16. Mai 2022
»Heartstopper« und »Sex Education« sind zwei der beliebtesten Coming-of-Age-Serien auf Netflix. Sie sind herzerwärmend schön – doch sie nehmen eine Gegenwart vorweg, die es so noch gar nicht gibt.
Die verspielten Comic-Elemente in der Serie »Heartstopper« sind der gleichnamigen Graphic Novel entnommen.
Wenn Du dich wirklich alt fühlen und eine Jugend nacherleben willst, die Du selbst nie hattest, ist Heartstopper auf Netflix die richtige Serie für Dich. Es ist fast schon unerträglich rührend, den beiden Protagonisten Nick und Charlie dabei zuzusehen, wie sie sich in der Schule ineinander verlieben, mit ihren Freunden zum Bowlen gehen oder sich am Strand fragen, ob sie nun »Boyfriends« sind. Comic-Elemente der gleichnamigen Graphic Novel von Alice Oseman, auf der die Serie basiert, unterstreichen den kindlichen Touch dieser Erzählung über eine Jugendliebe, die fast zu schön ist, um wahr zu sein.
Alles beginnt damit, dass der Zehntklässler Charlie, der sich im Vorjahr unfreiwillig outete und dafür in der Schule gemobbt wurde, neben den ein Jahr älteren Nick gesetzt wird. Kleine gezeichnete Herzchen blitzen auf und man ahnt, wie sich diese Beziehung in den kommenden acht Folgen entwickeln wird. Nick spielt im Rugby-Team und wird von Charlies Freunden zunächst als eindeutig hetero identifiziert. Er durchlebt ein Wechselbad der Gefühle bis er schließlich herausfindet, bisexuell zu sein. Charlie wiederum löst sich im Laufe der Serie von einer – man würde heute sagen toxischen – Beziehung mit dem unsicheren und verletzenden Ben und steht immer selbstbewusster zu seiner Homosexualität. Ihr zärtlicher, vorsichtiger Umgang miteinander, aber auch die Reaktionen der Freunde und Eltern sind Musterbeispiele gefühlvoller Kommunikation, die die allermeisten von uns in unserer Schulzeit vermutlich nicht erlebt haben. Heartstopper ist in diesem Sinne ein gesellschaftspolitischer Vorreiter und zugleich Abbild der Generation Z, die viel offener und freier über die eigene Sexualität spricht.
Sex Education, eine weitere erfolgreiche Netflix-Produktion, zeigt im 80er-Jahre-Retro-Wohlfühl-Look, wie sexuelle Aufklärung an einer britischen Privatschule aussieht. Wir folgen allen Protagonistinnen und Protagonisten durch ihre schmerzhaft-schönen Beziehungen im Schulalltag – so weit, so bekannt. Was diese neuen Jugendromanzen von ihren Genre-Klassikern unterscheidet, ist, dass ausgiebig über die eigenen Trennungen und Bedürfnisse gesprochen wird. Während sich die Liebesgeschichten früherer Jugendserien wie etwa Dawson’s Creek im heteronormativen Gefühlschaos einer kleinen Clique verhedderten, wirken Freundschaften und Beziehungen in Serien wie Sex Education oder Heartstopper zunehmend komplexer und offener.
Wir schauen den dramatischen Beziehungen und Trennungen nicht nur zu, wir erleben sie neuerdings auch förmlich mit: Jede erneut durchdachte und wieder gelöschte Instagram-Nachricht lässt uns nachfühlen, was Nick eigentlich sagen will, und was er dann tatsächlich äußert. Wir erfahren dank Sex Education auch genauestens, wie man sich auf schwulen oder lesbischen Sex vorbereitet, was in früheren Serien unausgesprochen blieb. Hatten wir bei Dawson’s Creek noch eine leise Ahnung, dass es nach dem Schulball womöglich zum Sex kommen könnte, werden wir bei Sex Education auf charmante Art und Weise über Analverkehr aufgeklärt. Nick folgen wir auf seiner Entdeckung der Bisexualität buchstäblich bis hin zu seiner Google-Suche und dem Selbsttest, den er für alle Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich selbst nicht ganz sicher sind, gleich mit ausfüllt. Gezeigt werden außerdem eine Trans-Frau, die die Schule wechselt und dort auf ein offen lesbisches Paar trifft, mit dem sie sich anfreundet. Eine ganze Bandbreite an Begehren, die sonst allenfalls in einer klischierten Nebenrolle Platz fanden, stehen hier im Fokus des Geschehens.
