14. Dezember 2020
Die Wende hinterließ einen Riss, der bis in die persönlichen Beziehungen hinein reichte. Eine Reportage.
In den 1980ern gebaut, galten die Plattenbauten am Kranzberg als Luxus.
Schon der Titel ist ein bisschen gelogen. Wenn ich »zurückfahre«, dann nicht nach Zwickau, sondern nach Werdau. Es ist ja üblich, dass man immer die nächstgrößere Stadt als Herkunft angibt, um nicht näher darauf eingehen zu müssen. In Zwickau steht das VW-Werk, gibt es Arbeit, bleibt ein Hauch Perspektive. »Werde« hingegen, das sagen alle, »liegt am Arsch der Erde«.
Genauer liegt Werdau in der Arschritze des ansonsten ganz schönen Pleißentals. Die Pleiße fließt als ein kleines Bächlein mitten durch die Stadt und legitimiert mehrere neue, EU-finanzierte Brücken. Früher bekam ich bei der Anfahrt auf der B175 – pünktlich beim Hügel kurz vor der neuen Pleißentalklinik – Herpes an den Lippen. Das Kribbeln kündigte an, dass nun Ferien waren, die wir, wie immer, in Werdau bei der Familie verbringen würden. Wir kamen planmäßig immer nach dem Mittagsschlaf meiner Großeltern an. Meine Oma machte Kaffee, mein Vater fragte, wie jedes Mal, ob sie sich bei den Löffeln verzählt habe. »Man bekommt ja einen Herzkasper von der Brühe.« Für mich gab es eine Tasse warme Milch, auf der sich eine Haut bildete, die ich abstoßend fand, über die ich aber nicht meckern wollte. In die Milch mischte ich, wie die Erwachsenen, noch ein paar Löffel Kaffeeweißer. Mit Ausnahme von Familienfeiern, bei denen auch Kaffeesahne gereicht wurde, blieben meine Großeltern stur bei diesem fragwürdigen Milchpulver. Ich liebte es.
Dieses Mal gibt es kein Kribbeln am Herpeshügel, dabei hatte ich mich auf so ziemlich jede mögliche körperliche Reaktion eingestellt. Alles ist gut. Wir befinden uns in der Kleingartenanlage auf der Anhöhe. Der mit kleinen Steinchen gepflasterte Weg bis an den hintersten Garten ist unerwartet kurz, früher war er für mich ein ganz eigener Kosmos. Links vorne Onkel Bernds Garten, mediterran angehaucht mit Steinmauer, eingebauter Dusche und zwei riesigen Bananenpflanzen, die sich in den sächsischen Himmel ranken, als wären sie das normalste Gewächs in Werdau. Etwas weiter rechts Onkel Franks Garten, die helltürkise Holzlaube verwittert, links Tante Ilonas und Onkel Haralds Fleck, dunkelbraun und fast ohne Pflanzen. Bloß der Garten von Onkel Jens ist nicht mehr wiederzuerkennen. Der große Kirschbaum fehlt. Und Onkel Jens. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals.
Dann von ganz hinten die Stimme von Onkel Andreas. Wie alle aus diesem Teil der Familie hat er ein lautes Organ. Er grüßt mich freundlich, aber wie eine Fremde. Dabei blickt er unsicher über die schnurgerade Hecke. »Ich bin’s, Ines«, sage ich, woraufhin er die Augen konzentriert zusam-menkneift. »Ines … Ines … hilf mir mal«, bis er ein lautes »Schwerdtnor!« ausstößt. Sofort lädt er uns in den Garten ein und bietet Bier an, er hat auch Alkoholfreies. Wir winken freundlich ab und bekommen eine giftgrüne Apfellimo. Alles beim Alten, »nur die Frau ist neu«, lacht er. Er erklärt ihr: »Das is die Klenne vom Eberhard, der viel zu früh gestorben ist.« Der Kloß im Hals drängt in einem Schwall von Tränen nach oben. In der Familie kommt immer alles direkt auf den Tisch – oder wird für immer verschwiegen. Dazwischen gibt es nichts. Wir erzählen, dass wir eine Zeitschrift über den Osten machen. »Aha, freie Künstler also.« Da Künstlerinnen neben Politikern und Rechtsverdrehern für meine Familie die unterste Berufsgruppe darstellen, wechsel ich schnell das Thema und frage nach dem neuen Hochbeet.
