14. Juni 2022
Erasmus Schöfer schrieb nicht nur über die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Welt, er brachte sie auch selbst zum Schreiben. Ein Nachruf auf den Schriftsteller Erasmus Schöfer.
Erasmus Schöfer in Köln, 13. Oktober 2019.
Erasmus Schöfer war unbeugsam. Heute, in Zeiten neoliberalen Flexibilitätswahns, hat dieses Wort beinahe einen negativen Klang. Man verbindet damit Störrigkeit und Dogmatismus, man stellt sich einen Menschen vor, der sich dem notwendigen Wandel der Welt verschließt und auf das Althergebrachte pocht. Nichts davon traf auf Erasmus Schöfer zu. Er hatte genügend Niederlagen in seinem politischen und literarischen Leben erfahren. Doch das verbitterte ihn nicht, sondern ließ ihn nur fragen: Wenn nicht so, wie machen wir es dann? Er war also unbeugsam dem gesellschaftlichen Falschen gegenüber und wurde nicht müde, diesem eine stets erneuerte Praxis und eine Vision des Richtigen entgegenzustellen. Diesen Optimismus einer inneren Notwendigkeit behielt er bis zuletzt.
Das bezeugt auch seine Teilnahme am Autoren-Netzwerk »Richtige Literatur im Falschen«. Gemeinsam mit dem Politologen Ingar Solty hat der Verfasser dieser Zeilen es 2015 gegründet, man traf sich seitdem – mit Ausnahme des Coronajahres 2020 – jährlich und in unterschiedlichen Städten. »Richtige Literatur im Falschen« ist eine Initiative, die Autorinnen und Autoren sowie Theoretiker und Theoretikerinnen zusammenbringt, um über die Möglichkeiten einer politisch engagierten Literatur zu diskutieren. Auch ist es der Versuch, einer solchen Literatur wieder mehr Resonanz und Reichweite zu vermitteln. Erasmus Schöfer war eine der tragenden Säulen dieses Unterfangens. Noch in München 2019, als wir Veranstalter ihn in Kenntnis seiner angegriffenen Gesundheit nicht um eine Teilnahme gebeten hatten, bestand er darauf, dorthin zu kommen, notfalls auf eigene Kosten.
Drei Tage nach seinem 91. Geburtstag, am 7.6.2022, ist er nun gestorben. Mit ihm verliert die deutsche Literatur einen der letzten wahrhaft politischen Autoren. Wahrhaft politisch ist ein Autor, eine Autorin, wenn er oder sie nicht nur durch journalistische Einlassungen zu Tagesfragen auf sich aufmerksam macht, sondern dann, wenn auch ihr literarisches Werk unübersehbar vom Engagement geprägt ist, vom kritischen Zugriff auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Oder wie im Falle Schöfers von einer Darstellung der politischen Kämpfe, der Konflikte, Widersprüche und Niederlagen, die diese Kämpfe begleiten.
Wahrscheinlich gehörte er zu den letzten Intellektuellen, die aus traditionell marxistischer, dabei gewerkschaftlich grundierter Perspektive ihre Kritik an der kapitalistischen Weltordnung formulierten. Ihm ging es nicht um einzelne minderprivilegierte Gruppen, sondern um die ganze Menschheit, vor allem aber um die Arbeiterschaft. Das kam nicht von ungefähr. Denn Schöfer, geboren 1931 in der Nähe von Berlin, suchte und hielt den Kontakt mit Werktätigen. Schon während des Studiums der Germanistik und Philosophie war er als Praktikant und Arbeiter in Kölner und Berliner Fabriken tätig, also unmittelbar in der Produktion. In beinahe paradigmatischem Widerspruch dazu stand das Thema seiner Dissertation. 1962 promovierte er über die »Sprache Heideggers« zum Doktor der Philosophie. 1970 war er Mitbegründer und erster Sprecher des »Werkkreises Literatur der Arbeitswelt«. Das Anliegen dieser literarischen Initiative bestand darin, Arbeiterinnen und Arbeiter zum Schreiben zu bringen, damit sie ihre alltäglichen Erfahrungen in die Literatur einfließen lassen. Der Gedanke dahinter war, der deutschen Literatur mehr Gegenwärtigkeit, mehr Welthaltigkeit und nicht zuletzt mehr Materialismus einzuhauchen.