In dieser Hinsicht sind die neueren Netflix-Serien ein Fortschritt. Wie sehr hätte man sich gewünscht, mit Fünfzehn eine solche Fülle an sexuellen Vorlieben und Fragestellungen präsentiert zu bekommen, ohne sich dafür verschämt in die hintersten Ecken des Internets begeben und recherchieren zu müssen. Wie hilfreich wäre es gewesen, Beziehungen zu sehen, die aufrichtig und gefühlvoll beendet werden und nicht in eine dramatische Schicksalsentscheidung zwischen der einzig wahren High-School-Liebe oder einer herzzerreißenden Trennung münden. Die Serien sind damit Ausdruck eines Prozesses, der auch in anderen neueren Schöpfungen der Kulturindustrie zu beobachten ist: Serien und Filme rücken zunehmend in einem fast therapeutischen Modus das Innenleben und die Identität der Protagonisten in den Vordergrund, während die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Hintergrund treten.
Am deutlichsten wird das in Sex Education, wo das Therapiegespräch die gesamte Rahmenhandlung anleitet: Der Protagonist Otis ahmt seine Mutter Jean Milburn – gespielt von der großartigen Gillian Anderson, die für sich genommen bereits wert ist, die Serie zu schauen – nach und wird kurzerhand zum Sexualtherapeuten in spe. Folge für Folge berät er andere Jugendliche bei ihrem täglichen Struggle mit der eigenen Befriedigung oder der ihrer Partnerinnen und Partner. Selbst Rüpel wie der Sohn des Schulleiters werden im Laufe der Serie von ihrer weichen Seite bis zum Coming Out gezeigt.
Das in warmes Licht eingebettete Setting am schönsten Ort der Welt mit den schönsten Pullis und Retro-Jacken der Welt lässt uns für einen Moment lang davon träumen, dass auch wir – oder zumindest unsere Kinder – eine etwas befreitere und modisch durchgestyltere Jugend hätten haben können. Doch wir wissen auch: So divers und so emphatisch ist die graue Realität der meisten Jugendlichen eher nicht.
Sex Education wagt im Verhältnis zum noch wesentlich kitischigeren Heartstopper zumindest den Versuch, die Klassengesellschaft und soziale Konflikte mitabzubilden. Jackson Marchetti etwa, der Schwarze Schwimmsportstar der Schule, hadert nicht nur mit seiner Anziehung zu einer nicht-binären Person, sondern auch mit der Anforderung, eine Vorbildrolle erfüllen zu müssen. Maeve, die von ihrer drogenabhängigen Mutter schon früh im Stich gelassen wird, lebt in einem Trailer-Park und entscheidet sich bereits in einer der ersten Folgen für eine Abtreibung. Doch auch ihr wird am Ende der dritten Staffel durch ein Stipendium der soziale Aufstieg gelingen. Auch der Konflikt mit ihrer Mutter löst sich in Wohlgefallen auf, als diese endlich in eine Entzugsklinik geht. Wäre Maeve nicht begabt und belesen, dann gäbe es in der Serie keinen Platz für sie. In der heilen Welt von Sex Education ist wirklich niemand durch und durch ein Arschloch. Das ist zwar irgendwie erleichternd, aber leider mit der Realität auch nicht wirklich kompatibel. Letztlich werden auch die schwierigsten Konflikte durch Einsicht und aufrichtige Entschuldigungen gelöst. Beruhigt können wir den Laptop zuklappen.
Es ist erst einmal nichts Neues, dass die Kulturindustrie mit unseren Sehnsüchten von vergangenen oder tatsächlichen Zukünften spielt. Sie lebt davon, ihre Zuschauerinnen und Zuschauer mit unerfüllten Wünschen bei der Stange zu halten. Dass sich diese Sehnsüchte verändert haben, spiegelt eine Liberalisierung wider, die für alle, die sich irgendwie als links und progressiv verstehen, zu begrüßen ist. Doch die Kulturindustrie arbeitet immer auch daran, die Verhältnisse weich zu zeichnen, damit sie konsumierbar bleiben. Netflix zeigt eine Welt, die zu schön ist, um wahr zu sein, und die nur im abgetrennten sozialen Raum einer undefinierbaren Privatschule im Nirgendwo funktioniert. Der Clou würde nun darin bestehen, die realen Sehnsüchte nach sexueller Befreiung und der Akzeptanz der eigenen Identität in der Realität zu verorten und Verhältnisse zu schaffen, in denen sie tatsächlich erfahrbar sind – für alle.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.