Stolz zeigt er seine neuen Bauten. Alle meine Onkel waren das, was ich als Kind pauschal unter »Handwerker« abspeicherte, menschliche Allzweckwaffen. Irgendwie konnten sie alles bauen und anlegen: die Laube meiner Großeltern, Zäune, Teiche, Häuser, Mauern, und nun auch Hochbeete aus Badewannen. »Auf zwee Betonpfählen liescht die Wanne, das hält ewisch.« Das Gewächshaus hat er auch selbst gebaut, aus transparenter Dachpappe. Hält mindestens zehn Jahre. Die neuen großen Fenster an der Laube hat er sich mitgenommen, als bei der alten Plattenbausiedlung im Stadtteil Sorge vor ein paar Jahren alles abgerissen wurde. Solche Fenster wollte er schon zu DDR-Zeiten haben. Und im Baumarkt hätten sie 800 Euro gekostet. So erzählt er es und grinst diebisch. Genau so wie er grinste, wenn er beim Kartenspiel – wie meine Oma und vermutlich auch der ganze Rest der Familie – zu schummeln versuchte. Wie viele Abende wir am Tisch in einem der Gärten verbrachten und zockten.
»Der Riss durchzog eben nicht nur Regionen, er reichte bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein.«
Die Familie zerbrach irgendwann nach der Wende. Genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren. Ich erinnere mich nur, dass in einem Streit ein roter Kühlschrank Thema war, dann Reisen nach Spanien, die einige machten und andere nicht, Trennungen, Geld, Umzüge und tausend Dinge, die wir als Kinder nicht verstanden. Erst heute kann ich das Zusammenbrechen meiner Familie auch als Folge des Struk-turwandels begreifen. Der Riss durchzog eben nicht nur Regionen, er reichte bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein.
Darüber sprachen die Erwachsenen allerdings nicht, zumindest nicht explizit. So blieben diese Zusammenhänge immer im Dunklen. Überhaupt sprachen die Erwachsenen eine seltsame Geheimsprache, was nicht nur am Sächsisch lag, sondern auch am derben Humor und den Codes gegen die Obrigkeit. Ich versuchte mir aus den unbekannten Abkürzungen und Begriffen einen kindlichen Reim zu machen.
Warum wir etwa nach Tschechien zu den »Fidschimärkten« fuhren und dort Zigaretten in Stangen über die Grenze brachten, erschloss sich mir nicht, aber es war jedes Mal aufregend. Meine Oma hatte diesen Röntgenblick und konnte durch die Packung sehen, ob es sich um gestopfte Zigaretten handelte oder Original West. Sie feilschte mit diesen, in meinem Augen armen »Fidschis«, von deren Herkunft ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, um den letzten Pfennig. Dass sie sie nach dem abgeschlossenen Geschäft auch noch »beschissene Amis« nannte, verkomplizierte die Sache zusätzlich. Was suchten amerikanische Vietnamesinnen im Erzgebirge? Sie sammelten eimerweise Pilze und Blaubeeren, und wir kauften sie billig, aber niemand erklärte diese Umstände. Als Onkel Jens plötzlich eine vietnamesische Frau samt drei Kindern hatte, sorgte das zwischenzeitlich nicht wirklich für Aufsehen, aber für abwechslungsreichere Küche und Wanddekoration. Stundenlang starrte ich auf die »Gemälde« aus Glas, türkis oder pink leuchtende Flüsse mit Glitzer. Die Inneneinrichtung blieb zum Teil, auch als die Frau, deren Namen sich niemand merkte, wieder verschwand.
Wenn wir durch die alten Straßen fuhren, beschwerte sich mein Vater übers »Abtreibungspflaster«, lange bevor ich die Bedeutung auch nur erahnen konnte. Ich wusste, beim Honni war alles anders, aber wer genau dieser Mann war und was diese Stasi, die in mehreren gutlaufenden Witzen vorkam, damit zutun hatte, blieb mir ein Rätsel. In meinem Kopf war Honni eine Figur wie das Sandmännchen: Irgendwie wachte er über die Menschen, aber nicht auf die gute Art. Richtig gefährlich schien er mir aber auch nicht zu sein, hatte er doch so einen niedlichen Namen.
