch rechenschaftspflichtig gemacht werden müssen. Als Progressive sollten wir jedoch einen anderen Weg hin zur Demokratisierung der Zentralbanken in Betracht ziehen: Die private Finanzwirtschaft sollte radikal verkleinert und die Planung durch Zentralbanken stattdessen intensiviert werden.
Es ist wichtig, hier ganz deutlich zu sein: Zwar üben die Finanzinstitutionen außerordentliche Macht über die Wirtschaft aus, die Quelle dieser Macht aber ist der Staat. Die Rechtswissenschaftler Robert Hockett und Saule Omarova haben den Ausdruck des »Finanz-Franchise« geprägt, um die Situation zu beschreiben, in der das Gemeinwesen als Lizenzgeberin und die privaten Banken als Lizenznehmerinnen auftreten. Dieses Modell, das seine heutige Gestalt in den Vereinigten Staaten zwischen der Gründung der US-Notenbank Federal Reserve im Jahr 1913 und den Bankenreformen während des New Deals unter Präsident Roosevelt in den frühen 1930er Jahren erhielt, beruhte auf zwei Annahmen: Das Kapital sei knapp und der Privatsektor am besten dazu geeignet, es dem produktivsten Nutzen zuzuführen. Keine dieser Annahmen trifft heute noch zu. Kapital gibt es im Überfluss und die private Kapitalallokation hat extreme Ungleichheiten innerhalb und zwischen Nationen geschaffen und den Planeten an den Rand einer Klimakatastrophe und eines ökologischen Zusammenbruchs geführt.
Es ist an der Zeit, die Lizenzvereinbarung zurückzunehmen und grundsätzlich zu überdenken. Das ist keine leichte Aufgabe. Als Progressive müssen wir genau über die Architektur eines Finanzsystems nachdenken, in dem die Schöpfung von Kredit und die Allokation von Kapital öffentlicher statt privater Planung unterliegen.
Die gute Nachricht ist, dass die Zentralbankplanung bereits existiert. Die Realität dieser Planung untergräbt bereits jetzt die Lehrbuchargumente für das Delegieren der Geldpolitik an unabhängige Zentralbanken. Erstens entkräften die vielen Methoden, mit denen die Zentralbanken die Finanzmärkte steuern und gestalten, das Prinzip der Marktneutralität. Der Gedanke, dass die Geldpolitik einen vernachlässigbaren Einfluss auf die Wirtschaft hat, oder haben sollte, ist schon lange Zeit ein Mythos und sollte uns nicht davon abhalten, ihren Einfluss für fortschrittliche Zwecke einzusetzen. Zweitens verfügen Zentralbanken über viel mehr Möglichkeiten, als die sogenannte Tinbergen-Regel unterstellt. Diese besagt, dass ein bestimmtes Instrument (die Steuerung der kurzfristigen Zinsrate) nur zu einem bestimmten Ziel eingesetzt werden kann (die Sicherung der Preisstabilität). Auch wenn sie lange Zeit ein Grundprinzip der Geldpolitik war, so ist die Anwendung der Tinbergen-Regel im Falle der Zentralbanken unsinnig. Es ist viel angemessener, die Zentralbank mit einem Schweizer Taschenmesser zu vergleichen – sie also als einen Apparat zu verstehen, der viele verschiedene Instrumente beherbergt und daher zu ganz unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden kann.
Die Neuausrichtung der Zentralbankplanung von privaten Profiten auf öffentliche Güter ist nur im Rahmen einer Generalüberholung des Finanzsystems möglich. Es bleibt hervorzuheben, dass eine progressive Agenda für das Finanzwesen auch eine internationale Agenda sein muss. Die Finanzkrise von 2008 hat die Karten noch nicht vollends neu gemischt. Aber vielleicht produziert der wirtschaftliche und politische Schaden der Corona-Pandemie jene seltene Gelegenheit, die internationale Finanzordnung neu zu verhandeln. Die globale Erwärmung, Umweltzerstörung und Pandemien sind weltweite Probleme mit weltweiten Feedback-Effekten – ohne eine ausgeglichenere multilaterale Finanzordnung werden wir diese Probleme kaum bewältigen können.
Das Zeitalter der Alternativlosigkeit ist vorbei. Die Fiktion einer aufgeklärten neoliberalen Technokratie mag gestorben sein. Dennoch wird der Neoliberalismus in seinen offen autoritären und nationalistischen Varianten überleben – so wie etwa in Brasilien oder den USA. Die Alternative ist politische und wirtschaftliche Demokratie. Eine grundsätzliche Bedingung, um das zu einer gangbaren Alternative werden zu lassen, ist die Transformation der Zentralbanken. Die Zentralbankplanung gibt es schon – aber sie ist auf die Aufrechterhaltung der Profitrate innerhalb eines aufgeblähten extraktiven Finanzsystems ausgerichtet. Abhilfe können nur eine große politische und eine kleine technokratische Revolution schaffen: Wir müssen das Finanzsystem in einen am Allgemeinwohl orientierten Sektor der öffentlichen Daseinsvorsorge verwandeln und die Planung der Zentralbanken sozialisieren.
Dieser Beitrag erschien zuerst in englischer Sprache unter dem Titel »Socialize Central Bank Planning« bei Progressive International.