02. März 2023
Die kommenden Wochen werden für die deutsche Gewerkschaftsbewegung entscheidend sein. Sie braucht breite Unterstützung. Denn die gewerkschaftsfeindliche Propagandamaschine läuft schon heiß.
Nachdem die erste Tarifrunde im öffentlichen Dienst ergebnislos blieb, traten Beschäftigte letzten Monat in den Warnstreik, Berlin, 09. Februar 2023.
Nachdem der heiße Herbst eher lauwarm ausfiel, brennt im Winter plötzlich die Luft: Mittelstandsunion und Arbeitgeberverband stellen das Streikrecht infrage. Die stellvertretende Vorsitzende von Verdi, Christine Behle, spricht offen davon, das Land lahm zu legen, sollten die Arbeitgeber kein anständiges Angebot für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vorlegen. Bei der Deutschen Post AG stimmen die Beschäftigten in einer Urabstimmung über einen unbefristeten Erzwingungsstreik ab, das Ergebnis wird am 8. März erwartet.
Die Beschäftigten von insgesamt fünfzig Bahnunternehmen haben sich zusammengeschlossen und die historische Forderung von 12 Prozent und mindestens 650 Euro beschlossen. Zudem solidarisieren sich die tarifgebundenen Beschäftigten im Einzelhandel mit ihren Kolleginnen und Kollegen ohne Tarifbindung. Es ist zu erwarten, dass sie die Allgemeinverbindlichkeit – also die Ausweitung der Gültigkeit des Tarifvertrags auf alle Beschäftigte – in den Verhandlungen im Frühjahr wieder zu einer Kernforderung machen werden.
Nachdem die Inflation jahrelang auf einem niedrigen Stand verharrte und die Tarifverhandlungen entsprechend zaghaft geführt wurden, organisieren sich derzeit Zehntausende Beschäftigte, um ihre Kaufkraft zu erhalten. Ob sich die harte Gewerkschaftsarbeit von Tausenden aktiven Gewerkschafterinnen auszahlt, hängt dabei wesentlich von den politischen Entscheidungsträgern ab. Bei Bahn und Post ist der deutsche Staat Hauptanteilseigner. In der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes sitzen Nancy Faeser für den Bund und Karin Welge, SPD Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen, persönlich am Verhandlungstisch für die Arbeitgeberseite.
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen im Handel scheitern derzeit am Veto der Arbeitgeberverbände. Die gewerkschaftliche Forderung lautet, die gesetzlichen Regelungen dahingehend zu ändern, dass auch einseitig eine Allgemeinverbindlichkeit beantragt werden kann. Zuständiger Minister für eine solche Gesetzesänderung wäre Hubertus Heil. Die Existenzsicherung von 7 Millionen Beschäftigten steht bei den Arbeitskämpfen auf dem Spiel und es geht auch um die Frage, wie viel Respekt die Politik den Kolleginnen und Kollegen zollt, die in der Pandemie noch beklatscht wurden.
Als Zeichen des »Respekts« legten Faeser und Welge ein Angebot von 2 und 3 Prozent über drei Jahre vor. De facto würde das Reallohnverluste für drei Jahre in Folge bedeuten, was in den unteren Einkommensgruppen zu Altersarmut führen würde. Als Hauptargument verweisen die kommunalen Arbeitgeber auf die überschuldeten Kommunen. Eine davon ist Gelsenkirchen, wo Welge als Bürgermeisterin die Bedingungen kennen sollte. Warum Beschäftigte die Leidtragenden einer schlechten Haushaltspolitik sein müssen, wird aber nicht erläutert.
Die Beteiligung an den Warnstreiks bei der Post und im öffentlichen Dienst haben in den letzten Wochen gezeigt, dass immer mehr Beschäftigte, insbesondere aus den unteren Einkommensgruppen, genug haben. Einen politisch gewollten Reallohnverlust wollen sie nicht hinnehmen. Die Streikbereitschaft – das hat der Stärketest der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gezeigt – ist so groß wie seit Jahren nicht mehr. Mehr als 300.000 Beschäftigte haben sich mit ihrer Unterschrift hinter die Forderung gestellt. Unter ihnen befinden sich eine Vielzahl der Müllwerker in Deutschland. Wenn sie kein zufriedenstellendes Angebot erhalten, könnten demnächst viele Mülleimer überlaufen.
Die gewerkschaftsfeindliche Propagandamaschine läuft derweil schon langsam warm. Während in der verarbeitenden Industrie bei starken Arbeitskämpfen das Schreckgespenst der Standortsicherung durch die Presse geistert, wird bei den Dienstleistungsberufen, die nirgendwohin abwandern können, die Legende der Lohn-Preis-Spirale heraufbeschworen. Zudem werden Patienten, Kindergartenkinder, berufstätige Eltern, Fahrgäste oder Flugreisende instrumentalisiert und als Leidtragende von »geldgierigen Gewerkschaftsbonzen« dargestellt. Gerade wenn sich Arbeitskämpfe in die Länge ziehen und von den Medien hauptsächlich die Angebote der Arbeitgeberseite aufgegriffen werden, die so kompliziert sind, dass man einen Statistikkurs besucht haben muss, um zu verstehen, dass sie einen Reallohnverlust bedeuten, verfangen solche Narrative innerhalb der Bevölkerung.
Ob und wie sich die Vielzahl der Arbeitskämpfe zueinander verhalten werden, kann heute keiner vorhersagen. Doch sicher ist, dass von ihnen auch abhängt, wie sich die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland weiterentwickeln wird. Entscheiden sich Arbeitgeber und Politik dafür, Streiks medial und rechtlich die Legitimation abzusprechen und in den Verhandlungen auf eine Zermürbungsstrategie zu setzen, wird sich zeigen müssen, wie viel Durchhaltevermögen die Streikenden haben und wie solidarisch sich die Betroffenen der Streiks verhalten.
Einen Vorgeschmack gab es letztes Jahr in NRW. Dort traten die Beschäftigten der Unikliniken für 77 Tage in einen Erzwingungsstreik. Medial und rechtlich versuchten Arbeitgeber und Teile der Politik zwar angestrengt, den Arbeitskampf zu delegitimieren. Aber mit einer starken Organisierungsbewegung der Beschäftigten und einer öffentlichkeitswirksamen Solidarisierung der betroffenen Patientinnen und Patienten sowie der Zivilgesellschaft gelang es, einen Tarifvertrag Entlastung durchzusetzen. Ob sich dieser Erfolg gewerkschaftsübergreifend und bundesweit wiederholen lässt, hängt davon ab, ob sich mehr Beschäftigte mit ihren Kolleginnen und Kollegen organisieren, in Urabstimmungen für unbefristete Arbeitsniederlegungen votieren und ob sie auf die Solidarität der Bevölkerung zählen können.
Auf sozialpartnerschaftliches Verhalten können sich die Beschäftigten nicht verlassen. Erst wenn der wirtschaftliche und gesellschaftliche Druck groß genug ist, werden die Arbeitgeber und die politischen Entscheidungsträger einlenken. Wenn das gelingt, könnte die Gewerkschaftsbewegung gestärkt aus den Auseinandersetzungen hervorgehen.
Max van Kaldenkerken arbeitet seit zehn Jahren in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und als Supervisor im non-profit Bereich.