Dass meine Mutter Spinnerin gewesen war, wusste ich halbwegs, hielt das aber eher für eine beleidigende Aussage über ihren Geisteszustand und weniger für einen echten Beruf. Wie sollte es auch ein seriöser Beruf gewesen sein, wenn es ihn gar nicht mehr gab. Mal wurde bei der IFA gebaut, mal eine Fabrik »weggeruppt«. Die IFA wirkte wie ein fernes Ziel am anderen Ende der Stadt, ein Mythos. Dass dort Anhänger im Kombinat für Fahrzeugbau produziert wurden und die Fabrik 1990 schloss, blieb hinter dem Akronym verborgen. Ich wurde Zeugin, wie eine Industriestadt zerbrach und fast alle ihre Jobs verloren, doch ich verstand davon gar nichts.
Wir holen Onkel Achim, der vom anderen, ruhigeren Teil der Familie kommt, am Kranzberg ab. Hier stehen die Platten noch. Sie sind, wie alles, was angeblich saniert wurde, gelb oder grün angestrichen worden. Ein ästhetisches Verbrechen der Nachwendejahre. Als könnte man den Verfall einfach übertünchen. Es hat eine ganz eigene Tragik, dass die Plattenbauten dadurch noch hässlicher wurden als zuvor. Dabei standen die Platten auf dem Kranzberg sowieso nur durch Zufall dort. Sie waren eigentlich für Berlin bestimmt gewesen, aber der Transport war zu teuer. Zum Glück für meine Großeltern, die Onkel Achim bald auch nach oben auf den Kranzberg holte. »So große Kichen haste sonst net«, sagt er, immer noch stolz.
So verbrachten wir die Ferien in der Platte am Kranzberg oder in der Laube im Garten. Dann ging es zurück in den Westen. Wir wurden in der Familie weiterhin geduldet, weil wir ja wegen der Arbeit weggezogen waren. Die Spinnerei war zu und auch mein Vater wurde als Heizer nicht mehr gebraucht, dabei hatte er gerade erst eine Umschulung vom Koch zum Facharbeiter gemacht. Nur durch Onkel Günni, den Tausendsassa, der frühzeitig rüber machte, bekam auch mein Vater einen neuen Job. Auch wenn wir dafür ironischerweise in ein ebenso hässliches graues westdeutsches Haus zogen, das der Platte nicht unähnlich war: Wir waren jetzt Wessis. Der Riss war da, nicht mehr zu kitten.
Mit Onkel Achim fahren wir runter in die Stadt. Wir wollen uns die alten Spinnereien und Tuchfabriken ansehen. Die alte Tuchfabrik Otto Ullrich steht noch im Zentrum der Stadt, natürlich außer Betrieb. Das Relief zeigt die Werktätigen, Männer und Frauen an Webstühlen, beim Schneiden und Zusammenlegen von Stoffen. Sie ist eine der letzten Fabriken, die nicht schon abgerissen oder in ein Pflegeheim umgebaut wurde. »Schöne hohe Decken«, sage ich zu einer dieser neu-alten Pflegeeinrichtungen mit riesigen Fabrikfenstern im Zentrum der Stadt. »Ja, aber wer soll das alles heizen« entgegnet Onkel Achim gewohnt pragmatisch.
»Der Zufall entschied, welche Stadt danach an der neugebauten Autobahn liegen und eine Chance haben würde, ihre Firmen zu behalten oder neue zu gründen.«
Im Dreieck Werdau-Crimmitschau-Glauchau lag das Zentrum der Textilproduktion in der DDR, man exportierte vor allem in den Westen, erzählt Onkel Achim. Bis 1989 gab es 46 volkseigene Betriebe in der Textilindustrie, die sich nach der Wende als »nicht konkurrenzfähig« erwiesen. Der Zufall entschied, welche Stadt danach an der neugebauten Autobahn liegen und eine Chance haben würde, ihre Firmen zu behalten oder neue zu gründen. Crimmitschau hatte Glück, Werdau hingegen lag spätestens ab dann tatsächlich am Arsch der Erde.