Der Einsatz für den Sozialismus prägte seine Literatur, seine Hör- und Fernsehspiele. Dass man als Autor damit in Deutschland nicht reich, nicht einmal berühmt werden konnte, war ihm klar. Die strukturellen Zwänge, auf die gerade eine literarische Praxis trifft, die sich mit dem Gegebenen nicht einverstanden erklärt, die Prozesse aufdecken möchte, auch solche, die im Literaturbetrieb selbst walten, hat er in seiner biografischen Selbstauskunft Der gläserne Dichter (2010) anschaulich gemacht. Nicht nur der generelle Wandel der Medienlandschaft, auch das Alter forderte hier seinen Tribut: Als freier Autor ist man auf seine Bekanntschaften in den Verlagen, Zeitungen und Sendern angewiesen, Leute, für die man jahrelang gearbeitet hat. Wenn die aber verschwinden, durch Tod oder Pensionierung, und Jüngere an ihre Stelle treten, ist die einstmals sichere Position bedroht.
Vielleicht aber hat diese Erfahrung, die Schöfer mit vielen seiner Altersgenossen teilte, deren Provenienz und Netzwerke auf die Zeit der 1968er-Revolte zurückging, für ihn auch sein Gutes gehabt. Denn statt sich am Termin- und Tagesjournalismus abzuarbeiten, fand er nun die Zeit, ein echtes Hauptwerk zu kreieren: die 2000 Seiten umfassende Tetralogie Die Kinder des Sisyphos (2001-2008). Sie ist sein wichtigstes literarisches Vermächtnis. Und nicht nur das: Sie ist auch eine hervorragende Quelle zur Erforschung der sozialen und politischen Kämpfe von 1968 bis 1989. Kurz nach dem Mauerfall endet dieses Romanwerk, weil hier jede Hoffnung auf eine mögliche Reformierbarkeit des sogenannten »realen Sozialismus« hinfällig wurde. Und tatsächlich muss man dieses Datum als eine Zeitenwende begreifen, denn der neoliberale Turbo-Kapitalismus, der danach einsetzte, hatte seinen letzten ernstzunehmenden Gegner verloren. Nun änderte sich wirklich alles, auch die Angriffspunkte und Erscheinungsbilder des Widerstands.
Schöfers vier Romane sind kompromisslos in Form und Gestaltung. Er besteht, darin vielleicht tatsächlich etwas störrisch, auf eine eigene Orthographie und Zeichensetzung, um damit die Herrschaftsfunktion der Sprache zu unterlaufen. Das fordert die Leserschaft, verlangt Mitdenken und Durchdringung. Wie Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands, die ein klares Vorbild für die Kinder des Sisyphos ist, lässt Schöfer hier reale und fiktive Personen miteinander agieren. Der Regisseur Peter Stein tritt auf und der spätere Schauspielstar Bruno Ganz, auch Wolfgang Abendroth, Therese Giehse oder Heinz Schubert. Doch die Hauptrollen spielen fiktive Personen, etwa der Geschichtslehrer Viktor Bliss, der unter den Radikalenerlass fällt, seinen Job dadurch verliert und später in Griechenland einen schrecklichen Unfall hat. Seine Frau Lena ist zunächst Kostümbildnerin, dann trennt sie sich von ihm und wird Schauspielerin. Weitere Figuren sind der Gewerkschafter Manfred Anklam und der Journalist Armin Kolenda. Sie alle stehen in wechselnden und widersprüchlichen Beziehungen zueinander und sie sind Teil der politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit.