Unser Rundgang durch die In-nenstadt ist für alle Beteiligten ein wenig enttäuschend. Viel ist abgerissen worden. Selbst die 1879 erbaute Brauerei aus roten Backsteinen steht nicht mehr, was selbst Onkel Achim überrascht. Sie nannten das Bier nach dem Braumeister »Kuschel-Bräu«. Zu DDR-Zeiten konnte man zu jeder Stunde ein Fass von ihm bekommen, selbst wenn es Sonntagabend war. Er warf dann die Schlüssel runter, bezahlen konnte man später. In den 1970er Jahren, als die Kombinatsbildung anstand, wurde das Werdauer Bier erst in den VEB Zwickau und dann 1984 in das VEB Getränkekombinat Karl-Marx-Stadt »eingemeindet«. Man wusste beim Sachsenbier also nie, ob man welches aus Chemnitz oder Werdau trank. Außer eben man holte es sich direkt bei Kuschel. Er erlebte nicht mehr, wie seine Brauerei nach der Wende ein zweites Mal nach der Kombinatsbildung enteignet wurde – diesmal von den Wessis. Man wollte sie nicht weiterführen, die Treuhandanstalt wies Rückforderungsansprüche der Besitzerfamilie zurück.
Vor unserem alten Wohnhaus in der ehemaligen Straße der Befreiung lässt uns die italienische Mieterin, die an diesem Tag allerlei Schund im Innenhof verkauft, wissen, dass das Haus eine »Katastroph« sei und wir besser keine Fotos machen sollten. Beim Einzug halfen damals alle Brüder, es war eine dieser Großaktionen: »Da waren mehr Orbeider in der Wohnung als wie de Wohnung hattest«, lächelt Achim. Die Anekdote über diesen Umzug hörte ich im Laufe meines Lebens etliche Male, ohne ihr wirklich Beachtung zu schenken. Ich merke erst jetzt, wie die Wehmut über eine verlorene Gemeinschaft auch mich ergreift. Als könnte allein die Nacherzählung dieses Moments kurz vor dem Zusammenbruch sowohl der DDR als auch unserer Familie etwas rückgängig machen.
Unsere letzte Station dieser kleinen Reise war einst die Heimat der Männer in der Familie: der Segelverein an der Talsperre. Ihr über Generationen hinweg erhalten gebliebener Hang zum Maritimen ließ sich in der sächsischen Provinz nur so am Leben halten, dass man auf der kleinen aber beschaulichen Koberbachtalsperre segelte und sich danach im Clubhaus ein Bier gönnte. Onkel Achim fuhr als Soldat bei der Marine über die Ozeane und mein Vater als Schiffskoch auf großen Tankern. Der Gründungsmythos handelt aber von meinem Großvater und seinem im Zweiten Weltkrieg untergegangen U-Boot. Seitdem sind die Schwerdtners »auf See«.
Die See war das wohl größte Stück Freiheit. Waren die Hintern seiner Neffen wund, brachte mein Vater Penaten-Creme aus dem Intershop mit (auf See verdiente man Westgeld) und als Onkel Achims damalige Frau sich mit ihrer Vorliebe fürs Russische einen Samowar wünschte, tauschte mein Vater in Schweden Schnaps gegen Kaugummi, den er wiederum bei den Russen gegen die heiß ersehnte Teemaschine eintauschte und am Hafen mit einer alten Zollerklärung in die DDR schmuggelte. Heute wirken zwar alle müde, in den Erzählungen über solche jugendliche Schlitzohrigkeit blitzt aber immer wieder etwas Lebendiges auf, etwas, das sich mit den grauen Bildern von der DDR nicht zusammenbringen lässt.
Heute stinkt sogar das Wasser der Talsperre, weil es nicht mehr in Bewegung ist und langsam gammelt. Früher färbte sich die Pleiße mal Blau, mal Rot, je nachdem wie die Stoffe gefärbt wurden. Weder die DDR noch die BRD haben hier ein wirklich funktionales Ökosystem zustande gebracht. Aber die Sowjets, betont Onkel Achim immer wieder, hatten wenigstens Stahl, der ewig hält. Also richtige Schiffe. Nicht zu vergleichen mit den »Joghurtbechern« aus dem Westen. »Aber heude darf ja alles nisch mehr halten.« Auch das Clubhaus gehört einem neuen Besitzer, der mit dem Segelverein nichts mehr am Hut haben will. Man geht nicht mehr hin.
Als wir raus aus der Ritze fahren und den Geruch der Talsperre hinter uns lassen, frage ich mich, wie diese Region einen weiteren Strukturwandel überstehen will. Wie anzuknüpfen wäre an die Geschichte, ohne sie zu verklären. Wie man Menschen das Gefühl geben kann, nicht am Arsch der Erde zu leben.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.