Vieles von dem, über das Schöfer in seinen Romanen berichtet, kennt er aus eigener Anschauung, wie den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, den Widerstand gegen das Kernkraftwerk Whyl und die Startbahn West. Auch Kritik an der Linken bleibt nicht aus, wenn er etwa den Richtungsstreit in der DKP thematisiert, in dessen Zuge der Lyriker Peter Maiwald ausgeschlossen wurde. Immer wieder, und das ist in der deutschen Literatur durchaus selten, treten Arbeitskämpfe ins Zentrum der Handlung wie der Streik in den Düsseldorfer Mannesmann-Röhrenwerken oder die legendäre »Arbeitsschlacht« um das Krupp-Stahlwerk in Duisburg-Rheinhausen. Im Kontext des Letzteren enthält der Roman Winterdämmerung, der letzte Teil der Tetralogie, ein sprachlich und formal hochambitioniertes Kapitel, ein regelrechtes »Stahlwerk-Epos«, bei dem Manfred Anklam in einer symbolischen Aktion die Spitze des Werks erklimmt, wo jemand eine rote Fahne gehisst hat: »Auf Traumschwingen umkreist der Hüttenmeister den fauchenden metallurgischen Riesen, späht mit den schwarzen Augen des Adlers in das Zwölfstufengerüst, in dessen Zentrum die materialisierte Produktivkraft von drei Jahrtausenden Menschengesellschaft kocht. Auf der höchsten Turmzinne bäumt er auf, über ihm knattert nur noch die Fahne, schwingen Sturmmöwen mit rauen Schreien. In der Tiefe zwischen den Hallen ein Meer: Das sind nicht nur die Männer Rheinhausens: ihre Frauen Kinder Witwen Großväter, bis auf die Straßen Plätze Rheinwiesen, spülen herüber über die Duisburger Brücke.« Solche Zeilen haben Seltenheitswert in der deutschen Literatur – Worte, die den massenhaften Aufstand thematisieren und die in korrekter Terminologie die einzelnen Gegenstandsfelder produzierender Industrie beschreiben. Welcher Autor, welche Autorin hat sonst heute schon eine Ahnung davon? Wer weiß etwas von »Torpedopfanne«, »Kauenhausdach« und »Schubleichtern«? Das klingt nicht nur authentisch, sondern ist es auch. Es setzt voraus, sich für die Erlebniswelt von Arbeiterinnen und Arbeitern zu interessieren, sich mit ihnen zu identifizieren.
Wie Schöfer selbst haben seine Figuren zumeist Anschluss an die Arbeiterschaft. Oft sind sie Teil der widerständischen Aktivitäten, sie agieren und agitieren, leben und leiden. Zumeist aber machen sie Verlusterfahrungen. Nach seinem Brandunfall findet Viktor Bliss nur schwer wieder in die Spur. Anklam, proletarisch-charismatischer Betriebsratsvorsitzender, wird als Opfer einer gewerkschaftlichen Intrige gefeuert. Das Sisyphos-Motiv überschattet die revolutionären Kämpfe: Auch die Protagonisten Schöfers rollen unbeirrt ihre Steine zu Berge, denn sie können nicht anders. Wann immer etwas Hoffnung aufzublitzen scheint, entgleitet ihnen der Fels.
Doch trotz allem endet Schöfers Werk tröstlich, Viktor Bliss entdeckt eine US-amerikanische Enkelin, Manfred Anklam zeugt ein Kind mit seiner Lebensgefährtin, und nach dem 9. November, der eigentlich doch als Niederlage empfunden wurde, feiern sie in trauter Runde Silvester. In angeheitertem Zustand klettern sie aufs Rheinhausener Stahlwerk, wo Anklam noch einmal die rote Fahne ans Führerhaus des Kranes hängt. Während die Raketen in den Himmel steigen, um das neue Jahrzehnt zu begrüßen, endet das Buch mit einem kollektiven Lachen, Ausdruck überschäumender Freude und Seinszuversicht. Man sieht, Erasmus Schöfer, wo immer er jetzt auch sei, hat den Mut nie verloren und, ihm darin nachzueifern, mag seine bleibende Botschaft sein an uns.